Rezension von Bernd Heimberger



Desertierter Dichter  

Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft  
Moralische Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 133 S.  

Enzensberger wollte man auch vereinnahmen. Als Sprecher der bundesdeutschen Linken. Als Stimme der Sozialisten aller Länder. Man wollte es nicht besser wissen. Dichter sind nicht zu vereinnahmen! Auch, wenn sie so was vortäuschen. Einmal Dichter - immer Dichter! Selbst, wenn sich Dichter auf der Straße sehen lassen. Sie sind nicht die Straße. Sind nicht mal Stellvertreter der Straße hinterm Schreibtisch. Hans Magnus Enzensberger ist immer der feine, edle, kluge Mann, der sich im geheizten Feuilleton-Redaktions-Zimmer wohler fühlt als auf der zugigen Straße der Sozialisten. Dem Dichter genügt's, mal dagewesen zu sein - auf der Straße -, ohne ein Dabeigewesener zu sein. Die Annäherung machte das Werk welt-an-schau-licher, weil mehr Weltanschauung war, die mehr Verallgemeinerung zuließ. Der Grundlinie treu, ist dem älter werdenden Dichter das grandiose Gottes-Werk zur kläglichen, täglichen Tat einer „Großen Göttin” geworden. Der Lyriker sagt: „Mit ihrem Fingerhut tastet sie / nach den Löchern der Welt / und flickt und flickt.” Mehr Hoffnung mag Enzensberger nicht mehr geben. Weil er mehr nicht mehr hat? Bescheidenheit ist die breiter gewordene Basis seiner Gedichte. Längst ist die Gewißheit: „Besonders schwer/ wiegen Gedichte nicht”, wie das Gedicht „Leichter als Luft” beginnt, das einer Alters-Vers-Sammlung den Titel gibt. Das Versilbern der Vokabeln ist Enzensberger wichtiger als das Vergolden der Worte. Vokabeln wie Ende, Ruhe, Müdigkeit, Flüchtigkeit, Flicken, Schlaf, Stille trommeln ihre Verwandten zusammen und bilden die Stammsätze der Verse, in denen „das erste Bett” als Erfindung gefeiert wird. Sieht so das Resümee eines Dichters aus, der die Option für Dichter folgendermaßen formuliert: „Mit anderen Worten/ dasselbe sagen / immer dasselbe”? Wird so das Ende aller Möglichkeiten eines Selbstredners markiert? Ist der Lyriker bar jeder besseren Moral, die er den Bewohnern des blauen Balls predigen könnte? Der Poet ist kein Prediger. Seine poetischen Sonntags-Worte sind keine Worte zum Sonntag. Der Dichter räumt sich das Recht ein, zu fragen, wenn er keine Antwort parat hat. - „Man wird doch noch fragen dürfen!”- Eine Lektion des länger werdenden Lebens ist wirklich gelernt: Die Frage hat die höhere Moral. Auf die ist Enzensberger aus. Er nennt seine Verse „Moralische Gedichte”. Ob die Deklarierung die eines Dennoch-Optimisten ist, der die Lippen spitzt, um das Pfeifen im Walde zu hören? Vielleicht ist nur noch das Pfeifen mehr als das Nichts. Für Hans Magnus Enzensberger ist es das Mehr wie das Wir, das er auch dann lieber sagt, wenn er i c h meint. Sagt er dann doch i c h, zieht er den bekenntnishaften Strich unter seine Biographie: „Ich desertiere gern.” Das hätte man zumindest ahnen können. Von Anfang an!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
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