/DTD HTML 3.2//EN"> George Orwell: Mein Katalonien

Wiedergelesen von Helmut Eikermann


 

George Orwell: Mein Katalonien
Bericht über den spanischen Bürgerkrieg.
Aus dem Englischen von Wolfgang Rieger.
Diogenes Verlag, Zürich 2000, 288 S.  

George Orwell: Rache ist sauer
Essays.
Aus dem Englischen von Felix Gasbarra.
Diogenes Verlag, Zürich 2000, 182 S. nbsp;

Michael Shelden: George Orwell
Eine Biographie.
Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork.
Diognes Verlag, Zürich 2000, 672 S.

 

Pünktlich zum 50. Todestag am 21. Januar 2000 legt der Züricher Diogenes Verlag Neuauflagen der Taschenbücher von und über Eric Arthur Blair vor, der unter dem Namen George Orwell in die Weltliteratur einging.

Über einen Mangel an moderner Weltliteratur brauchten die Leser in der DDR - sieht man von den stets zu geringen, tatsächlich recht hohen Auflagen ab - nicht zu klagen. Ob Böll, Canetti, Dürrenmatt und Frisch, Hemingway, Faulkner, Vonnegut oder Updike- vornehmlich die Lektoren der Verlage Volk und Welt, Aufbau und Union sorgten regelmäßig dafür, daß das Leseland DDR literarisch nicht hinter dem Mond verkam. Manches aus dem Westen erreichte ostdeutsche Leser sehr spät, Grass zum Beispiel, und einiges von Böll gar nicht. Zu den absolut weißen Flecken der Literatur gehörten jedoch „Renegaten” wie Arthur Koestler, Gustav Regler und Manés Sperber, Unpersonen sämtlich, denen man den Platz im Literatur-Lexikon verweigerte. Nur in Robert Neumanns (für die DDR gekürzter und bearbeiteter) Autobiographie Ein leichtes Leben finden sich boshafte Anmerkungen zu ihnen und ein kurzer Abschnitt über den schlimmsten „Abweichler” von allen: George Orwell, den im realsozialistischen Lager bestgehaßten Autor. Wer sein böses Märchen Farm der Tiere las, vor allem aber die düstere Prophezeiung 1984, wußte, warum.

Die Praxis des Verschweigens unbequemer Zeitgenossen und der Erfindung von Heldentaten bis dahin Ungenannter ist ein Musterbeispiel für das, was Orwell in seinem Spätwerk befürchtet und vorausgesagt hatte: Was nicht auf der Linie lag, wurde als Trotzkist verteufelt, getreu den Arbeitsmethoden im „Ministerium für Wahrheit” unterdrückt und war damit nicht vorhanden.

Will man sich gründlicher mit Orwell beschäftigen, so bietet Sheldens ausführliche Biographie ein recht genaues Bild des jungen Eric Blair und seiner Wandlung zum Autor George Orwell, der seinen Weltruhm nur um Monate überlebte. Sheldens Buch orientiert sich streng an den Fakten und an Orwells Werken. Es ist flüssig und auf jene zurückhaltend englische Weise geschrieben, die in ihrer Umständlichkeit gelegentlich nicht ohne komische Wirkung bleibt. „Obgleich über Mr. Blairs (Orwells Vater, der dem Empire in Indien diente, H. E.) Heimaturlaub wenig bekannt ist, scheint sich die Vertrautheit zwischen den Eheleuten rasch wieder eingestellt zu haben. Ida (Orwells Mutter, H. E.) wurde bald nach seiner Ankunft in Henley schwanger und brachte im darauffolgenden Jahr - ihr Mann war nach Indien zurückgekehrt - ihr drittes und letztes Kind zur Welt, ein Mädchen, das den Namen Avril bekam ...” - Sätze, die Orwell sicherlich sehr viel knapper, prägnanter und nicht ohne Ironie zu Papier gebracht hätte.

Shelden zeichnet Blairs/Orwells mit Mühsal und Krankheit beladenen Lebensweg nach, seine rigorosen Ansprüche an sich selbst und seinen beharrlichen, mitunter donquijotehaften Kampf um Geborgenheit und ein bißchen Familienglück, das er in seiner Kindheit kaum erfahren hatte.

Orwell, am 25. Juni 1903 als Sohn eines britischen Opiumagenten in Motihari (Bengalen) geboren, kam früh mit der Mutter nach England, wo er als Achtjähriger in das exklusive St. Cyprian's Internat geriet. Das Trauma dieser Bildungsanstalt verfolgte ihn lange. Die anschließende Zeit im exklusiven Eton hinterließ weniger tiefe Spuren. Da seine Eltern ein Studium in Oxford oder Cambridge nicht finanzieren konnten und Blairs Leistungen nicht für ein Stipendium ausreichten, verpflichtete sich der 19jährige 1922 zum Polizeidienst in Burma. Seine angegriffene Gesundheit und die negativen Erfahrungen als britischer Kolonialbeamter veranlaßten ihn, die sichere Stellung nach kaum fünf Jahren aufzugeben, um sich fortan als freier Journalist und Autor und nebenbei als Tellerwäscher und Buchhändler durchzuhungern.

„Erledigt in Paris und London” hieß 1933 das eher journalistische Ergebnis seiner Wanderjahre in den Hauptstädten. „Tage in Burma” und der erste Roman Eine Pfarrerstochter folgten. Mit Die Wonnen der Aspidistra und Der Weg nach Wigan Pier stellten sich Mitte der dreißiger Jahre erste literarische Erfolge seiner Romane ein, die alle im linksgerichteten Verlag von Victor Gollancz und dessen Left Book Club und bald darauf in den USA erschienen. Unter dem Eindruck des sich immer mächtiger gebärdenden Faschismus näherte sich Orwell mehr und mehr den Sozialisten und ging schließlich Ende 1936 mit einem Empfehlungsschreiben der Independent Labour Party nach Spanien, um vom Kampf der Republikaner gegen Franco zu berichten. Die Kommunisten hatten ihm jede Unterstützung verweigert.

Nach seiner Ankunft in Barcelona trat Orwell der POUM(Vereinigte Marxistische Arbeiterpartei)-Miliz bei - eine Entscheidung, die in den Augen der im republikanischen Spanien tonangebenden Stalinisten einem Verrat gleichkam. Immerhin waren ein ganzes Rudel sowjetischer Berater - in Wahrheit sämtlich hohe Geheimdienstoffiziere des NKWD und ihre Helfershelfer wie Mielke und der gefürchtete „Schlächter von Albacete”, André Marty - nur nach Spanien entsandt, um Francos angebliche fünfte Kolonne zu entlarven und zu liquidieren. Schnell gerieten die Führer der POUM in ihr Visier und erlitten das gleiche Schicksal, das Stalin ihren Henkern bei der Rückkehr nach Moskau bereitete.

Orwell wurde nach fast vier Monaten an der Front schwer verwundet. Nach seiner Rückkehr schilderte der bekennende Anti-Stalinist in Hommage to Catalonia (deutsch: Mein Katalonien) die Kämpfe gegen die Francisten in den katalanischen Bergen und die der Kommunisten gegen alle Abweichler in Barcelona. Orwells Bericht kann als Muster eines Kriegsbuches gelten, zu vergleichen am ehesten mit Renns Krieg. Glasklare, lakonische Sätze bestimmen den Text: „Im Schützengrabenkrieg sind fünf Dinge wichtig: Brennholz, Lebensmittel, Tabak, Kerzen und der Feind. Im Winter an der Saragossa-Front waren sie in dieser Reihenfolge wichtig, und der Feind war schlechterdings das letzte ... Die eigentliche Hauptbeschäftigung beider Armeen bestand in dem Versuch, sich warm zu halten.”

Orwell kam es weniger als Hemingway, der ihn kannte und schätzte, auf die Selbstdarstellung und die vollendete literarische Gestaltung an. Vielleicht wirkt sein ironisch gefärbter Bericht deshalb so stark und direkt. Daß er den heftigen Protest der Stalinisten - damals keineswegs ein Schimpfwort - hervorrief, ist selbstverständlich. Die 1 500 Exemplare der Erstauflage von 1938 waren bis 1951 noch nicht verkauft ...

Während der Kriegsjahre arbeitete Orwell für die BBC. Wie in seinen Zeitschriftenbeiträgen aus den dreißiger Jahren erweist sich der Autor als ein scharfsinniger Essayist mit spitzer Feder. Elf seiner zwischen 1942 und 1948 in englischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Beiträge, ergänzt um eine autobiographische Skizze, sind in dem Band Rache ist sauer gesammelt. Der „Rückblick auf den Spanischen Krieg” ist hier erstmals vollständig veröffentlicht, auch „Einige Bemerkungen über Salvador Dalí” fielen 1944 der Zensur zum Opfer. Orwells bitterer Sarkasmus ist sicherlich nicht jedermanns Sache, seine offene Polemik über Kriminalliteratur, „Zur Verhinderung von Literatur” und die „Bekenntnisse eines Rezensenten” - als solcher mußte Orwell sich immer wieder sein Brot verdienen -, aber auch seine Untersuchungen zu „Politik contra Literatur” über Swift und Tolstoi und seine unkonventionellen Gedanken über Ghandi lesen sich heute so frisch wie zu ihrer Entstehungszeit. Der Titel Rache ist sauer bezieht sich auf die Reportage über ein amerikanisches Kriegsgefangenenlager in Deutschland, das Orwell im Herbst 1945 als Korrespondent besuchte.

Im gleichen Jahr erschien sein erster wirklich großer Erfolg Farm der Tiere. Orwells letzte Jahre waren von mancherlei Unglück überschattet. Seine Frau starb jung und unerwartet. Der von der Tuberkulose gezeichnete Autor zog sich mit dem adoptierten Sohn auf die unwirtliche schottische Insel Jura zurück und schrieb dort sein Hauptwerk 1984. Keine mystische Zahl für Orwell, sondern nur die Umkehrung des Entstehungsjahres 1948.

Das Buch erscheint im Juni 1949 in England und in den USA. Nur ein halbes Lebensjahr verbleibt Orwell noch. Erst kurz vor seinem Tod findet er in Sonia Brownell eine Frau, die bereit ist, das absehbare Los der Witwe eines nunmehr weltberühmten Autors auf sich zu nehmen. Die beiden heiraten am 13. Dezember 1949 in Orwells Krankenzimmer. Nicht einmal sechs Wochen später, kurz vor der Abreise in ein Schweizer Sanatorium, stirbt Orwell in der Londoner Universitätsklinik.

Bis heute liegt keine vollständige Gesamtausgabe von George Orwells Werk vor. Viele seiner Bücher und Essays sind erst spät in deutscher Übersetzung erschienen. 1983 begann der Diogenes Verlag mit einer elfbändigen Werkausgabe. Der ganze Orwell ist uns noch immer nicht erschlossen.  


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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