Tino-Antoni Schwierzina

* 27. 05. 1927 in Königshütte (heute Kralowska Huta)

Oberbürgermeister (Ost-Berlin)
vom 30. 05. 1990 bis 11. 01. 1991

Bildnis Tino-Antoni Schwierzina 30. Mai 1990, 11.36 Uhr, Rotes Rathaus: Tino-Antoni Schwierzina, 63jährig, Sozialdemokrat, ein Mann, den noch wenige Monate vorher kaum jemand in Ost-Berlin auch nur vom Namen her kannte, wird mit 74 Ja-Stimmen bei 42 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen in die Funktion des Oberbürgermeisters von Ost-Berlin gewählt. Seiner Partei, der SPD, war es bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung am 6. Mai 1990 gelungen, mit 34 Prozent aller Stimmen stärkste Kraft zu werden, und ihr kam es daher auch zu, die neue Stadtregierung in Ost-Berlin zu bilden. Für rund siebeneinhalb Monate - bis zur Wahl eines Gesamtberliner Senats - sollte Schwierzina nun dem 14 Mitglieder umfassenden Magistrat, einer Koalition mit der CDU, vorstehen.
Als Kernziel der Tätigkeit seiner Behörde bis zur Wiederherstellung der Einheit Berlins umriß Schwierzina am 13. Juni 1990 vor der Stadtverordnetenversammlung in einer Erklärung über die Richtlinien der Magistratspolitik folgende Vision: "Wir bereiten unsere Stadt auf die Zukunft vor, die Berlin als eine blühende Metropole im Zentrum Europas und als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands sehen wird."

Die Aufgaben, die die neue Stadtregierung in Ost-Berlin zu bewältigen hatte, waren von einer herausragenden Besonderheit geprägt: Wie überall im Lande, so galt es auch in Ost-Berlin, die nach der Wende anstehenden grundlegenden Umgestaltungen in Angriff zu nehmen und administrativ zu steuern. Nichts war mehr so wie vorher. Alle Bereiche der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kultur, des Bildungswesens usw. mußten auf die im westlichen Teil Deutschlands und damit auch im westlichen Teil Berlins seit 40 Jahren geltenden Regeln umgestellt werden. Tiefe Einschnitte, die bis in die unmittelbaren Lebensbereiche der Menschen hineinwirkten, waren die Folge. Nicht selten bekam dies der Oberbürgermeister bei stürmischen Auseinandersetzungen mit verschiedensten Betroffenengruppen im Roten Rathaus direkt zu spüren, so zum Beispiel mit Eigenheimbesitzern, mit Angehörigen der Müllabfuhr oder mit Mitarbeitern seiner eigenen Verwaltung und nachgeordneten Einrichtungen.

Als nützlich für seine Amtsführung erwies es sich, daß Tino Schwierzina auf Erfahrungen zurückgreifen konnte, die er auf dem Gebiet der Verwaltungstätigkeit im Verlaufe vieler Jahre gesammelt hatte. So war er seit 1952 für nahezu 15 Jahre als Justitiar in verschiedenen staatlichen Kontoren des Fisch- und Getränkehandels sowie im VEB Bärensiegel und in der Weingroßkellerei angestellt. Ansonsten läßt ein Blick in seine Biographie kaum ahnen, daß ihm die Ausführung eines herausragenden politischen Amtes sozusagen vorgezeichnet war. Er besuchte ab 1933 die Schule in Magdeburg, wurde 1943 Luftwaffenhelfer und 1944 Angehöriger der Wehrmacht. Die Jahre 1945 bis 1948 verbrachte er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. 1948 legte er das Abitur ab und begann im selben Jahr ein Jurastudium an der Humboldt-Universität in Berlin, das er als Wirtschaftsjurist beendete. Die bereits erwähnte Tätigkeit als Justitiar gab er 1968 aufgrund gesundheitlicher Probleme auf; er wurde invalidisiert und Teilrentner. Er lebte, wie er später einmal bekannte, "in der Nischengesellschaft der DDR". Erst in den Zeiten der Wende des Herbstes 1989 verspürte Schwierzina das Bedürfnis, sich politisch in den Prozeß der Gestaltung des neuen Deutschlands einzubringen. Er wurde im Oktober 1989 Mitglied in der eben erst gegründeten SDP der DDR und bereits im Februar 1990 Schatzmeister des Bezirksverbandes Berlin der Partei.

Als Oberbürgermeister sah Tino Schwierzina sein politisches Credo darin, die beiden Berliner Stadthälften "so schnell wie möglich, aber so sozial und so verantwortungsvoll wie nötig" wieder zusammenzuführen und die schmerzende Grenzlinie innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraumes bedeutungslos zu machen. Wichtig erschien ihm daher, alle politischen Entscheidungen von Bedeutung künftig mit dem Westberliner Senat abzustimmen und die konkreten Schritte zur Wiedervereinigung Berlins gemeinsam zu planen. Berlin sollte von nun an nur noch mit einer Stimme sprechen. Bei vielen Aktionen trat Schwierzina zusammen mit Walter Momper, dem Regierenden Bürgermeister West-Berlins, auf. Es dauerte nicht lange, und man titulierte beide als die "unzertrennlichen Zwillinge", sprach man von "Schwierzmomper" und "Momperzina".

Die erste gemeinsame Sitzung von Magistrat und Senat seit 1948 fand am 12. Juni 1990 im Roten Rathaus statt. Ganz oben auf der Agenda stand ein Thema, dessen schnelle Erledigung von eminenter Bedeutung für das Lebensgefühl vieler Berlinerinnen und Berliner war: die Beseitigung des wohl verhaßtesten Symbols der Teilung -der Mauer - und die Wiederherstellung der Verkehrsverbindungen als eine wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Zusammenwachsen der über 28 Jahre voneinander getrennten beiden Stadthälften. Bereits am 1. Juni hatte Tino Schwierzina die Einrichtung einer Koordinierungsstelle "Mauerabriß" beim Stadtrat für das Bau- und Wohnungswesen angekündigt. Alle Betriebe in Ost- und West-Berlin waren aufgerufen worden, dazu ihre Kapazitäten bereitzustellen. Durch große Anstrengungen gelang es, bis zum 2. Juli bereits 89 durch die Mauer abgeschnittene Straßen wieder zu öffnen und für den Auto- bzw. Fußgängerverkehr freizugeben. Damit verbunden war die Aufhebung aller bis dahin noch erfolgten und von den Bürgern als lästig empfundenen Personen- und Zollkontrollen. Generelles Ziel war es, bis Jahresende endgültig alle Grenzanlagen an der innerstädtischen Mauer verschwinden zu lassen. Bis zum 23. August - 50 Tage nach dem Amtsantritt des Oberbürgermeisters - waren bereits 41 Prozent der Hauptmauer und 70 Prozent der kleineren Grenzmauer abgerissen. Am 31. November 1990 wurde das letzte Stück des innerstädtischen Sperrgürtels von Einheiten der Bundeswehr im Stadtteil Schönholz beseitigt. Damit war der 32,4 Kilometer lange Betonwall zwischen dem Märkischen Viertel im Norden und Neukölln im Süden abgebaut.

Auch die Zusammenführung Berlins auf dem Schienenwege kam langsam in Gang. Hier galt es vorrangig, die auf Ostberliner Gebiet gelegenen, nach dem Mauerbau stillgelegten S- und U-Bahnhöfe wieder in Betrieb zu nehmen und den Anschluß zum Westberliner Netz herzustellen. Am 1. Juli war es dann endlich soweit. Tino Schwierzina und Walter Momper ließen es sich nicht nehmen, am Vormittag des 1. Juli 1990 persönlich mit roter Mütze und Kelle einem U-Bahnzug vom Kottbusser Tor über Alexanderplatz Richtung Gesundbrunnen das Abfahrtssignal zu geben. Schon einen Tag später verließ dann auch zum ersten Mal seit all den Jahren der Teilung wieder ein durchgehender S-Bahnzug aus Erkner den bisherigen Grenzbahnhof Friedrichstraße und fuhr direkt weiter in Richtung Charlottenburg. Weitere wichtige Verkehrsverbindungen sollten Schritt für Schritt folgen und Erleichterungen für die Berliner bringen. So hielt am 1. September um 8.59 Uhr zum ersten Mal wieder - und auch dies in Anwesenheit beider Stadtoberhäupter - eine S-Bahn auf der im Nord-Süd-Tunnel gelegenen Station "Unter den Linden". Am 26. November schließlich weihten Schwierzina und Momper die mittlerweile zu einer Touristenattraktion gewordene Buslinie 100 zwischen dem Zoologischen Garten in West-Berlin und dem Alexanderplatz in Ost-Berlin ein.

Etwa drei Wochen, nachdem Magistrat und Senat wieder zu gemeinsamen Tagungen zusammengekommen waren, faßten beide Gremien, und zwar wiederum gemeinsam, am 3. Juli 1990 einen Beschluß, der einen Markstein für die Zukunft der Stadt setzen und dem Aufblühen Berlins zu einer Metropole neue Impulse verleihen sollte: Der Potsdamer Platz, bis vor dem Kriege ein pulsierendes Zentrum der deutschen Hauptstadt und nach Zerstörung und Mauerbau nur noch ein ödes Gelände, soll zu neuem Leben erwachen. Gegen heftigen Widerstand aus Kreisen des linken und alternativen Spektrums wurde beschlossen, für 93 Millionen DM an den Stuttgarter Daimler-Benz-Konzern ein
61 710 Quadratmeter großes Areal zu veräußern. Im Gegenzug dafür versprach das süddeutsche Großunternehmen, am Potsdamer Platz in den 90er Jahren ein Dienstleistungszentrum zu schaffen, das 3000 Menschen Arbeit geben und darüber hinaus dieser historischen Gegend Berlins wieder den Glanz und die Attraktivität verleihen soll, wie dies einer internationalen Metropole angemessen ist.

Zu einer Veränderung im juristischen Charakter des Ostteils Berlins von nicht unerheblicher Tragweite kam es am 23. Juli 1990. An diesem Tage beschloß der Magistrat eine eigene Stadtverfassung. Sie beruhte im wesentlichen auf der Gesamtberliner Verfassung von 1948 und war als Übergangsverfassung für den Zeitraum bis zur Abhaltung von Wahlen in ganz Berlin gedacht. In ihr ist festgelegt, daß Ost-Berlin bis zur Klärung des Status eines vereinigten Berlins den Rang eines Landes der DDR hat. Damit endete die Zuständigkeit des DDR-Ministeriums für Regionale und Kommunale Angelegenheiten. Der Magistrat selbst übernahm eine Reihe von Kompetenzen in vielen Bereichen, wie Polizei, Justiz, Bildung, Kultur und Wissenschaften. Bemerkenswert an dieser Ostberliner Verfassung war die Tatsache, daß in ihr unter anderem als Grundrechte und Staatszielbestimmungen das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung sowie der Anspruch auf eine angemessene Wohnung verankert wurden.

In seiner Amtszeit wurde Tino Schwierzina mit komplizierten Aufgaben konfrontiert. Ein schweres Erbe hatte er beispielsweise auf dem Gebiet der Bau- und Wohnungspolitik anzutreten. Obwohl seit den 70er Jahren der Wohnungsbau das Kernstück der DDR-Sozialpolitik darstellte, fehlten 50 000 Wohnungen, 25 000 standen leer; ihr baulicher Zustand war nicht geeignet, sie Wohnungssuchenden anzubieten. Die Zahl der von Angehörigen der linken und alternativen Szene besetzten Häuser belief sich mittlerweile auf ca. 100. Um dieser inakzeptablen Situation ein Ende zu bereiten, beschloß der Magistrat am 24. Juli 1990, weitere Besetzungen nicht mehr hinzunehmen und notfalls mit Polizeigewalt zu beenden. Bereitwilligen jungen Leuten sollten Sanierungsverträge angeboten werden; Mehrere Millionen Mark aus Mitteln von Senat und Magistrat wurden zu diesem Zweck bereitgestellt. Unterdessen hatte das Verhalten der Besetzer - insbesondere im Stadtbezirk Friedrichshain - eine Situation geschaffen, die nicht länger geduldet werden konnte. So kam es am 14. November 1990 in der Mainzer Straße zur Konfrontation. In einer bislang beispiellosen Aktion rückten 3000 Polizisten unter dem Kommando des Westberliner Innersenators an und räumten 13 Häuser. Schwere gewaltsame Auseinandersetzungen spielten sich ab. 250 Polizisten wurden verletzt, 300 Randalierer festgenommen.

Am 2. Dezember 1990 kam Berlin einen wichtigen Schritt dem Ziel näher, dem sich Tino Schwierzina in seiner ganzen Arbeit verschrieben hatte: der Wiederherstellung der Einheit Berlins. An diesem Tage fanden in beiden Teilen der Stadt Wahlen zum gemeinsamen Abgeordnetenhaus statt. Am 8. Januar 1991 schlug die Fraktion der SPD Tino-Antoni Schwierzina für das Amt des Vizepräsidenten des Landesparlamentes vor. Am 11. Januar gab er sein Amt als Oberbürgermeister von Ost-Berlin ab und ist seit- dem in der genannten Funktion tätig.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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