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Eckart Elsner
Berlin ist doch ein Dorf

An einem Sonntag war es soweit. Berliner waren gekommen, um sich Berlin von Berlinern zeigen zu lassen. Kurz vor Beginn der Statistischen Woche in Lübeck trafen sich Statistiker aus Berlin einerseits mit Berliner Kollegen andererseits.
     Schwer zu verstehen? Man besichtigte vom Kurfürstendamm ausgehend zu Fuß Lichterfelde, die Heerstraße, die Harbigstraße, die Potsdamer Straße, die Uhlandstraße, man sah die Wilmersdorfer Straße, die Zeltenallee, den Potsdamer Platz und den Berliner Kunsthof, schlenderte Unter den Linden entlang. Nicht zu finden war allerdings das Brandenburger Tor. Verwirrend? Die Einkaufsmöglichkeiten innerhalb Berlins waren sehr begrenzt, es gab vergleichsweise wenige Geschäfte in Berlin. Dann kehrte man gemeinsam zurück zu einem Glas Wein. Es ging jetzt um den Alltag der Berliner Statistik und die Aufgaben der Statistik bei der gerade beendeten Wahl, die Deutschland einen neuen Kanzler und Berlin einen neuen Bürgermeister beschert hatte.
     Die Gastgeber erzählten, daß sie, obwohl sie neben den statistischen Arbeiten für Berlin zusätzlich noch die statistischen Aufgaben

der umliegenden Ortschaften zu erfüllen hätten, damit aber keineswegs ausgelastet seien. Sie hätten deshalb außer den statistischen Arbeiten noch zahlreiche andere Aufgaben zu erfüllen. Und daß die von ihnen bearbeiteten Berliner Statistiken häufig landwirtschaftliche Themen beträfen. Sie erfüllten diesbezüglich Aufträge des Statistischen Landesamtes Schleswig- Holstein.
     Mißtrauisch? Es stimmt durchaus, daß die Berliner die Landwirtschaftsstatistiken für bedeutsam halten, doch ein neuer Bürgermeister?
     Hier ist die Lösung: Berlin ist nicht nur deutsche Hauptstadt, Berlin ist auch ein recht hübsches norddeutsches Dorf mit fünf landwirtschaftlichen Betrieben in der Nähe von Lübeck (23823 Seedorf- Berlin).1) Es wurde 1215 urkundlich erstmals erwähnt, es ist somit zumindest von der Aktenlage her älter als die deutsche Hauptstadt. Der Ort hatte am 31. Dezember 1998 insgesamt 522 Einwohner. 146 Haushalte waren bei der letzten Zählung registriert worden. Die Gemeinde Seedorf kam mit dem Ortsteil Berlin 1970 zu dem 1888 gegründeten Amtsbezirk Wensin in der ehemals preußischen Provinz Schleswig- Holstein. Auch das kleine Berlin war also einmal preußisch gewesen. Elf der siebzehn Straßen haben seit mehr als 100 Jahren Namen, die den Bewohnern der Hauptstadt sehr vertraut klingen. Benannt von Einwohnern, die zur Kaiserzeit in Berliner Regimentern gedient hatten. Man wohnt zum Beispiel Unter den Linden oder am
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Kurfürstendamm, in der Wilmersdorfer Straße, am Potsdamer Platz oder in einer Häusergruppe (Neubaugebiet) namens Lichterfelde. Die gastgebenden Berliner arbeiten in der Verwaltung des Amtes Wensin in 23827 Garbek, unter anderem auch für die amtliche Statistik Schleswig- Holsteins. Zu ihr gehören außer Seedorf noch sechs andere ehrenamtlich geführte Gemeinden mit insgesamt etwa 5 800 Einwohnern.
     Es wäre ziemlich problematisch, an dieser Stelle etwa statistische Tabellen über das kleine Berlin zu veröffentlichen, da wegen der geringen »Größe« des Ortes die statistische Geheimhaltung sehr schnell gefährdet würde, deshalb können wir nur die wenigen Daten weitergeben, die mit den Kieler Kollegen abgestimmt sind. Das kleine Berlin ist – wie man aus der Postadresse sieht – keine selbständige Gebietskörperschaft, es ist ein Ortsteil der Gemeinde Seedorf, die insgesamt dreizehn Ortsteile umfaßt. Seedorf hat 2 030 Einwohnern und 4 892 ha Land. Der Fläche nach ist der Ort die größte Gemeinde des Kreises Segeberg, zu dem sie gehört. Der Amtsbezirk Wensin ist statistisch gesehen der zweitkleinste des Kreises Segeberg, er liegt im Nordosten des Kreises Segeberg, auf halbem Weg zwischen Lübeck und Neumünster. Mit etwa 35 Einwohnern je Quadratkilometer ist das ganze Gebiet relativ dünn besiedelt. Vor Einführung der Postleitzahlen hatte man ziemliche Probleme mit der Berlin-Post, die oft versehentlich
zunächst in das große Berlin ging und dann von dort zum kleinen zurückkam.
     Wie die Umgebung des großen, ist auch die des kleinen Berlin landschaftlich nicht ohne Reiz. Am Meer ist man schnell, in weniger als einer Stunde. Im kleinen Berlin gibt es zwar nur ein Hotel, an der Ecke Unter den Linden/Potsdamer Straße, dafür aber dörfliches Leben. Neu entstanden, bietet das einzige Hotel seinen Gästen nun modernen Komfort. Das Umland bietet Seen, Wälder und – natürlich – viel Landwirtschaft sowie zahlreiche Erholungsmöglichkeiten, Fremdenverkehrs- einrichtungen und Naturschönheiten, auch Historisches kann besichtigt werden, das Seedorfer Torhaus beispielsweise. Hauptstädter sind im kleinen Berlin häufiger anzutreffen, die Bürgermeister Willy Brandt, Klaus Schütz und Eberhard Diepgen haben das kleine Berlin auch schon besucht. Man kann es mit dem Auto vom großen Berlin aus in etwas über drei Stunden erreichen, von Lübeck aus sind es nur ca. 20 Minuten. Busverbindungen gibt es nicht nur von dort, sondern auch von Kiel und Bad Segeberg aus. Wie heißt es doch so schön? Berlin ist eine Reise wert.

Quelle:
1     Neben dem Dorf Berlin (Gemeinde Seedorf) gibt es im Kreis Schleswig- Flensburg noch einen Hof Berlin mit sechs Einwohnern und zwei Haushalten in der Gemeinde Klein Bennebek. Weltweit sind wohl 39 Orte mit dem Namen Berlin bekannt.

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© Edition Luisenstadt, 1999
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