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Bernhard Meyer
Von der Fachwelt ignoriert

Der Arzt Carl Ludwig Schleich (1859–1922)

Sein Vater, selbst angesehener Arzt in Stettin, drängte den am 19. Juli 1859 geborenen Sohn, ebenfalls ein Jünger Äskulaps zu werden. Carl Ludwig aber fühlte sich nicht unbedingt zu dieser Profession hingezogen, da er noch andere Talente in sich wähnte: Schreiben, Malen und vor allem Musizieren. Er gab dem Drängen des Vaters nach und studierte Medizin in Zürich, Greifswald und Berlin, ohne von der zeitaufwendigen Pflege seiner anderen Talente je abzulassen. Seine besondere Liebe zur Musik – er hatte eine ausgeprägte Liedstimme und spielte hervorragend Violoncello – überstrahlte immer wieder sein ärztliches Engagement. Er hielt sich stets auf einem hohen musikalischen Niveau, was seine Attraktivität für die Berliner Salons um die Jahrhundertwende noch erheblich steigerte. Namentlich für den »schillernden Salon« der Baronin Berta von Arnswaldt (1850–1919), ein »Bund von Geistigkeit und Kunst«, wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb, wo auch Leo Blech (1871–1958), Walther


Carl Ludwig Schleich

Rathenau (1867–1922), Hermann Sudermann (1857–1928) und Ernst Rowohlt (1887–1960) verkehrten. In der Medizin wollte er es zu Höherem bringen, zumal sein Vater ihm durch seine Duzfreundschaft mit Rudolf Virchow (1821–1902) und Albrecht von Graefe (1828–1870) den Weg ebnete. An der Charité konnte er als Student und junger Assistent

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vor allem Virchow, Friedrich Theodor von Frerichs (1819–1885), Bernhard von Langenbeck (1818–1887) und Ernst von Bergmann (1836–1907) zu seinen Lehrern zählen. Dennoch verließ er die Charité, um sich am Krankenhaus in Lichterfelde bei Berlin und in seiner Privatklinik Sporen zu verdienen, mit denen er eines Tages als gefragter Wissenschaftler an die Alma mater zurückzukehren gedachte.
     Diese Strategie schien glänzend aufzugehen, denn 1894 meldete er für den Chirurgischen Kongreß in Berlin einen Vortrag an, in dem er die Infiltrationsanästhesie vorstellen wollte. Es ärgerte ihn schon seit längerem, daß selbst für kleinere Eingriffe immer eine Vollnarkose mit dem Risiko des Narkosetodes gegeben wurde. Die Lokalanästhesie steckte noch in den Anfängen. So beschäftigte er sich intensiv mit der Narkotisierung von Nervenbahnen und entwickelte daraus die Lokalnarkose durch gezielte Infiltration.
     Über diese medizinische Entdeckung berichtete Schleich den versammelten 800 Chirurgen – und erlitt eine ihn tief erschütternde Niederlage. Die Chirurgen hielten seinen Vortrag ohne Nachprüfung für wissenschaftlichen Unfug. Höhepunkt der Demütigung für Schleich war eine vom Tagungspräsidenten Heinrich Adolf von Bardeleben (1819–1895) veranlaßte Abstimmung mit der Frage, »Ist jemand von der Wahrheit dessen, was uns hier eben entgegengeschleudert worden ist, überzeugt?
Dann bitte ich, die Hand zu heben.« Die deutsche Chirurgie lehnte per Votum ohne Gegenstimme die Lokalnarkotisierung ab. Einen solchen Vorgang, nämlich über die Richtigkeit bzw. Anwendungsfähigkeit einer neuen wissenschaftlichen Methode abstimmen zu lassen, hatte es bis dato in der deutschen Medizin noch nicht gegeben.
     Angesichts des allgemeinen Boykotts bezeichntete sich Carl Ludwig Schleich als »gefallenen chirurgischen Engel«. Dabei hätte sich jeder Tagungsteilnehmer vom Nutzen der lokalen Betäubung in seiner 1889 gegründeten Privatklinik für Chirurgie und Gynäkologie am Belle-Alliance- Platz überzeugen können. Niemand hielt es für erforderlich, dem Gerede eines Privatarztes »außerhalb der Hochburg der Großsiegelbewahrer der Wissenschaft«, so der Arzt in seinen Erinnerungen, die notwendige Achtung entgegenzubringen. Sein Manuskript »Über schmerzlose Operationen« für alle Körperregionen fand vorerst keinen Verleger, ehe es von der J. Springerschen Verlagsbuchhandlung herausgebracht wurde. Für den 35jährigen Schleich rückte durch diesen Vorgang die Universitätslaufbahn in weite Ferne. Es sollte noch bis 1904 dauern, ehe sich der Breslauer Chirurgieordinarius Mikulicz- Radetzky (1850–1905) zur Lokalanästhesie bekannte und über zahlreiche schmerzfreie Operationen nach dem Verfahren Schleich auf der Chirurgenkonferenz berichtete. Angemerkt sei, daß Schleich von
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     Da sich die private Klinik rentierte, sein Ruf als Operateur gefestigt war und er hier weitere medizinische Neuerungen schuf und propagierte, war er es zufrieden und schlug später sogar ein Angebot von Ministerialdirektor Althoff (1839–1908) für einen kleineren Lehrstuhl weit weg von Berlin aus. Die Ignoranz der Fachwelt führte ihn noch enger zur Kunst. Schon in Zürich war er mit Gottfried Keller (1819–1890) in engen Kontakt gekommen, dem sich Anfang der 90er Jahre eine lebenslange Freundschaft mit dem schwedischen Schriftsteller und Dramatiker August Strindberg (1849–1912) anschloß. Durch den älteren und erfahrenen Strindberg, in dem Schleich »die bedeutendste Persönlichkeit und den größten Kämpfer um den Sinn dieses Lebens« sah, dem er je begegnete, kam er mit philosophischen Fragestellungen enger in Berührung. Da Strindberg auch mit »erstaunlichem Wissen« in Chemie, Botanik und in der Sternkunde aufwarten konnte, waren die Voraussetzungen gegeben, in einen regen Gedankenaustausch mit dem eher mystisch denkenden und schreibenden Schweden, »dem müden Pilger nach Erkenntnis und ein bißchen Glück«, zu treten.
     Bei aller Verehrung für Strindberg, folgte er ihm in der philosophischen Interpretation der Welt nicht. Der Mensch galt ihm als ein Wunderwerk der Schöpfung.
Schleich begründete keine neue philosophische Richtung; er nutzte vielmehr naturwissenschaftliche Kenntnisse, um vorwiegend althergebrachte Auffassungen von der Entstehung des Universums, des menschlichen Lebens, der Funktion und dem Sitz der Seele im Menschen zu belegen. In dieser Weise bediente er jenseits seines 50. Lebensjahres eine konservative Philosophie. So lehnte er den Materialismus ab, da er in den Naturwissenschaften absolut keine Stützen für ihn ausmachen konnte.
     Die philosophischen und psychologischen Arbeiten beherrschten viele Jahre sein »ganzes Interesse«. So widmete er in seinen Schriften immer wieder dem Krankheitsbegriff, der Zelle, dem Unterbewußtsein, dem Schmerz und der Hysterie Aufmerksamkeit. Er hielt dazu öffentliche Vorträge in vollen Sälen mit Hörern aller Fakultäten, »so daß ich mir gleichsam den freien Lehrstuhl geschaffen habe, den das Schicksal und das Ministerium mir vorenthalten« haben. So führte er ein, wie er es nannte, »faustisches« Leben neben dem offiziellen akademischen Leben. Verheiratet mit seiner Stettiner Schulfreundin Hedwig Oelschlaeger, bis zuletzt ärztlicher Chef in seiner Privatklinik, vom akademischen Leben ignoriert und mit seinen philosophischen Traktaten nur wenige inner- und außerhalb der Medizin erreichend, starb Schleich am 7. März 1922 in Berlin.

Bildquelle: Archiv Autor

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