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Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Wahlen statt Weltuntergang

»Der für die ersten Tage dieser Woche angekündigte Weltuntergang«, so Berlins tonangebendes Blatt, die »Vossische Zeitung«, am Montag, dem 13. November 1899, »ist zwar, wie kundige Astronomen dargelegt haben, auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Er beschäftigt aber doch viele ängstliche Gemüter. Schon am Sonnabend wurden von verschiedenen hiesigen Vereinen Abschiedsfeierlichkeiten veranstaltet.« Auch seien »aus Furcht vor dem Weltuntergang« Selbstmordversuche unternommen worden, und viele Lehrer hätten, um geängstigte Kinder zu beruhigen, außerplanmäßige astronomische Vorträge gehalten.
     Neben dem anläßlich des Jahrhundertendes angekündigten, aber wieder einmal ausgefallenen Weltuntergang beschäftigte die Berliner im November 1899 vor allem die Wahl der Stadtverordneten, die am Montag, dem 6. November, begann und entsprechend der Städteordnung von 1853 in drei Abteilungen (sprich: Klassen) durchgeführt wurde, was etliche Tag in Anspruch nahm. In einer Art Leitartikel zu den Wahlen bemerkte die »Vossische«, daß der gutbürgerlichen Mitte

dabei von zwei Seiten Gefahr drohe: »... von der Sozialdemokratie, die sich die legitime Vertreterin der unterdrückten Bevölkerungsschichten nennt, und von dem schwarzen Kartell, das sein antisemitisches Banner zusammengerollt hat und unter der falschen Flagge der Parteilosigkeit marschiert«.
     Einer amtlichen Bekanntmachung des Berliner Magistrats war zu entnehmen, daß die Wahllokale »von vormittags 9 bis abends 8 Uhr« geöffnet haben. Aber: »Wer es irgend ermöglichen kann, wähle in der Zeit von 9–12 oder 2–5 Uhr. Jeder bringe seine Wahlkarte mit als Legitimation.« Gleich am ersten Tag wurde in der »dritten Abtheilung«, das heißt in der Klasse des einfachen Volkes, gewählt. Hierzu waren in den 48 Stimmbezirken »insgesamt 132 849 eingeschriebene Wähler berufen« (allerdings nur Männer ab 24 Jahren). Die »Vossische Zeitung« hob in ihrem Wahlbericht hervor, daß die Sozialdemokraten »über zahlreiche freiwillige Hilfskräfte« verfügten, »die, wohl tausend Mann stark, schon heute früh vor 8 Uhr ausschwärmten«. Die Liberalen, als deren Wahlhelfer »viele junge Kaufleute und Beamte« fungierten, konnten in dieser Abteilung von ihren neun Mandaten nur sechs behaupten. Die Sozialdemokraten gewannen fünf dazu und konnten ihre Stadtverordnetenzahl auf 21 erhöhen.
     Gesellschaftlicher Höhepunkt des Monats war zweifellos das Fest des Vereins »Berliner Presse«, das diesmal am 11. November im Reichstagsgebäude stattfand. »Statt der
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parlamentarischen Größen glänzte im Sitzungssaal ein ganzer Himmel von Sternen holder Weiblichkeit«, berichtete die »Vossische Zeitung«. Nach den mit »einstimmig lautem Beifall bedachten Vorträgen der berufenen Vertreter der Presse«, nämlich »der Herren von Liliencron, Julius Wolff und Ernst von Wolzogen«, entwickelte sich dann »in der großen Wandelhalle und in den Restaurationsräumen ... bei den Klängen des Musikkorps der Gardefüsiliere und einer Zigeunerkapelle die fröhlichste Geselligkeit«. Daß dieses Fest diesmal im Reichstag stattfand, so das »Berliner Tageblatt« in einem leicht ironischen Feuilleton, sei ein »Zeichen der Dankbarkeit gegen die Presse, denn wenn die Reden im Reichstag nicht gedruckt würden, dann hätten sie ihren Hauptzweck verfehlt ... Die Musik klang prachtvoll in der großen Rotunde, und was im Reichstag selten ist, es klang alles zusammen.«
     Was sonst noch geschah in diesem November 1899? Am 1. November trat der neue Winterfahrplan der »Großen Berliner Straßenbahn« in Kraft. Seine wichtigste Neuerung: veränderliche Fahrzeiten, die der Straßenbahnverwaltung gestatten, »in den Hauptverkehrsstunden, sowie beim Eintreten besonderer Anlässe, wie starkem Regenwetter oder dergleichen, das gesteigerte Verkehrsbedürfnis durch Vermehrung der bisherigen Fahrgelegenheiten um 30 bis 50 v. H. zu befriedigen«.
     Im »Wintergarten«, dem Varieté- Theater am Bahnhof Friedrichstraße, startete im
November ein neues Programm. In ihrer Rezension hob die »Vossische Zeitung« neben der schwedischen Sängerin Ingeborg Ballström, der Akrobatentruppe Metzetti, dem Jongleur Salerno und der Seelöwengruppe des Herrn Woodward besonders die »bayrischen Wildschützen« Fischer und Wacker mit ihren #187;Stumpfsinn- Schnaderhüpflern« sowie zwei Chansonetten hervor, die direkt aus den Folies- Bergères aus Paris gekommen seien. »Beide haben viel Schick und ziemlich wenig Stimme.«
     Am 9. November gab die Stadtverordnetenversammlung ihre Zustimmung, »daß für die Überschwemmten im Königreich Bayern die Summe von 30 000 Mark und für die Überschwemmten in den österreichischen Kronländern eine solche von 20 000 Mark aus bereiten Mitteln des Etats gezahlt werde«. Beklagt wurde in den Zeitungen, daß die Umgebung des Kaiser-Wilhelm- Nationaldenkmals gegenüber dem Schloß einen wenig erfreulichen Eindruck macht.
     Am 27. November schließlich veranstaltete laut »Vossischer Zeitung« die »Frauengruppe des Deutschen Schulvereins zur Erhaltung und Stärkung des Deutschtums in Sprache, Volkssitte und Schulen« in den Räumen des Neuen Königlichen Operntheaters, also der Krolloper, ein patriotisches Fest mit »Gesangsvorträgen hervorragender Künstler« und einem »von 20 Damen der Berliner Gesellschaft in griechischen Kostümen getanzten höchst anmutigen Reigen«.
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