Dr. Adolf Wermuth


* 23. 03. 1855 in Hannover
+ 11. 10. 1927 in Berlin

Bildnis Adolf Wermuth

Oberbürgermeister
vom 1. 9. 1912 bis 25. 11. 1920

Adolf Wermuth übernahm und beendete das hohe Amt des Oberbürgermeisters der Reichshauptstadt Berlin in einem ungewöhnlichen Zeitabschnitt - zwei Jahre vor Beginn und zwei Jahre nach Ende des ersten Weltkrieges. Er wirkte als Kommunalpolitiker also nicht nur in der kriegsvorbereitenden und vierjährigen Kriegszeit, sondern auch während der Novemberrevolution 1918/19 und dem damit verbundenen Sturz der Monarchie und während der Entstehung der Weimarer Republik.

Mit dem Namen Adolf Wermuth ist vor allem die erste Lebensmittelzwangswirtschaft in Berlin verbunden. Sie sollte - von ihm angeregt und durchgesetzt - eine gewisse Grundernährung von Millionen Menschen Berlins und seiner Umgebung unter außergewöhnlichen Bedingungen gewährleisten und zugleich so weit wie möglich zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens beitragen.

Für diese Verquickung von kommunal- und reichspolitischem Denken brachte Adolf Wermuth entsprechende Voraussetzungen mit. Geboren als Sohn eines Polizeidirektors und späteren Regierungspräsidenten in Hildesheim, wuchs er in einer Atmosphäre auf, die ihm schon im Kindesalter die Treue zur Monarchie anerzog. Im Hildesheimer Andreanum verbrachte er seine Schulzeit und studierte danach in Leipzig, Heidelberg und Göttingen Jura. Nach einer Tätigkeit als Richter und Regierungsassessor trat er 1883 in das Reichsamt des Inneren ein, wurde 1904 Unterstaatssekretär, 1908 Wirklicher Geheimer Rat und 1909 Staatssekretär im Reichsschatzamt. In den ersten Dienstjahren war er am Aufbau des deutschen Wetterdienstes beteiligt, leitete als Reichskommissar den deutschen Teil der Weltausstellung in Melbourne (1888) und Chicago (1893) und nahm als Direktor der Zoll- und Handelsabteilung im Reichsamt des Inneren am Abschluß von Handelsverträgen in Sankt Petersburg, Rom, Luzern und Wien teil.

Adolf Wermuth verfügte also über staatsdienstliche, diplomatische und Verhandlungserfahrungen, als der Berliner Stadtverordnetenvorsteher Paul Michelet ihn am 30. April 1912 ersuchte, sich für das Amt des Oberbürgermeisters von Berlin zur Wahl zu stellen. Nach kurzem Bedenken stimmte der 58jährige dem Antrag zu und wurde am 15. Mai 1912 in der Stadtverordnetenversammlung mit 72 Stimmen gegen eine Stimme bei 43 Stimmenthaltungen gewählt. Das Amt trat er am 1. September 1912 an. Einer seiner wichtigsten Mitarbeiter und zugleich Gegenspieler wurde der Stadtkämmerer Gustav Böß, der nach ihm das Oberbürgermeisteramt übernahm.

Bereits in seiner Antrittsrede als Oberbürgermeister hatte Adolf Wermuth die Lebensmittelversorgung nicht ohne Grund in sein Programm aufgenommen. Im Sommer und Herbst 1912 herrschte in Berlin eine angespannte Stimmung, weil Fleisch knapp und die Fleischpreise hoch waren. Die erste Amtshandlung Adolf Wermuths war daher, auf Kosten der Stadt polnisches Fleisch in erreichbarer Menge einzukaufen und zu Selbstkostenpreisen in Berlin zu verkaufen. So wurde Ende 1912 und Anfang 1913 Fleisch für etwa 12 Millionen Mark der Stadt zugeführt. Dieses städtische Geschäft war seinem Wesen nach die erste Zwangsmaßnahme auf dem Gebiet des Ernährungswesens noch in Friedenszeiten, die, wie Adolf Wermuth in seiner politischen Biographie festhielt, "in ganz merkwürdiger Weise eine Vorübung für den Krieg" darstellte. Schon im Juli 1914 sorgte er zusammen mit dem Stadtrat Dr. Georg Simonsohn dafür, daß Berlin in kurzer Zeit annähernd 20 000 Tonnen Mehl und Brotgetreide erhielt, um bei der bevorstehenden Heeresmobilmachung nicht wegen erwarteter Zufuhrstörungen unter Getreidemangel leiden zu müssen. Zusätzlich gewährleistete der Magistrat den Ankauf von einer Million Zentner Kartoffeln, eröffnete das Geschäft mit Hülsenfrüchten und brachte Rinder- und Schweinefleisch auf den Markt.

Seit Kriegsbeginn drängte Adolf Wermuth die Reichsregierung, eine Zwangs- und Rationierungswirtschaft für Lebensmittel vorzunehmen. Mit der Reichsratsverordnung vom 25. Januar 1915 wurde - wie er vorgeschlagen hatte - die gesamte Getreidemenge in Deutschland beschlagnahmt und einem Verteilungsplan unterworfen. Adolf Wermuth führte daraufhin am 22. Februar 1915 die Brotkarte in Berlin ein. Durch den Anschluß von etwa 50 Gemeinden und Gutsbezirken entstand die Groß-Berliner Brotkartengemeinschaft. Die Berliner Brotkarte wurde überdies alsbald zum Vorbild für ganz Deutschland.

Der Brotrationierung folgte die für Kartoffeln, Butter, Milch, Zucker, Eier, Obst, Gemüse, Fleisch und anderes. Trotzdem kam es wegen fehlender Kartoffeln zu dem berüchtigten Berliner Kohlrübenwinter 1916/1917. Seit dem Sommer 1916 verfügte Berlin auf Initiative des Magistrats über ein Netz von Volksküchen, das etwa 170 000 Einwohner mit einer warmen Mahlzeit versorgte. Adolf Wermuth betrieb seine Lebensmittelzwangsmaßnahmen auch nach dem Ende des Krieges weiter. Er selbst betonte ausdrücklich den politischen Charakter dieser Tätigkeit: "Meine beste Wehr blieb das Ernährungswesen. Bis in das Frühjahr 1920, wo sie stumpf zu werden begann, übte ich mit ihr bedeutende Wirkung. Die staatlichen Hüter der Ordnung dürften zumeist erst an den Tatsachen gemerkt, oder auch nicht gemerkt haben, wieviel Hilfe ihnen bei den Unruhen, Straßenkämpfen, Streiks auf diesem Wege gekommen ist."

Das zweite größere kommunale Betätigungsfeld Adolf Wermuths waren die flächenmäßige Vergrößerung Berlins und die Vorarbeiten für die bedeutenden Eingemeindungen und die Neustrukturierung Groß-Berlins 1920. Noch vor dem Weltkrieg wurden unter anderem Lanke, der Grunewald, Teile der Tegeler, Grünauer und Schmöckwitzer Forsten erworben. Bereits 1912 entstand per Gesetz der Zweckverband Groß-Berlin, der ein gewisses Zusammenwirken Berlins mit seiner näheren Umgebung sichern sollte, was dann durch die Lebensmittelzwangswirtschaft auf administrative Weise befördert wurde. Zusammen mit Stadtrat Dr. Hugo Preuß entwickelte Adolf Wermuth das Konzept für den Aufbau der Großstadt Berlin. Danach sollte sich Groß-Berlin ohne das bis dahin bestehende Zwischenglied der Einzelgemeinden eine Vertretung wählen, aus der wiederum der Magistrat für Gesamtberlin hervorgehen sollte. Dieses Konzept fand Eingang in das Gesetz über die Eingemeindungen in Berlin vom 27. April 1920.

1913 regten Adolf Wermuth und Bürgermeister Dr. Georg Reicke die Schaffung des Berliner Stadtarchivs, mit dessen Aufbau der Archivar und spätere erste Direktor Dr. Ernst Kaeber beauftragt wurde, sowie die Anlage des Goldenen Buches der Stadt an. Unter dem Einfluß Adolf Wermuths gingen am 1. Oktober 1915 die bis dahin privaten Berliner Elektrizitätswerke an die Stadt über. Nach dem Kriege erfolgte der Ankauf der Straßenbahn.

Adolf Wermuth nahm während seiner Berliner Oberbürgermeisterzeit als Mitglied des Herrenhauses sowie des preußischen und deutschen Landtages auch Einfluß auf die preußische und Reichspolitik. Neben Politik galt sein Interesse der Geschichte und Literatur. Nach Beendigung seiner Amtszeit als Oberbürgermeister schrieb er die politische Biographie "Ein Beamtenleben. Erinnerungen", die 1922 erschien. Er hat danach sehr zurückgezogen gelebt. 1927 starb Adolf Wermuth im Alter von 73 Jahren. Er wurde in Berlin-Buch, wo er stets den Sommer mit seiner Frau, seinen Söhnen und Töchtern verbracht hatte, beigesetzt.
Adolf Wermuth war vor allem in den letzten Jahren seiner Amtszeit als Oberbürgermeister vorwiegend aus dem bürgerlichen Lager dem Vorwurf ausgesetzt, ein politischer Wendehals zu sein. Dieser Vorwurf entsprang der Tatsache, daß er trotz der Revolution Oberbürgermeister Berlins blieb und es verstand, sich unter den neuen politischen Verhälnissen nicht nur zu behaupten, sondern eine Basis der Zusammenarbeit zu finden. Hier geschah ihm offenbar Unrecht. Adolf Wermuth gehörte nie einer politischen Partei an, aber er war ein im wilhelminischen Geist geprägter Beamter, der dem Kaiser bis zuletzt die Treue hielt. Er selbst schrieb: "Ich habe es auch nach der Revolution nie und nirgend an der Ehrerbietung gegen den Monarchen fehlen lassen, dem ich ein Menschenalter gedient hatte." Er war vor allem Realpolitiker. Mit politischem Gefühl für Zeit, Umstände und handelnde Personen hat er sich auf das Machbare konzentriert und dafür Mitstreiter unterschiedlicher politischer Färbung - mit Ausnahme der Kommunisten, gegen die er entschieden kämpfte - gewonnen. Adolf Wermuth akzeptierte den Umbruch vom Kaiserreich zur Republik als politische Realität, und zugleich war er bestrebt, diesen Umbruch mit möglichst geringen Verlusten für die bürgerliche Gesellschaft gestalten zu helfen.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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