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Wolfgang Helfritsch
Jahrestagung der Kurt-Tucholsky- Gesellschaft

Der Berlin-Saal im altehrwürdigen Ribbeck- Haus, seit dem wenig rühmlichen Interregnum der Olympia 2000 GmbH gut ausgewähltes Domizil der Zentral- und Landesbibliothek, gab die würdige räumliche Umrahmung der Jahrestagung 1999 der Kurt-Tucholsky- Gesellschaft, die dem Thema »Kurt Tucholsky, das Kabarett und eine junge Republik« gewidmet war.
     Wolfram Wette, Sprecher des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und Universitätsprofessor in Freiburg, arbeitete in seinem einführenden Vortrag Merkmale der frühen Jahre der Weimarer Republik heraus und erleichterte so dem Londoner Universitätsdozenten Ian King, Gründungsmitglied der Gesellschaft, die Charakterisierung Tucholskys als »politischer Seismograph«.
     Walter Rösler, Ex- Dramaturg der Berliner Staatsoper und Mitverfasser des Abrisses des deutschsprachigen Kabaretts, bedauerte in seinem Beitrag die bislang eher stiefmütterliche Behandlung Walter Mehrings, und Jürgen Schebera, der über Hanns Eislers Wirken in den USA promoviert hat, referierte darüber, wie Tucholsky 20 Jahre postum endlich »seinen« Komponisten fand, nachdem sich Friedrich Hollaender bereits Dezennien vorher als kongenialer musikalischer Bearbeiter von acht Texten des Mannes mit den 5 PS hervorgetan hatte.
     Volker Kühn, unangefochtene Ikone unter den amtierenden Historikern und Praktikern des deutschen Kabaretts, rückte gerade, was gern und nicht selten übersehen wird: Der stets streitbare Tucholsky schrieb Kabarettisten die Texte bis zur Nuance und bis zum Atemschnauferl auf den konkreten Leib und wehrte sich dagegen, das Kabarett schlechthin

und im allgemeinen zu bedienen. Schließlich hatte der Autor nicht nur einmal entsetzt miterleben müssen, wozu textliche Vorgaben mutieren können, wenn sie sich mittels eigenwilliger oder dilettantischer Gestaltung von den Intentionen ihres Erzeugers entfernen.
     Einen anschaulichen wirkungstypologischen Vergleich der Kabarett- Texte Tucholskys und Kästners lieferte Literaturprofessor Harald Vogel, der seine Feststellungen, vom Pianisten und Gitarristen Johannes Weigle unterstützt, musikalisch selbst illustrierte. Vogel, der in seiner vorlesungs- und seminarfreien Zeit als »singender Professor« in Deutschland und Rußland wie vormals die Neuberin durch die Lande tourt, begründete das Esslinger Literaturprojekt »Lyrikbühne« und publizierte u.a. über Brecht, Tucholsky, Kästner und Rose Ausländer. Daß er vor nunmehr elf Jahren zum Gründungsvorsitzenden der Tucholsky- Gesellschaft gekürt wurde, sei nur am Rande erwähnt.
     Die Podiumsdiskussion am zweiten Konferenzvormittag widmete sich der Rezeption und Wirkung Tucholskys in West und Ost. Literaturwissenschaftler, Kabarettisten und Pädagogen, bekräftigt oder gekontert durch Meinungsäußerungen aus dem Publikum, tasteten sich damit an ein Problemfeld heran, das gut und gern ein eigenständiges Konferenzprogramm hätte abgeben können. Die Disputanten bemühten sich, persönliche Erfahrungen einbringend, um Sachlichkeit und die Überwindung von Klischees. Konstatierend, daß in beiden deutschen Staaten Interesse daran bestand, Tucholsky als Galionsfigur zu vereinnahmen, hegten sie gleichwohl keinen Zweifel daran, daß der aufmüpfige Poet und Publizist sein scharfes Florett gegen ihm mißliebige Erscheinungen beiderseits der Elbe geführt hätte.
     Daß auch die gegenwärtigen Amtsträger wenig Freude an dem unbequemen lebenden Dichter und Denker haben würden, geht schon aus der Tatsache hervor, daß allein der Tucholsky, der
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sich vor 65 Jahren für immer zurückgezogen hat, immer wieder aktuellen politischen Zündstoff beschert.
     Ein hervorstechendes Qualitätsmerkmal der Tagung bestand in der gelungenen Verbindung von literaturwissenschaftlicher Theorie und kabarettistischer Praxis, in der anschaulichen Rückbesinnung auf die künstlerischen Darstellungsweisen der nicht nur Goldenen Zwanziger und dem Blick auf die heutigen variablen Gepflogenheiten literarisch- musikalischer Präsentation.
     Der Abend des ersten Konferenztages stand ganz im Zeichen einer überragenden künstlerischen Persönlichkeit: Die singende Schauspielerin Gisela May erhielt, wenige Wochen nach ihrem unglaubhaften 75. Geburtstag, die Ehrenmitgliedschaft der Kurt-Tucholsky- Gesellschaft. Den gewichtigen Feldfrüchtestrauß, der ihr anläßlich der bewegenden Ehrung überreicht wurde, quittierte sie mit Tucholskys gleichnamigem Chanson und weiteren persönlich ausgewählten und unverwechselbar interpretierten Beiträgen aus ihrem Repertoire.
     Volker Kühns Videofilm »Bei uns um die Gedächtniskirche rum«, ein aus Anlaß der Tagung vorgeführtes Unikat mit Originalaufnahmen von Friedrich Hollaender, Blandine Ebinger, Margo Lion, Paul Graetz, Rudolf Nelson und anderen leitete die verdiente Würdigung ein und rundete sie zugleich ab.
     Der zweite Konferenzabend stand unter dem Motto »Man möchte immer eine große Lange ...« und war Vereinsmitgliedern vorbehalten, die Texte und Chansons Kurt Tucholskys interpretierten.
     Die Tagung endete traditionsgemäß mit der Verleihung des Kurt-Tucholsky- Preises für literarische Publizistik, der zweijährlich ausgelobt und im Rahmen einer Matinee im Deutschen Theater überreicht wird. Die unabhängige Jury entschied sich in diesem Jahr für die Schriftstellerin Daniela Dahn,
deren Auszeichnung durch die Laudatio Egon Bahrs eine zusätzliche Aufwertung erhielt.
     Die außerhalb der Konferenztagesordnung durchgeführte Mitgliederversammlung wählte den neuen Vorstand der Gesellschaft.
     Die Geschicke des Vereins lenken künftig Inge Jens, assistiert vom wiedergewählten 2. Vorsitzenden Roland Links. Renate Bökenkamp wurde in ihrem Amt als Schriftführerin, Wolfgang Helfritsch als Beisitzer bestätigt. Stefanie Oswalt und Eckart Rottka verstärken als weitere Beisitzer das Team, Schatzmeisterin wurde Barbara Gollasch.

 

Alex Carmel/ Ejal Jakob Eisler
Der Kaiser reist ins Heilige Land

Die Palästinareise Wilhelms II.
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1999

Mehr als hundert Jahre liegt das Ereignis zurück. Aus heutiger Sicht kommt ihm nur marginale Bedeutung zu, aber damals war es für die Zeitgenossen außerordentlich wichtig: die Kaiser- Reise von Wilhelm II. im Herbst 1898 in das Osmanische Reich mit ihren Stationen Türkei, Palästina und Syrien. Den Reiseweg können wir auch heute noch zurückverfolgen: von Istanbul mit dem Deutschen Brunnen vor der Achmed- Moschee über einen Denkmalsockel oberhalb der Stadt Haifa bis hin zu den deutschen Kirchenbauten in der Heiligen Stadt. Diese Reise ist heute für manche Historiker nur noch berichtenswert wegen der vielfältigen Versuche von internationalen Gesellschaften, die Konzession zum Bau der Bagdad- Bahn zu bekommen. Der Kaiser erhielt sie für Deutschland vom Sultan quasi als persönliches Gastgeschenk.
     Die Reise selbst hat aber weit darüber hinaus gewirkt.

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Einerseits durch die schwungvolle Rede am 6. November 1898 in Damaskus, als Wilhelm II. den »dreihundert Millionen Mohammedanern« zusicherte, »zu allen Zeiten« werde der Deutsche Kaiser »ihr Freund« sein. Und dann durch die Tagebucheintragung von Theodor Herzl nach der Audienz beim Kaiser. Mit dem Jubelruf des Begründers und ersten Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, daß es in Palästina zu einer jüdischen Heimstätte kommen werde: »Unter dem Protektorat dieses starken, großen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten Deutschland zu stehen, kann nur die heilsamsten Wirkungen auf den jüdischen Volkscharakter haben.« Aus beiden Dingen ist bekanntlich nichts geworden.
     Höhepunkt der Kaiserreise war der Aufenthalt in Jerusalem. Zu diesem Ereignis haben jetzt die beiden israelischen Historiker Alex Carmel und Ejal Jakob Eisler eine üppig ausgestattete Darstellung vorgelegt. Der eine oder andere Aspekt war zwar schon bekannt, aber in der Geschlossenheit dieser besonderen Präsentation wird deutlich, warum die Reise des deutschen Kaisers damals ein so überwältigendes Echo hatte; am Ort selbst und auch sonst in der Welt. Ihr erklärter Zweck war es, die Erlöserkirche in Jerusalem einzuweihen. Heute noch bestimmt dieser Kirchenbau mit seinem charakteristischen Glockenturm – übrigens nach eigenhändigem Entwurf von Wilhelm II. – das Gesamtbild der Altstadt. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß der Wille des Kaisers, diese Kirche einzuweihen, tatsächlich der Hauptgrund dafür war, diese Orientreise zu unternehmen. Das hatte etwas mit seinem Versprechen zu tun, die Christen im Osmanischen Reich zu schützen. Dieser Anspruch gründete sich nicht allein auf Prestigedenken; der Mann,
der sich als Oberhaupt der deutschen Protestanten verstand, meinte dies besonders ernst. Wen wundert es aber, daß in den europäischen Hauptstädten nur wenige glauben wollten, der Souverän des deutschen Reiches fahre aus rein evangelischem Antrieb in den Nahen Osten.
     Was immer der Kaiser gedacht und geplant haben mag, in aller Welt wurde nur nach seiner politischen Absicht gefahndet. Denn in jener Zeit waren einige der europäischen Großmächte auf die Frage fixiert, was aus dem Osmanischen Reich nach dem Exitus des »kranken Manns am Bosporus« werden würde.

 

Erlöserkirche im Jahre 1896

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Kaiser Wilhelm II. in der speziell für diese Reise angefertigten Tropenuniform; das Foto wurde vor der Reise in Deutschland aufgenommen

 

Das war vor der letzten Jahrhundertwende die »Orientalische Frage«, und sie bleibt ein wichtiger Schlüssel, um die komplexe Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges zu verstehen. Denn hier tat sich ein Machtvakuum auf, und das mußte gerade jene Mächte provozieren, die bisher schon in der Region engagiert waren.

Politisch und militärisch waren das Frankreich, Rußland und England. In deren Machtgeklüngel fiel nun der Kaiserbesuch. Während nämlich andere schon über weitreichende Herrschaftsgebiete überall in der Welt geboten, hatte Deutschland nur wenig Kolonialbesitz. Und so verstummten trotz der pompösen Kircheneinweihung und all den Segenssprüchen die Zweifel nicht. Das Osmanische Reich – so augenscheinlich vom Verfall bedroht – bot eben gerade zu dieser Zeit das Potential dafür, die neue Geltung Deutschlands in der Welt beachtlich zu vermehren.
     Es ist das Verdienst dieser gut illustrierten Dokumentation über die Reise Wilhelms II., daß festgestellt werden kann: Wilhelm II. hat seine Orientfahrt primär als die Pilgerreise eines evangelischen Christen ins Heilige Land verstanden. Das wird deutlich an der Vorgeschichte, vor allem an dem langen und ausdauernden Interesse, das die Hohenzollern gerade an Jerusalem bekundet haben. Da ist nicht nur die Palästinareise des preußischen Kronprinzen, des späteren Kaisers Friedrich III., im Jahre 1869 zu erwähnen; damals erhielt Preußen den »Muristan«, den Baugrund für die Erlöserkirche, vom türkischen Sultan geschenkt. Da muß vor allem darauf hingewiesen werden, wie sich König Friedrich Wilhelm IV. vor und während seiner Regierungszeit um eine evangelische Präsenz in der Heiligen Stadt bemüht hat. Zusammen mit Karl Friedrich Schinkel wurden damals in Potsdam und Berlin Architekturträume für Jerusalem gesponnen. Und auf die Initiative jenes »Romantikers auf dem preußischen Throne der Cäsaren«, wie David Friedrich Strauß in einer vielbeachteten Streitschrift aus dem Jahr 1847 Friedrich Wilhelm IV. charakterisiert hat, wurde dann im Jahre 1841 als deutsch- englisches Gemeinschaftswerk das protestantische Bistum in Jerusalem gegründet.
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Der Besuch des Kaisers im Herbst 1898 in Jerusalem war also – so würde man es heute wohl sagen – privater Natur. Nur sollte nicht übersehen werden, daß seine politische Nachwirkung beeindruckend blieb. Denn ohne Zweifel war der Kaiser – gewollt oder ungewollt – der »Vorbote einer aktiven deutschen Orientpolitik«, einer Politik, die Deutschlands Industrie und Außenhandel »unermeßliche zukünftige Möglichkeiten« hätte bieten können.
     So überzeugend dieses Buch von Carmel und Eisler die Grundthese über den Charakter der Reise vertritt, so hilfreich ist es, daß dabei auch mit der einen oder anderen Fehlinformation aufgeräumt wird. So wird hier noch einmal auf zwei Ereignisse aufmerksam gemacht, die immer wieder zu Mißverständnissen Anlaß gegeben haben und noch immer geben. Zum einen handelt es sich um das weltbekannte Foto, auf dem Theodor Herzl am Tor der jüdischen Landwirtschaftssiedlung »Mikwe Israel« den Kaiser begrüßt; aber hier mit dem Hinweis, daß es sich um eine Fotomontage, also um eine Kombination aus zwei Originalaufnahmen, handelt. Und daneben wird auf die allseits verbreitete Behauptung verwiesen, daß es der Kaiser war, der den Abriß eines Teils der Stadtmauer von Jerusalem befohlen habe, damit er standesgemäß durch das Jaffa-Tor einreiten könne. Das Gegenteil ist der Fall. Wilhelm II. hat an den Rand eines Berichtes des Auswärtigen Amtes über eine entsprechende Meldung in der französischen Zeitung »Le Gaulois« geschrieben: »Das soll inhibiert werden. Ich hoffe nicht, daß eine solche Barbarei wirklich gemacht wird.« Trotzdem ist die Mauer dann doch, wie von den türkischen Behörden geplant, für den Einzug des Kaisers geöffnet worden.
     Unnötig zu sagen, daß dieser Besuch neben ernsthaften Kommentaren auch Hohn und Spott im Gefolge hatte. Vor allem englische und französische Witzblätter hielten sich mit derben Scherzen nicht gerade zurück. In Deutschland wurde am bekanntesten ein Gedicht von Frank Wedekind im »Simplicissimus«:

Rechnung an das englische Reiseunternehmen Thomas Cook, das die gesamte Reise geplant und organisiert hat

 

Der Menschheit Trost nach Taten läßt sich stillen,
Doch nach Bewunderung ist ihr Durst enorm.
Der du ihr beide Durste zu erfüllen
Vermagst, sei's in der Tropen- Uniform,
Sei es in Seemannstracht, im Purpurkleide,
im Rokoko- Kostüm aus starrer Seide,
Sei es im Jagdrock oder Sportgewand,
Willkommen, teurer Fürst, im heilgen Land.

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Wedekind wurde zu Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung verurteilt.
     Tatsächlich hat der Kaiserbesuch wenig gebracht. Und das Wenige – wie etwa die Bagdad- Bahn – ist ohne wirkliches Resultat geblieben. Für die deutschen Siedler im Heiligen Land – die Mehrzahl von ihnen Pietisten aus Württemberg – und auch für die Zionisten unter der Leitung von Theodor Herzl, die so hohe Erwartungen an diesen Besuch geknüpft hatten, blieb er ohne Folgen. Die Enttäuschung war allgemein. Denn schon bald war allen klar, daß der Kaiser nichts gegen den Willen der türkischen Autoritäten unternehmen würde. Maximilian Harden hat dem zehn Jahre später eine abschließende Wertung gegeben. Er schreibt von der Reise nach Jerusalem, der Bagdadbahn und dem »Kalifenkult«, daß manches hätte vermieden und daß manches »von Männern schlichten Menschenverstandes« hätte besser gemacht werden können. »Das sehen wir in schmerzender Klarheit, wenn die Folge der Ereignisse in reizloser Nüchternheit dargestellt ist.«
Chana C. Schütz

Bildquelle: Der Kaiser reist ins Heilige Land, Verlag W. Kohlhammer

Peter Glaß
Es ist daselbst ein sehr schöner Garten

Der Park am Weißen See
Bezirksamt Weißensee (Hrsg.) AG Verlag, Berlin 1999

Der niedere Barnim, dessen südliche Ausläufer sich bis fast zum Alexanderplatz hinziehen und neben anderen Straßen die Prenzlauer wie die Landsberger Allee zu Bergstrecken machen, hat für die heute von Berliner Bezirken bedeckten Bereiche wie für das weitere Umland stets eine Besonderheit geboten: Im Gegensatz zum Berliner Westen, Nordwesten und Südosten hat es hier seit Jahrhunderten nur Kulturland, jedoch keine nennenswerten Waldungen gegeben. Eine Vorbedingung für intensive landwirtschaftliche Nutzung bis hin zur Rieselwirtschaft, zugleich aber auch ein Hindernis für die Entwicklung von Erholungsgebieten für die sich immer mehr Flächen aneignende und über viele Jahrzehnte, besonders nach 1871, ihre Einwohnerzahl von Jahr zu Jahr steigernde Großstadt. Adel wie Bürgertum – darin eingeschlossen die Kommunen –halfen daher immer wieder der Natur nach. Der Pankower Bürgerpark, der Friedrichshain oder der Schloßpark Friedrichsfelde sind markante Beispiele hierfür. Zu den weniger bekannten gehörte und gehört der heutige Park am Weißen See. Und das, obgleich er auf eine Geschichte von mehr als 250 Jahren zurückblicken läßt und über viele Jahre, damals noch mit dem »Welt- Etablissement Schloß Weißensee« des Rudolf Sternecker, einer der großen Anziehungspunkte für die Berliner war.

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Das Bezirksamt Weißensee hat dieser Tage, weniger im Zusammenhang mit einem Jubiläum denn als Beleg für die in den zurückliegenden Jahren durchgeführten aufwendigen Erneuerungsarbeiten, ein kleines Büchlein vorgelegt, das Interessantes und Wissenswertes nahebringen soll. Mit vielfältigen – neuen wie alten – Texten und zumeist freundlich anzuschauenden – neuen wie alten – Fotos wird der Versuch unternommen, das Bild des Parks, seiner Geschichte, seiner Aufgaben und natürlich seiner Gäste – heute nennt man so etwas Zielgruppe – zu vermitteln. Es ist anzunehmen, daß selbst Weißenseer noch das eine oder andere für sie Neue erfahren können. Alte Fotos und stimmungsvolle Farbaufnahmen aus dem Frühjahr 1999 sind zu einem Heft von 100 Seiten zusammengefügt worden und wären in der Lage gewesen, die in den letzten Jahren recht umfangreich gewordene Weißensee- Literatur zu ergänzen.
     Wenn das nur zum Teil gelang, dann wohl wegen des ein wenig leichtfertigen Umgangs mit den durchaus reichen Quellen an verschiedenen Orten. Das beginnt mit einer Aussage, in der von einem ursprünglichen Waldgebiet die Rede ist. Dabei sieht man an dem Kartenausschnitt auf Seite 24, daß außer dem Park selbst nirgendwo Waldungen zu finden sind. Die komplette Karte des Gebietes zeigt gleiches für das Land zwischen Jungfernheide im Nordwesten und Wuhlheide im Südosten. Um so mehr zu würdigen die Arbeit, die der Gutsbesitzer Nüßler gleich 1745 mit dem Erwerb des Gutes begann und die somit nicht erst 1859 zu einem Park führte.
     Bei der Gründung des Staates Preußen dann geht der Autor selbst über die Historienbeschreibungen des Hauses Hohenzollern hinaus. Bisher war allgemein bekannt, daß erst 1701 aus dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. der erste (selbstgekrönte) König in Preußen, Friedrich I., wurde.
Das Jahr der Belehnung eines Nürnberger Burggrafen aus dem Geschlecht der Zollern mit der Mark Brandenburg jedoch begründet nicht, daß »bis (?) in das Jahr 1415 Weißensee sich darauf berufen (kann), preußisch zu sein », wie uns hier auf Seite 7, mißverständlich dazu, angetragen wird. Und weshalb für ein erst 1927 gebautes Haus (S. 71) geschrieben werden kann: »So kam das Kino über die wilhelminische Prunkzeit«, vermag sicherlich nur der Autor zu erklären. Aber auch an anderer Stelle sind Daten nicht korrekt wiedergegeben. So ist die Karte auf Seite 6 weitaus jünger als angegeben und nicht aus der Zeit des Gemeindebaurates Bühring, der bereits 1915 den Ort verließ. Die Datierung auf 1918 ist somit als gänzlich abwegig abzutun.
     Auch in anderen Fällen ist es notwendig, Diskrepanzen zwischen Text, Abbildung und Datierung zu nennen. Die Rückbenennung der Berliner Allee beispielsweise wurde bereits am 8. August 1990 beschlossen. Ausgeführt wurde sie allerdings dann fast ein Jahr später, am 31. August 1991. Die schon anderswo um mehrere Jahrzehnte auf 1810 vorverlegte Benennung der Königschaussee ist bis heute zeitgenössisch nicht belegt, wird jedoch auch hier wiederholt. Auf Seite 15 wird scherzhaft »begründet«, warum das Seebad erst 1912 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Tatsächlich aber war es bis nach der 1898 erfolgten Schließung bereits am 19. 4. 1899 »nach vollständigem Umbau« wieder eröffnet und seither immer betrieben worden. Und als kommunale Einrichtung nicht erst ab 1925, sondern auch schon 1912 nach Abriß der alten verschlissenen Anlagen und einem völligen Neubau. Auch die Geschichte des Milchhäuschens wird mit Fragen versehen, wo frühere Publikationen des Stadtgeschichtlichen Museums längst begründete Auskünfte gegeben haben.
     Und einem aufmerksamen Leser wird auffallen, daß auf Seite 75 die – nur unvollständig erfolgten – Wiedergaben zu Orts- und Gewässernamen von Seite 29 quasi wieder aufgehoben werden.
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   122   Berichte und Rezensionen   Vorige SeiteNächste Seite
Erstmalig wird nach mehr als 60 Jahren wieder etwas über die früheren Denkmäler im Park berichtet. Jedoch auch das bedauerlicherweise nur lückenhaft oder mit Ungenauigkeiten. So wurde Kaiser Wilhelm I. sehr wohl auf dem gleichen Sockel, der ihn am Antonplatz trug, im Park wiedererrichtet. Und es wäre doch auch für die Leser interessant gewesen, etwas über die Gründe für die Odyssee des Luisendenkmals zwischen 1909 und dem wirklichen Zeitpunkt der Enthüllung im Jahre 1934 zu erfahren. Der Rezensent muß auch sein Unverständnis darüber ausdrücken, daß in einer Publikation, verantwortet von einer demokratischen Verwaltung in der Bundesrepublik, die Machtergreifung der Nationalsozialisten als »nationale Erhebung« bezeichnet wird. (S. 60)
     Es scheint, daß die für eine solche Publikation unerläßliche fleißige Recherchearbeit unter einem eigentlich nicht erklärbaren Zeitdruck gelitten hat. Zu bemängeln ist ferner, daß Quellenangaben spärlich verteilt wurden und es offenbar das als Unterstützer genannte Stadtgeschichtliche Museum versäumt hat, im Interesse seiner eigenen Archivbestände und Publikationen Einfluß darauf zu nehmen. Und: Der Bezirksstadtrat als Herausgeber hat möglicherweise das Foto auf Seite 68 übersehen. Es dürfte nicht in seinem Sinne gewesen sein, in einem von seiner Behörde verantworteten Buch Radfahrer auf der mit hohem finanziellen Aufwand wiederhergestellten Kinderplansche zu sehen, wo doch ein Verbotsschild das Radfahren untersagt.
     Mehr Sorgfalt und gewissenhaftere Quellenstudien hätten also dieser Publikation – bereits die vierte des Verlages in der »Barnimer Reihe« mit Weißenseer Themen – gut zu Gesicht gestanden. So bleiben ein wenig Unzufriedenheit, aber auch die Hoffnung, daß künftige, besser recherchierte Publikationen des Verlages sich mit Weißensee befassen.
Joachim Bennewitz
Michael S. Cullen
Der Reichstag

Im Spannungsfeld deutscher Geschichte
be.bra Verlag, Berlin- Brandenburg 1999

Zur spektakulären Reichstags- Verhüllungsaktion von Christo und Jeanne-Claude 1995 ist dieser Band bereits erschienen. Es handelt sich dabei um eine populäre Kurzfassung des umfangreichen wissenschaftlichen Werkes desselben Autors, das zur Verwirrung der Leser im selben Verlag unter demselben Haupttitel (aber anderem Untertitel) ebenfalls 1999 erschien. Sein Titel: Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol. Er wurde nun, zum Einzug des Bundestages in das umgebaute und mit einer neuen Kuppel gekrönte Gebäude im September 1999, als Sonderausgabe in deutscher, englischer und französischer Sprache neu vorgelegt. Die erkennbare Aktualisierung hält sich in den Grenzen, die sich aus den knappen Proportionen der Erstveröffentlichung ergeben. Das wahrscheinliche Interesse einer zunehmenden Zahl von Berlin- Touristen, die zum neuen Reichstag pilgern, dürfte für die Wiederauflage der Anlaß sein. Dieser Dienst am Publikum ist höher zu bewerten als kommerzielle Gesichtspunkte, die bekanntlich bei fast jeder Publikation die ausschlaggebende Rolle spielen, mag das Werk gut oder schlecht sein. Dies hier ist eine gute Gabe für historisch interessierte Berliner und Berlin- Besucher.
     Das ansprechend gestaltete Büchlein – im großen Format 17 x 24 cm – kann sehr empfohlen werden: Es ist lesbar, bildet und unterhält in einem, zeugt von Sachkunde des Autors. Michael S. Cullen, gebürtiger New Yorker des Jahrgangs 1939, lebt seit 1964 in Berlin, beschäftigt sich seither mit der Historie des Reichstages, vornehmlich des Gebäudes, das von der parlamentarischen Institution kaum zu trennen ist.

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Cullen, bereits durch Publikationen zur Baugeschichte des Hauses ausgewiesen, hat in der Expertenkommission zum Umbauwettbewerb mitgewirkt und war an der Realisierung des Christo- Projekts beteiligt, das er nach eigenem Bekunden 1971 »per Postkarte« an die Verhüllungskünstler angeregt hat. Kein Amerikaner in Berlin, sondern wohl schon ein Berliner aus Amerika. Vielleicht gefiele ihm der Titel »Mr. Reichstag«, obwohl er ja strikt gegen jeden mit dem Reichstag verbundenen Mythos ist.
     Insgesamt 18 kurze Kapitel bieten eine erstaunliche Fülle von erfahrenswerten Einzelheiten, Begebenheiten, Hintergrundinformationen, chronologisch geordnet, beginnend mit dem eindeutig zu hoch gestochenen Titel »Parlament und Parlamentarismus in Europa« auf zwei Druckseiten, zurückreichend bis ins 17. Jahrhundert und endend im Schlußkapitel »Von 1989 bis zur >Berliner Republik<« mit der Frage, was nun – nach Wallots Reichstag – von Fosters Reichstag zu halten ist. Die Antwort überläßt der Autor klüglich dem Lauf der Zeit, wie ihn überhaupt auszeichnet, daß er keine feststehenden Urteile und unumstößlichen Wahrheiten verkündet. Cullen bietet dem Leser Mitteilungen an, und darin ist er angenehm amerikanisch geblieben.
     Es handelt sich, wie es im Vorwort heißt, um »eine kurzgefaßte und prägnante Baugeschichte des Reichstagsgebäudes«. Darauf konzentrieren sich auch die Literaturhinweise. »Daß die Politik, die in diesem Gebäude stattgefunden hat (und in Zukunft stattfindet), gestreift wird, versteht sich von selbst.« Eine politische Geschichte des Reichstags »bleibt noch zu schreiben«, fügt der Autor hinzu. Das deutet auf die Absicht hin, die tatsächlich bereits vorhandenen Publikationen um eine eigene Sicht zu ergänzen.
Angenehm fällt die Zurückhaltung auf, mit der Cullen politisch strittige Fragen auch neuesten Datums behandelt, der Begriff Understatement scheint angebracht. Manches steht zwischen den Zeilen. Dennoch macht der Autor aus seinen Ansichten kein Hehl, etwa in der Frage der Täterschaft der Brandstiftung vom 27. Februar 1933, also der indirekten Täterschaft durch Anstiftung, oder der Graffiti der Rotarmisten von Mai 1945 an Wänden des Hauses oder des lächerlichen Streits um den Namen für das neue alte »Plenargebäude«. Gekonnt wird die Animosität zwischen Kaiser Wilhelm II. und dem Architekten Wallot mit wenigen Worten skizziert, und auch hier läßt Cullen nur durch seine Diktion erkennen, was er von S.M. hält.
     Vereinzelt ist dem Autor die Adaption der deutschen Sprache nicht ganz gelungen, beispielsweise bei der Bemerkung, das Reichstagsgebäude »fristete« im Nazireich »einen Dornröschenschlaf« (S. 54). Der Druckfehler auf Seite 6 hätte sich durch einen zweiten Blick vermeiden lassen. Die 40 Illustrationen – insbesondere die Reproduktionen historischer Vorlagen sind drucktechnisch von hoher Qualität – bereichern den Band außerordentlich.
Karl-Heinz Arnold
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© Edition Luisenstadt, 1999
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