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Wolfgang W. Timmler
Geschichtsstunde im Museum

Zehn Jahre Heimatmuseum Wedding

Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Geschichte ist auch nicht die Erinnerung. Geschichte ist das, was in den Geschichtsbüchern steht. Geschichte läßt uns früher und heute verstehen, lernt Ayshe in der Schule. Sie geht in die fünfte Klasse und hat Geschichte als neues Fach. Heute steht ein Besuch im Heimatmuseum auf dem Stundenplan. Die Museumsräume sind klein und können nicht alle Schüler auf einmal fassen. Die Klasse muß geteilt werden. Ein freundlicher alter Herr führt die Mädchen in eine Altberliner Wohnstube, während sein Kollege, ein pensionierter Lehrer, mit den Jungen in das historische Klassenzimmer geht. Beide machen die Museumsführungen ehrenamtlich, für ein Dankeschön.
     »Dieses Museum ist ebenso arm wie die Bezirksverwaltung, aber man will ja nun als Rentner nicht einrosten«, erzählt der alte Herr. »Man ist hier groß geworden, zur Schule gegangen, hat hier gelernt und auch sein ganzes Leben, bis auf Kriegszeit, verbracht. Man kann also vieles über den Wedding erzählen, aber manches ist schon verlorengegangen,

weil die kleinen grauen Zellen eingetrocknet sind.«
     Die Wohnstube ist mit alten Möbeln vollgestellt und erinnert nicht von ungefähr an den Trödelladen um die Ecke. »Das war die Wohnung des Oberlehrers dieser Schule, also des Rektors, wie man heute sagt, aber es standen andere Möbel drin«, erklärt der alte Herr. »Diese Möbel sind rein zufällig angeschafft worden oder wurden dem Museum geschenkt.«
     Nachdem sich jede Schülerin einen Klappstuhl geholt hat, beginnt die Geschichtsstunde. Mit lauter Stimme versucht der alte Herr zu beschreiben, wie die Menschen früher gelebt haben. »Was ist früher?« fragt er. »Ist heute früher?« Die Mädchen lachen. »Ist morgen früher?« Die Mädchen schütteln die Köpfe. »Aber früher war vor zwanzig Jahren, vor fünfzig Jahren, vor hundert Jahren«, fährt er fort. »Und in dieser Wohnung zeigen wir in etwa, wie die Leute vor etwa hundert Jahren, vielleicht noch vor achtzig Jahren gelebt haben. Dieser alte Ofen ist zum Beispiel hundert Jahre alt.« Die Mädchenaugen telegrafieren Zweifel. »Früher haben die Frauen und Mütter selbst genäht. Was ist das?« Der alte Herr deutet auf ein gußeisernes Ungetüm, das halb Tier, halb Tisch ist.
     »Eine Nähmaschine«, sagt Ayshe. »Eine Nähmaschine?« fragt der ältere Herr zurück. »Ja, meine Mutter hat eine«, antwortet Ayshe. »So eine alte?« Ayshe schüttelt den Kopf. »Eine moderne?« Ayshe nickt.
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Das Heimatmuseum Wedding in der Pankstraße 47
»Eine neuere, jawohl«, betont der alte Herr. »Früher haben die Leute viel selbst genäht und geflickt, und jede Mutter hatte so eine Nähmaschine. In diesem Raum zeigen wir, wie die Leute früher gelebt und gewohnt haben. Früher gab es in den Wohnungen kein Bad. Die Leute hatten einen Krug wie den da und eine Schüssel wie die da hinten. Die Leute haben in den Krug Wasser getan, das Wasser in die Schüssel gegossen und sich dann gewaschen. Früher hatte man ganz andere Möbel, zum Beispiel diese Chaiselongue, die Kopfliege. Und die Leute hatten manches, was es heute nicht mehr gibt, zum Beispiel Kohleöfen. Jetzt hat man Zentralheizung oder Fernheizung.« Ayshe hebt die Hand. »Es gibt immer weniger Kohleöfen, immer weniger alte Wohnungen mit Kohleöfen. So, jetzt bist du dran.« Die Wangen des Mädchen färben sich rot. »Wir haben aber zu Hause einen Kachelofen«, wirft sie ein. »Ja, in manchen Häusern gibt es noch Öfen«, entgegnet der alte Herr. »Aber diese Häuser werden immer weniger, weil man sie erstens erneuert oder zweitens abreißt und durch neue Häuser ersetzt. Es gibt nur noch ganz wenige Häuser mit Kohleöfen im Wedding.«
     In Berlin gibt es gegenwärtig dreiundzwanzig regionale Museen, die sich der Erforschung und Darstellung der Geschichte eines Bezirkes widmen. Das Heimatmuseum
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Wedding zählt zu den jüngeren Einrichtungen. Es wurde am 9. September 1989 in einem ehemaligen Schulgebäude in der Pankstraße 47 eröffnet. Schräg gegenüber, in der Pankstraße 54, befindet sich heute der Türkisch- Deutschsprachige Kabelsender »TD 1«. Das Sendegebäude gleicht seit Februar 1999, als der Führer der kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in Kenia verhaftet wurde, einer belagerten Festung. Nordöstlich davon, in der Badstraße 50/51, liegt die Evangelische Pfarrkirche St. Paul, eine der vier Vorstadtkirchen, die Karl Friedrich Schinkel erbaut hat.
     Das Museumsgebäude in der Pankstraße 47 steht auf einem ehemaligen Grundstück der St.-Paul- Kirchengemeinde, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Magistrat der Stadt Berlin das Gelände zum Bau einer Gemeindeschule überließ. Errichtet wurde das dreigeschossige Schulgebäude von einem Bau- und Betriebsinspektor der königlichen Eisenbahn- Direktion namens Petersen, über den nichts Näheres bekannt ist. Am 9. April 1866, eine Woche nach Ostern, wurde der Lehrbetrieb in der 32. Gemeindeschule aufgenommen. Bis 1986 diente das Gebäude in der Pankstraße 47 als Schule. Zuletzt beherbergte es die Filiale der Poelzig- Oberschule, eine Berufsschule für das Baunebengewerbe, in der angehende Installateure und Schornsteinfeger ausgebildet wurden. 1979 wurde das älteste
noch erhaltene Schulgebäude im Bezirk unter Denkmalschutz gestellt und 1988 grundlegend renoviert. Im Jahr darauf zog das Heimatmuseum Wedding ein.
     Das Museum ist aus dem 1952 gegründeten Heimatarchiv hervorgegangen, das sich die Erforschung und Dokumentation der Geschichte des Weddings zum Ziel gesetzt hatte. Unterstützt wurde die Einrichtung durch den Weddinger Heimatverein (Verein für Weddinger Geschichte e. V.), der durch Sachspenden und den Ankauf von Ausstellungsstücken zum Aufbau des Museums beitrug.
     Zum Aufgabenbereich des Weddinger Heimatmuseums gehört das Sammeln, Pflegen und Ausstellen von Arbeitsgeräten, Möbeln, Textilien, das Erforschen und Weiterführen der Chronik und die Aufarbeitung und Erschließung von Text- und Bildquellen zur Bezirksgeschichte. Die Darstellung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Bezirk bildet den Schwerpunkt der ständigen Ausstellung im Heimatmuseum.
     Im Hochparterre zeigt ein Musterhaushalt mit Küche, Waschküche, Mangelstube, Wohn- und Schlafstube die kleinbürgerlichen Wohnverhältnisse zwischen 1920 und 1925. An die autoritäre Schulerziehung dieser Zeit erinnert ein historisch rekonstruiertes Klassenzimmer mit Schiefertafel, Lehrerpult und Rohrstock. In der Museumsgalerie schildert eine kleine Ausstellung mit Werken von Otto Nagel, Curt Mühlenhaupt und
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Robert Liebknecht, wie Berliner Künstler den Wedding gesehen haben. Andere Ausstellungsstücke beschwören die jüngere deutsche Geschichte. Im Sprachführer für Soldaten der ehemaligen französischen Schutzmacht und im Mauersegment aus der Bernauer Straße lebt die Erinnerung an die einstmals geteilte Stadt wieder auf. »Wenn wir diese Dinge verlieren, sind wir zwar nicht der Geschichte beraubt, aber ihr Verlust würde uns insofern schmerzen, als sie die Vergangenheit verkörpern, wobei es ganz unwesentlich ist, wie sie ans Museum gelangt sind. Wichtig ist nur, daß man sie zeigen kann. Es gibt diese Dinge noch, obwohl ihre Zeit längst abgelaufen ist. Im historischen Klassenzimmer

Mauersegment auf dem Hof des Heimatmuseums Wedding

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hatten wir einen Rohrstock, um den Kindern zu zeigen, wie Schule früher war«, weiß der alte Herr zu berichten. »Der wurde uns geklaut. Wir haben inzwischen zwar so etwas ähnliches, die Kinder erkennen da keinen großen Unterschied, einen Stock aus Bambus. Der ist natürlich nicht mehr der alte Rohrstock, der so gepfiffen hat, wenn der Lehrer ... pff ..., aber es ist ja hier nicht viel Wertvolles zu holen, bis auf die Bilder. Aber wer kann so ein großes Bild unter den Arm nehmen und wegtragen? Wir glauben noch an das Gute des Menschen, bis wieder mal was wegkommt.«

Heimatmuseum Wedding, Pankstraße 47, 13357 Berlin,
Telefon: (030) 45754158.
Öffnungszeiten: Dienstag/ Mittwoch 10–16 Uhr,
Donnerstag 12–18 Uhr,
Sonntag 11–17 Uhr.

Literatur:
–     Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler – Berlin, München- Berlin 1994
–     Heimatmuseum Wedding (Hrsg.), Vom Schulgebäude zum Museum, Berlin o. J. (Faltblatt)
–     Gabriele Lang, Museum im Aufbau – Heimatmuseum Wedding, in: Bezirksamt Wedding (Hrsg.), Alter Wedding – neue Kultur – Wie ein Traditionsstandort der Arbeiterkultur zum modernen Umschlagplatz der Stadtkultur wird, Berlin 1990, Seite 41 f. (Reihe: Weddinger Texte zur Stadtkultur – Band 1)
–     Christiane Seghers- Glocke, Karl Friedrich Schinkel – Die einstigen Berliner Vorstadtkirchen St.-Johannes, Nazareth, St.-Elisabeth und St.-Paul, Berlin 1981

–     Christiane Theiselmann, Stadtgeschichte neu erlebt – Was es in den Berliner Heimatmuseen zu entdecken gibt, Berlin 1997
–     Marion Melk-Koch, Schulen im Wedding 1821–1995 – Materialien zur Schulgeschichte des Bezirks Wedding von Berlin, Berlin 1995
–     Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berliner Heimatmuseen – Zwölf Wege in die Stadtgeschichte (Berliner Sehenswürdigkeiten 5), Berlin 1989
–     Helmut Wolff: Ein Jahr Heimatmuseum Wedding in der Pankstraße 47. In: Jahrbuch des Weddinger Heimatvereins 1991. Berlin 1992. Seite 74–76.

Bildquelle: Fotos Autor

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© Edition Luisenstadt, 1999
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