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Klaus Hammer

Von Jahrhundertwende zu Jahrhundertwende

Der Berliner Autor Paul Scheerbart - ein Außenseiter
und Außendenker

Paul Scheerbart (1863-1915) wagte den Sprung ins Absurde. Von der Epoche betroffen, getroffen, wandte er sich nicht gegen diese Epoche zurück, sondern wich in phantastische astrale Welten aus. „Aus Wut bin ich sogar Humorist geworden, nicht aus Liebenswürdigkeit”, äußerte er in dem „Protzen-Roman” Rakkox der Billionär (1901). Der erotischen Literatur der Jahrhundertwende setzte er trotzig-skurril eine anti-erotische Literatur entgegen (Tarub, Bagdads berühmte Köchin, 1897). Das Anti-Erotische als schlechthin Höheres wurde dann in einer weiteren Steigerung vom Kosmischen als dem Höchsten absorbiert. An diesem Absorptionsprozeß haben satirische Elemente einen Löwenanteil. In Na prost! (1898) rasen drei Germanisten in einer achtkantigen Flasche durch den Weltraum und kommentieren die erhalten gebliebenen Literaturschnitzel der Ära nach Schopenhauer. Bei Scheerbart tummeln sich - willkürlich, entfesselt, verantwortungslos- Sternseelen und Planetengeister im All, schweben wunderbare Flugmaschinen, Raketen und Ballons im Raum. Der Autor notierte diese Vorgänge teils episch, teils pantomimisch, teils grafisch (Die wilde Jagd, 1901; Die große Revolution, 1902; Kometentanz, 1903; Jenseits-Galerie, 1907; Astrale Noveletten, 1912). Manche der Scheerbartschen Wunsch- und Alpträume hat die Realität inzwischen eingeholt. Der Salto mortale ins schlechthin Absurde wurde mit dem „Asteroiden-Roman” Lesabéndio (1913), den Alfred Kubin kongenial illustriert hat, vollzogen. Aber gerade der radikale Bruch zwischen Wirklichkeit und Literatur erwies sich plötzlich unerwartet als zukünftige Berührungsmöglichkeit zwischen beiden Bereichen. Das kann man dagegen nicht von der brutalen Technologie sagen, mit der Bernhard Kellermann in dem Sensationsroman Der Tunnel(1913) seine Leser vergewaltigte. Die Technik, noch wertfrei, zeigte im Übergang zum Expressionismus ihre dämonisch-negativen Züge.

I

Am 3. Dezember 1895 sandte Scheerbart seinen Lebenslauf an Franz Brümmer: „1863 geb. 8. Jan. Danzig Fleischergasse 38- 1867 Februar starb die Mutter, ich als elfter allein zu Hause. Älteste Schwester verheiratet - 1869 zweite Ehe meines Vaters - 1873 Tod meines Vaters- 1879 Okt.-März 1880 Stunden im Griechischen, kam aufs Gymnasium in die Untertertia (nebenbei eine Gemeinheit), wollte Missionar werden und darum Theologie studieren. 1882 Jan. von der Obertertia ab (unsäglich viel Philosophisches gelesen, nicht mehr Theologie) - Okt. 82 mit Ernst Schultz nach Berlin, um zum Abiturientenexamen für Realgymnasien vorbereitet zu werden - Jan. 1883 Einjähriger auf der besonderen Anstalt in Berlin - Okt. 1883-April 1884 Realgymnasium in St. Petri Danzig in Oberprima-Sommer 1884 Leipzig in Vorbereitung des Examens in Sachsen, dort nicht als Andersgebürtiger angenommen - Jan. 1885 Berlin Börsen-Courier Kunstschriftsteller unter Poniatowski - Jan. 1886 Okt. in München 25 M monatlich - Okt., Nov. in Wien - Dez. 1886 in Königsberg - Jan. 1887 nach Danzig, da dort Erbschaft aus Hamburg (1 100 M) - April 1887 bis Aug. 1888 Paradies geschrieben - Okt. 1888 1 000 M von Stiefmutter für Paradiesesdruck - 1889 Jan. erschien Paradies - 1890 Berliner Tageblatt bis April (Kunstgewerbekritiker) - 1890 April bis Okt. Danziger Courier - Okt. 1890 wieder in Berlin, danach Bärenzeit.”

Diese Datensammlung wirkt wie eine Abfolge kleiner, mittlerer und großer Katastrophen: eine vom Tod beider Eltern überschattete Kindheit, eine von Mißerfolgen geprägte, vorzeitig abgebrochene Schulkarriere, eine mehrjährige, entbehrungsreiche Suche nach einer beruflichen Perspektive. Zwei bescheidene Erfolgserlebnisse: die Publikation des ersten Buches und die Bekanntschaft mit einer Frau, die ihm Unterschlupf und Fürsorge bot, so daß er sein „unstetes Leben” aufgeben konnte.

In der Jugendfreundin Rosa Gerlach hat Scheerbart eine Idealfigur gesehen, seine Lebens-gemeinschaft mit Anna Sommer dagegen war eine Notgemeinschaft. Sie fungierte als unbezahlte Haushälterin, wofür sie nach neunjährigem Dienst geheiratet wurde. Sie nahm die Mutterrolle für ihn an, er nannte sie „sein Bär”. Durch die Erinnerungen von Zeitgenossen und die auf sie fixierte Sekundärliteratur geistert das Bild des Bohemiens Scheerbart, der die Tage im „Café des Westens” und die Nächte im „Schwarzen Ferkel” oder einem anderen Künstlerlokal verbrachte. Doch hat er täglich geschrieben, sonst hätte er kaum in 25 Jahren ein so umfangreiches und zeichnerisches Werk zustande gebracht. Und das unter ganz erbärmlichen Existenzbedingungen. In der psychologisch motivierten Verbindung von Phantastik und Humor besitzt seine Dichtung den Garant des Gelingens. Sein Leben war eine einzige Selbstinszenierung. Er bezeichnete sich als Astralhumorist und „Kosmokomiker”.

Sein Dichterfreund Richard Dehmel äußerte bei der Nachricht von Scheerbarts Tod: „Ich kann nicht trauern; wir waren niemals traurig zusammen, ich habe nur immer mit ihm gelacht...”

Der exzessive Bier- und Tabakkonsum haben zu seinem Tod beigetragen. Die Ironie des Schicksals bescherte ihm einen Spießertod, den Tod eines armen Schluckers.

II

„Ich träume eigentlich zu allen Zeiten - auch mit offenen Augen am hellen lichten Tage. Sehr oft spiele ich mit den Sternen, klebe dem Monde lange Ohren an und knipse der Sonne die Nase ab, verspeise ein paar Kometen und reiße die Milchstraße entzwei” (Scheerbart, Immer mutig! 1902). Des Dichters Spielleidenschaft, die mit den Dingen naive Späße treibt, begegnet uns in vielen Gedichten Scheerbarts. Der Dichter begründete schon 1897 seine humorvoll gemeinte „ekoralapsische Richtung”, die das „Verstandenwerdenwollen” überwunden hat (Ich liebe dich! 1897). Scheerbarts Lautgedichte sind nicht in bilderstürmerisch-dadaistischer Absicht entstanden. Das Spielelement ist ihre eigentliche Essenz.  

Kikakokú!
Ekoraláps!
Wiso kollipanda opolása.
Ipasátta ih fuo
Kikakokú proklinthe peteh.
Nikifili mopaléxio intipáschi benakáffro-própsa
pi própsa pi!
 

Der Erfinder der Lautgedichte wird zum Theoretiker einer rein gegenstandslosen, nur auf Farbwirkung ausgehenden Malerei. Weil Scheerbarts poetisches Schaffen stets in verwandtschaftlicher Nähe zur Malerei verläuft, erscheint die Analogie ungegenständliches Gedicht - ungegenständliche Malerei zwingend. Andere haben verwirklicht, was Scheerbart in einer humorvollen Weise vorweggenommen hat. Kandinsky malte 1910 das erste gegenstandslose Aquarell. Er bekräftigte Analogien zwischen der zeitgenössischen Musik und seiner Malerei in einer Theorie „über das Geistige in der Kunst”.

III

Die utopischen Romane eines Jules Verne sind längst von Wissenschaft und Technik
eingeholt worden. Und analog zu Jules Verne hat man auch Scheerbart als einen solchen Utopisten der Technik bezeichnet und die wilde Phantastik seiner Werke - die wichtigsten entstanden im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg - mit jenem optimistischen Ingenieursdenken in Beziehung gebracht, das gerade eine neue Architektur aus Beton, Stahl und Glas involvierte.

In Architektenkreisen sind Name und Werk Scheerbarts höher geschätzt und besser bekannt als in der Literaturwissenschaft. Der „Dichter der Architekten” gilt bis heute als Anreger verschiedener Ideen und Projekte. Scheerbarts Theaterstücke hingegen, seine Geschichten und Romane, weitgehend auch die Gedichte der „Katerpoesie”, sind zu einem großen Teil vergessen oder unerreichbar, was nicht heißt, sie wären jemals einer größeren Öffentlichkeit zugänglich oder vertraut gewesen.

Das Thema Glasarchitektur hat Scheerbart zeitlebens beschäftigt. Man wollte lebendige Städte in Utopias verwandeln. Und das beste Material zum Bau Utopias waren große Glasscheiben. Jahrhundertelang war buntes Glas fast nur für sakrale Zwecke verwendet worden. In den gotischen Kathedralen wirkten die bunten Fenster sehr dekorativ und dienten gleichzeitig auch noch zur religiösen Belehrung. Fensterglas hatte eine andere Bedeutung. Es war die Oberfläche des Kristalls, das reine Prisma. Es bedeutete Leichtigkeit, Durchsichtigkeit und gewagte Strukturen. Es war das genaue Gegenteil von Stein und Ziegel: Eher eine sensible Membrane wie die Netzhaut des Auges, während Ziegel und Stein undurchdringlich wirken wie eine Panzerung gegenüber der Welt. Glas war deshalb von großer Wichtigkeit für einige deutsche Architekten, die zum Mystischen neigten. 1914 schrieb Scheerbart: „Die Erdoberfläche würde sich sehr verändern, wenn überall die Backsteinarchitektur von der Glasarchitektur verdrängt würde. Es wäre so, als umkleidete sich die Erde mit einem Brillanten- und Emailschmuck. Die Herrlichkeit ist gar nicht auszudenken. Und wir hätten dann auf Erden überall Köstlicheres als die Gärten aus Tausendundeiner Nacht. Wir hätten dann ein Paradies auf der Erde und brauchten nicht sehnsüchtig nach dem Paradiese im Himmel auszuschauen.”

In den Jahren vor und nach dem Erstem Weltkrieg entwarfen die deutschen Architekten endlose Phantasien in Glas. Die Transparenz des Glases weckte Assoziationen an Himmel und kosmisches Wissen. Sein kristalliner Charakter stand für absolute Form, für die Vollkommenheit der Materie und (um einen der architektonischen Hohepriester zu zitieren) für „das geheimnisvolle diamantene Labyrinth, wo die Weisheit haust”. Es war wie die Tugend selbst, rein und unnachgiebig, es würde eher brechen als sich beugen. Es gehörte zum Heiligen Gral, zu Eishöhlen, Bergspitzen, Gletschern und den leuchtenden Wällen des Neuen Jerusalem - zu der ganzen Bilderwelt romantischer Überhöhung, wie sie von Caspar David Friedrich und Phillipp Otto Runge über Wagner und Nietzsche an das neue Jahrhundert weitergegeben worden war. Wahrscheinlich hat der Architekt Bruno Taut, den Scheerbart 1913 kennenlernte, ihn dazu überredet, sich persönlich und ohne literarischen Vorbehalt zu seinen Bauideen zu bekennen. Tauts Absicht, ein Glashaus nach Scheerbarts Vorstellungen zu bauen - es wurde 1914 auf der Werkbundausstellung in Köln realisiert - mag ihn zusätzlich motiviert haben, seine Glashaustheorie in sachlicher Form darzustellen.

IV

Das Thema Glasarchitektur hat Scheerbart zeitlebens beschäftigt. Die frühesten Beschreibungen gläserner Bauten sind noch ganz der Vorstellungswelt des Symbolismus verpflichtet, Verbildlichungen romantischer Sehnsucht nach Erlösung und Verklärung durch die Kunst. Die „Blinkeburg”, das „Strahlgebäude” in seinem Erstlingswerk Das Paradies! Die Heimat der Kunst (1889) erinnern eher an Wagners Gralsburg als an die realen Glasbauten der damaligen Zeit, etwa die Gewächshäuser in den Botanischen Gärten, die Scheerbart bei der Abfassung der Glasarchitektur vor Augen standen. Mit explizit utopischem Anspruch treten Scheerbarts Architekturphantasien erstmals in Münchhausen und Clarissa (1906) auf. Der Roman berichtet von einer fiktiven Weltausstellung in Melbourne, wo Scheerbarts künstlerische Ideen bereits Wirklichkeit geworden sind. Die Ausstellungsgebäude haben im wahrsten Sinne des Wortes einen besonderen Dreh: „30 Riesentürme umgeben da in 3 Kreisen einen mittleren Kolossalturm, der 150 Stockwerke besitzt, während die anderen Türme nur 120, 80 und 40 Stockwerke haben - entsprechend den 3 Kreisen, von denen der äußerste der niedrigste ist. Nun denken Sie sich diese sämtlichen Stockwerke durch lange Brücken miteinander verbunden, und dann müssen Sie sich im Innern dieser Stockwerke Salons denken, die wie Fahrstühle auf und ab und auch über die Brücken fahren. Dazu dreht sich jeder Turm ständig um sich selbst. Und in dieser Drehscheibenarchitektur können Sie nun in einem einzigen Zimmer überall herumfahren. Das nennt sich natürlich ,bewegliche Architektur`. Und wenn Sie bei dieser immerhin langsam wirkenden Fahrt zum Fenster hinausblicken, während Sie auf einem bequemen Sessel sitzen oder auf einem Diwan liegen, so sehen Sie draußen immerfort eine sich langsam verschiebende Architektur wie langsam sich bewegende Kaleidoskope.” Kaleidoskopartig wirken auch Scheerbarts Texte, die er mit einem Opal vergleicht, weil immer wieder „neue Farbenplättchen”, neue Facetten sichtbar werden sollen. Da die „Inhalte” zu „gewaltig” sind, ist aber für ihn nicht nur das jeweils „neue Farbenplättchen” wichtig, sondern ebenso die Bewegung, die nur Flüchtigkeit, also Skizzenhaftigkeit von Form und Inhalt, erlaubt. Alles in seinen Texten Skizzierte stürzt wie bei der Drehung eines Kaleidoskopes im nächsten Augenblick zu einer neuen Skizze zusammen. Denn: „Die unendlichen Reihen des großartigen Spukreiches, das wir für Weltleben haben, umketten und umkränzen uns überall ... Dieser Unendlichkeitszauber, der überall alles beherrscht, ist das Herrlichste von Allem, was wir haben.”

Die Unendlichkeit mit ihrem „Unendlichkeitszauber” wird durch Bewegung evoziert; eine durch das Prinzip der Kontrastierung hervorgerufene Bewegung, die nichts zu Formelhaftigkeit erstarren läßt. In Lesabendio. Ein Asteroidenroman schreibt Scheerbart: „Wieder kommt der Rausch, den die ewige Drehung erzeugt - die sich drehenden Kugeln und Räder ersticken das Kleinliche.” Alles ist stets im Prinzip der Veränderung begriffen, um durch fortgesetzte Metamorphosen noch Großartigeres hervorzubringen. Münchhausen erklärt: „Es scheint überhaupt in der ganzen Welt notwendig zu sein, daß selbst das Großartigste immer noch übertrumpft wird ... - wir werden nie das Allergroßartigste erblicken -, dazu ist die unendliche Welt allzu großartig.”  
Das Kaleidoskopartige und Facettenhafte schafft unablässig „Kontraste”, die ihrerseits gleich wieder „übertrumpft” werden, was die Gäste und den Leser zum „Sich-Wundern” zwingt, denn Diskontinuität verhindert Gewöhnung.

Es ist wesentlich, daß die Romane dieses Autors, der sein Interesse von der Realität weg in die Unendlichkeit des Kosmos gerichtet hat, aus einzelnen mobilen Geschichten bestehen, in den Romanen Ich liebe Dich! und Immer mutig! ist dieses Kompositionsprinzip besonders evident. In beiden Werken tritt der Geschichten-Erzähler als „Schriftsteller Scheerbart” auf, der je nach Bedarf eines seiner Manuskripte aus der Tasche zieht und seinem Publikum vorliest. Dadurch reiht der Autor die unterschiedlichsten Geschichten aneinander, die nur durch einen reduzierten Handlungsablauf und die neue phantastische Kunstrichtung mit „religiöser Perspektive” zusammengehalten werden. Auch der Münchhausen-Roman ist nach diesem Kompositionsprinzip aufgebaut. Vor dem Hintergrund der Antiliebesgeschichte zwischen Münchhausen und Clarissa berichtet der Baron seine Weltausstellungsgeschichten, deren Reihenfolge beliebig umgestellt werden könnte, was auch auf andere Werke zutrifft. Das Geschichten-Erzählen, d.h. das Geschichten-Erfinden selbst, wird durch dieses Kompositionsprinzip primär gesetzt. In dieser Verweigerung, eine Handlung zu konstituieren, zugunsten einer aperspektivischen Vielfältigkeit, die dem Leser unendlich viele Einlaßmöglichkeiten bietet, um die skizzierten Fragmente in seiner Phantasie zu ergänzen, kann ein weiterer Gestus der Moderne erkannt werden. Scheerbarts Romane sind vorwiegend Geschichten-Romane und nicht Roman-Geschichten. Die aperspektivischen Geschichten-Romane entsprechen seiner Denkart, die keine abschließende Erkenntnisvision akzeptiert, sondern die Hoffnung als einzige Wirklichkeit setzt. Bewegung ist in Scheerbarts Werk Ausdruck von Unruhe und Sehnsucht des Menschen, da erst im Zustand der Erlösung Stillstand und Ruhe möglich sind. Mit der Unendlichkeitsperspektive und der weltgestaltenden Phantasiekraft kann der Künstler diesen Zustand anstreben. Allein in der Skizzenhaftigkeit und Offenheit des Fragments kann mittels der „armen” Sprache eine Ahnung von der Unendlichkeit, um die es Scheerbart in seinem ganzen Werk geht, „hervorgezaubert” werden.

Die pointillistischen Zeichnungen Scheerbarts sind ebenso fragmentarische Skizzen, in denen das Auge des Betrachters, sich von Punkt zu Punkt bewegend, einen beliebigen Weg sucht, um das Bild zu konstituieren. Der Leser kann sich Scheerbarts Werken nicht überlassen, sondern muß, seine Phantasie aktivierend, mit diesen etwas tun, um am „Unendlichkeitszauber”, am „Zukunftsrausch” und am „Hoffnungsglück” teilzuhaben.

Scheerbart versucht durch seine Texte den Menschen auf die „große, bunte Welt” aufmerksam zu machen, um gegen Saturiertheit und Arroganz zu kämpfen und um etwas heiterer in die Zukunft zu blicken. Seine Texte sind Phantasmagorien, die das irdische Mißgeschick mit „langen Wunderspänen umringeln”, aber Phantasmagorien mit einem utopischen Hoffnungsinhalt, also eine Herausforderung an den Leser. Sie annehmen, das heißt, selber an einer besseren Zukunft mitzuarbeiten, denn wo die Phantasie noch aktiv ist, sind auch Verwandlung und Besserung zum Guten hin noch möglich.

Scheerbart ist Erbe der Romantik und zugleich früher Autor der Moderne, bei dem Kunstreflexion und Fiktion eine Einheit bilden. Dieser Künstler der vergangenen Jahrhundertwende verdient es, daß die Zeitgenossen des nächsten Epochenwechsels sich seiner wieder zu erinnern beginnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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