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Dr. Plumeyer
Arbeitsvermittlung für die geistigen Berufe

Die geistige Schicht des deutschen Volkes befindet sich schon seit längerer Zeit in großer Not. Durch die schwere wirtschaftliche Krisis, die wir durchmachen, hat sich die Notlage noch weiterhin sehr erheblich verschlimmert. Ohne gewerblichen Mittelstand aber, und insbesondere ohne die Kreise der Intelligenz, haben wir niemals auf einen Wiederaufbau zu rechnen; denn nur durch Qualitätsarbeiten können wir uns auf den einheimischen und ausländischen Märkten der Konkurrenz gegenüber behaupten. Ein Teil der geistigen Arbeiter wird stets Beschäftigung finden. Es kommt aber darauf an, daß alle untergebracht werden, weil sonst die Beschäftigungslosen um jeden Preis etwas suchen müssen und dadurch die allgemeinen Arbeitsbedingungen sich noch weiter verschlechtern und weil sie unwiederbringlich verloren gehen und trotz aller früher aufgewandten erheblichen Mittel der Allgemeinheit fehlen, wenn sie ihrer später noch einmal bedarf.
     Bis heut ist für die geistigen Schichten leider so gut wie noch nichts geschehen.

Es gibt einige wenige Organisationen, die für ihre Mitglieder Vortreffliches geleistet haben. Aber das ist doch immer nur ein sehr begrenzter Teil, und die öffentlichen Arbeitsnachweise versagen so gut wie ganz. Tatsächlich betrachten sie es nicht als ihre Aufgabe, für die geistigen Berufe in nennenswertem Umfang zu sorgen. Wir haben in Berlin eine Abteilung für kaufmännische und technische Angestellte, die in einer Unterabteilung sich auch mit den geistigen Berufen befaßt, allein sie ist nur von ganz untergeordneter Bedeutung.
     Ein sehr wesentliches Hilfsmittel wäre eine Fachabteilung für die Arbeitsvermittlung für die Angehörigen der geistigen Berufe. Das Reichsarbeitsnachweisgesetz fordert sie geradezu für Berufsgruppen. Die Reichsarbeitsverwaltung, die Landesämter, Unternehmerverbände und gewisse Organisationen stehen heute dem Gedanken einer Fachabteilung bereits sympathisch gegenüber. Es ist damit zu rechnen, daß sie kommt, wenn die geistigen Arbeiter, denen ja gerade geholfen werden soll, nicht wegen vermeintlicher Sonderinteressen einzelner Gruppen Schwierigkeiten machen.
     Eine solche Fachabteilung hätte die verschiedensten Aufgaben zu erfüllen. Sie soll Arbeit vermitteln, also vorhandene Arbeitsgelegenheiten sammeln und Suchenden mitteilen. Listen mit Stellen sind bei bestimmt qualifizierten geistigen Arbeitern auszulegen, im übrigen aber sind die Bewerber je
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nach ihrer Vorbildung vorzuschlagen. Sie soll neue Arbeitsgelegenheiten schaffen. Gerade dieser Punkt wird eine besondere Rolle spielen.
     Neue Berufe werden gefunden werden müssen, nichtqualifizierte Arbeiter müssen tunlichst durch qualifizierte ersetzt werden. Notstandsarbeiten müssen eingerichtet werden. Sie sind insofern für die geistigen Arbeiter ein noch viel größeres Bedürfnis als diese ihr geistiges Vermögen leicht verlieren können, wenn sie längere Zeit der geistigen Arbeit entwöhnt werden, zumal sie fast alle sehr unter dem Kriege gelitten haben und gealtert sind.
     Erhebliche Mittel, die der Staat und der einzelne zur Ausbildung aufgewandt haben, waren unnütz vertan in einer Zeit, wo es gerade darauf ankommt, früher angelegte Gelder möglichst viele Früchte tragen zu lassen.
     Die Fachabteilung soll auch in anderer Weise bei der Durchführung von gesetzlichen Unterstützungsmaßnahmen für arbeitslose Angehörige geistiger Berufe mitwirken.
     Nach der Verordnung von 1921 war die Erwerbslosenfürsorge auch den Angehörigen geistiger Berufe zugänglich. Nach der Verordnung von 1924 können sie nur solche Personen erhalten, die nach der Reichsversicherungsordnung (und dem Reichsknappschaftsgesetz) gegen Krankheit versichert sind. Zu diesen gehören aber nur außerordentlich wenige Angehörige der geistigen Berufe.
Die geistigen Arbeiter sind nicht gegen Erwerbslosigkeit versichert.
     Die Fachabteilung soll ferner berufsberatend wirken, und zwar sowohl für den Nachwuchs, als auch für diejenigen geistigen Arbeiter, die sich heute umstellen müssen.
     Es gibt zwar akademische Auskunftsämter an der Universität für die Studenten, es gibt eine Reihe von Schriften, die immer sehr schnell veralten, aber es gibt kaum eine Berufsberatung für die Angehörigen der geistigen Berufe. Das ist ebenfalls eine außerordentliche Lücke, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.
     Die Berufsberatung besteht darin, daß man einmal alles Material über das Ausbildungswesen sammelt (z. B. Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten, der privaten Hochschulen, Anzeigen sonstiger Einrichtungen, Promotionsordnungen, Stipendienwesen usw.), die Sammlungen auf dem laufenden erhält und das Gesammelte dem Suchenden mitteilt.
     Aber darauf darf sich unter keinen Umständen die Berufsberatung beschränken. Sie muß den einzelnen auf seine Anlagen hin prüfen und ihn dementsprechend individuell beraten. Es sei nur auf die vortrefflichen Ergebnisse der psychotechnischen Eignungsprüfungen hingewiesen. Wie viele, die einen geistigen Beruf ergreifen wollen, versuchen es aufs Geratewohl auf völlig unbekanntem Gelände. Die Fachabteilung
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muß auch in der Lage sein, die bestehenden Unterrichtsanstalten auf besondere Bedürfnisse hinzuweisen. Sie muß industrielle Kreise dafür gewinnen, Ausbildungskurse auf Gebieten, die der Industrie besonders wichtig erscheinen, einzurichten. Und endlich sollte die Fachabteilung auch bei der Regelung der Arbeitsbedingungen gehört werden.
     Man soll nicht einwenden, die Fachabteilung sei eine Behörde, die Freiheit der Behörde werde dadurch zu sehr beschränkt. Einmal liegt der entscheidende Einfluß im Fachausschuß, in den nur die geistigen Arbeiter, nicht auch andere Arbeiter ihre Vertreter entsenden. (Im Verwaltungsausschuß des Landesamtes und der öffentlichen Arbeitsnachweise sind heute die geistigen Arbeiter nur in einem verschwindend geringem Umfange vertreten, sie haben nichts zu sagen.) Damit kann die behördliche Fachabteilung bei ordentlicher Vertretung der Verbände sehr wohl faktisch eine eigene Einrichtung der geistigen Arbeiter werden.
     Der Leiter sollte nur für die geistigen Berufe wirken. Dann aber ist doch eine behördliche Fachabteilung mit etwaigen Mängeln immer noch besser als nichts, als Einrichtungen, die nur für sehr kleine Kreise in Frage kommen.
Es wird abzuwarten sein, ob die Verbände oder ein Teil von ihnen einen Antrag beim Landesamt Berlin stellen wird, eine Fachabteilung beim Landesarbeitsamt Berlin für die Angehörigen der geistigen Berufe zu gründen. Dieser Weg wird von der Reichsarbeitsverwaltung befürwortet. Auch an eine Fachabteilung beim Reichsamt für Arbeitsvermittlung wäre zu denken.

Aus: »Berliner Lokal-Anzeiger«,
Montag, 20. Oktober 1924

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