Rezension von Heinrich Buchholzer


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Unantastbare Streitkräfte

 

David Baldacci: Die Wahrheit
Roman. Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton.

Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1999, 509 S.

 


 

Seinem ersten großen Erfolg, Der Präsident (LeseZeichen 6/96), in den USA verfilmt als „Absolute Power", hat David Baldacci zwei weitere Bücher ähnlichen Genres folgen lassen, unscharf in die Kategorie der Thriller eingeordnet: Total Control und Die Versuchung, sämtlich bei Lübbe in guter deutscher Übersetzung. Mit Buch Nr. 4 ist der Autor nun dort gelandet, wohin es offenbar einen Teil der US-amerikanischen Unterhaltungsschreiber unwiderstehlich zieht: bei der Justiz, bei Richtern, Staatsanwälten, Anwälten und der unvermeidlichen Polizei, bei Bedarf (der hier anscheinend bestand) einschließlich Inlandgeheimdienst FBI. Grisham ist nur ein besonders fleißiges Paradepferd auf diesem Feld.

Das soll nicht abwertend erscheinen, bündeln sich doch in den Gerichtssälen von Buffalo bis Houston und von Boston bis Eureka die sozialen, ethnischen, politischen, kommerziellen Streitfragen des riesigen Landes. Sie werden dort aufgedeckt oder zugedeckt, geschlichtet oder auf die lange Bank geschoben, beurteilt oder unter den Richtertisch gekehrt. Wer in diesen heiligen Hallen zusieht und hinhört, und wer die Kriminalstatistik liest, erfährt viel über die Verhältnisse im Staate und das Verhalten seiner Bürger. Der Zustand von und die Zustände in Polizeirevieren, Gefängnissen, Besserungscamps sind ein ausgezeichneter soziologischer Anschauungsunterricht. Recht und Gesetz wie auch Moral waren in der zweihundertjährigen US-Geschichte stets fest in den weißen Händen von Mister Justice und seiner manchmal auch schwarzen Cops. Dennoch - bei aller Aussagekraft dieser Thematik - erscheinen Polizei, Justiz und Strafvollzug sowie die damit verbundenen Berufe und gesellschaftlichen Vorgänge in der US-amerikanischen Unterhaltungsliteratur seit langem überrepräsentiert. Dagegen spielt der immerhin doch ziemlich wichtige Arbeitsalltag mit seinen menschlichen Schicksalen, Konflikten und sozialen Spannungen eine marginale Rolle, sofern sich nichts strafrechtlich Relevantes ereignet.

Der gelernte Jurist Baldacci entführt seine Leser diesmal in das Oberste Gericht der USA. Schon dies ist für den deutschen Rezipienten sehr interessant. (Undenkbar, von einem deutschen Autor einen Politkrimi zu bekommen, der an einem vergleichbaren deutschen Gerichtshof angesiedelt ist.) Wir lernen Aufgaben und Arbeitsweise dieser traditionsreichen Institution in Washington und vor allem den subjektiven Faktor kennen, der in den allerheiligsten Hallen unvermeidlich eine Rolle spielt. Tatsächlich spielt er eine heftige Rolle, öffentlich sogar sichtbar und hörbar in den exzellent geschilderten Meinungskämpfen zwischen dem Obersten Richter und der einzigen Richterin. Beide erfundenen Personen sind Kontrahenten in dem neunköpfigen Gremium, das mit einer Mehrheit von fünf Stimmen außerordentlich weitreichende Entscheidungen fällen oder ablehnen kann (damit alles beim Alten bleibt). Ein Vergleich mit deutschen Verhältnissen fällt schwer, am ehesten könnte man vereinfacht sagen, es handele sich um ein Mixtum compositum von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof.

An diesem Gericht also, das für die neuen Richter über einen großen personellen Apparat verfügt, wird eine noch nicht registrierte Eingabe entwendet, eine unerhörter, beispielloser Vorgang. Sie kommt von einem rechtskräftig verurteilten Mörder, ehemaliger Soldat, der das Papier nach 25 Jahren Haft aus einem Militärgefängnis geschmuggelt hat. Baldacci läßt uns klüglich erst nach langer Zappelfrist wissen, was in der Eingabe zu lesen ist und warum ihr Auftauchen unter allen Umständen von ein paar hochrangigen Leuten verhindert werden soll. Und an diesem Gericht geschehen bald darauf zwei Morde an jungen Juristen, Assessoren, die den Richtern zuarbeiten.

Und an diesem Gericht sowie in seinem Umfeld entwickelt sich schließlich die Suche nach dem Mörder der beiden jungen Leute wie nach jener verschwundenen Eingabe des verurteilten Mörders - eine furiose Suche, die weitere Todesopfer zur Folge hat. So kommen wir einer Verschwörung auf die Spur, gerichtet auf die Ermordung jenes seit 25 Jahren einsitzenden Soldaten, der im Grunde unschuldig ist. Er ist das Opfer einiger skrupelloser Militärs, die ihm eine Droge verabreicht haben, mit der die Army in den 70er Jahren Menschenversuche durchgeführt hat. Ein Vorgang mit realistischem Hintergrund.

Alle diese Handlungskonstruktionen, sich seitlich überlappende oder parallel abspielende Ereignisse sind schlüssig und verständlich dargestellt - eine beträchtliche Leistung des Autors. Er läßt sich nämlich nicht nur auf mehrere Handlungsebenen ein, sondern auch auf reichlich viele Personen, die sich im Laufe der Geschichte in zunehmender Zahl auf den Seiten tummeln. Vergleicht man mit Baldaccis Erstling, der Story vom kriminellen Präsidenten der USA, so zeigt sich, daß der Autor auch mit deutlich weniger Agierenden auskommen kann, und dies durchaus zum Vorteil des Romans. Der vorliegende ist personell überfrachtet. Vergleicht man aber die Fabel jenes Erstlings mit der des neuen Buch(e)s, so zeigt sich in diesem ein erheblicher Gewinn an gesellschaftskritischer Substanz. Während es sich bei dem verbrecherischen US-Präsidenten um eine reine Fiktion handelt, hat sich Baldacci diesmal ein brisantes Thema vorgenommen, das in Wirklichkeit existiert, ein von tatsächlichen Vorgängen abgeleitetes Problem.

Im Kern geht es um die Kontrolle der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, speziell um die strafrechtliche Ahndung von ungesetzlichen Handlungen, begangen durch militärische Vorgesetzte an Untergebenen, sowie um die vermögensrechtliche Haftung der Streitkräfte für dadurch angerichteten Schaden, materiellen wie immateriellen. Den wirklichen Hintergrund bildet der sogenannte Feres-Grundsatz. Er wurde in einem Urteil des Obersten Gerichts von 1950 aufgestellt und gewährte dem Militär erstmalig Immunität vor Klagen von Angehörigen der Streitkräfte. Ein Präzedenzurteil, das seitdem angegriffen, jedoch nie umgestoßen wurde. Ein aktuelles Beispiel, das von Baldacci angeführt wird: Eine Soldatin namens Chance (nicht Chanice?) wird von Vorgesetzten vergewaltigt. Man bestraft intern einen Vergewaltiger disziplinarisch, und damit ist der Fall erledigt, der zivilen Justiz entzogen. Die Streitkräfte üben Selbstjustiz nach Gutdünken, sind im Grunde unantastbar.

Das Oberste Gericht der USA, von konservativen Richtern dominiert, hat in solchen und anderen Problemfällen nicht die geringste Neigung, eine Präjudiz aufzuheben. Was vor einem halben Jahrhundert für rechtens befunden wurde, soll unumstößlich bleiben. Die Folge ist übrigens, daß die vom Obersten Gericht - schlimmstenfalls mit einer Mehrheit von 5:4 Richterstimmen - getroffenen Präzedenzentscheidungen ständig in die Praxis sämtlicher unteren Instanzen hineinwirken, faktisch also den Rang von Gesetzen haben. Diese traditionell festgeschriebene Wirkung ist wesentlich stärker als in der deutschen Rechtspraxis die Wirkung der Vorbild-Urteile des Reichsgerichts bis 1933 und des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs nach 1945.

Baldaccis Buch, ein im Gewande eines Politkrimis daherkommender Unterhaltungsroman, hat also eine durchaus systemkritische Aussage und ein ernsthaftes Anliegen, nämlich die US-Streitkräfte, einen Staat im Staate, der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu unterstellen oder wenigstens zu öffnen. Der Autor äußert sich zu den Erfolgsaussichten am Schluß seines Buches eher skeptisch. Immerhin hat er dafür gesorgt, daß die Bösewichte entweder umkommen oder der normalen Gerichtsbarkeit übergeben werden. Die Frage nach der Unantastbarkeit des Militärs aufgeworfen, das Problem verdeutlicht und einem breiten Publikum so lesbar nahegebracht zu haben ist in diesem Fall Baldaccis wichtigstes Verdienst. So gewinnt dieses Buch eine besondere Qualität.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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