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Reinhard Mocek
22. Oktober 1818:
Hegel hält seine Antrittsvorlesung

Die Verhandlungen, den berühmten Georg Friedrich Hegel (1770–1831) nach Berlin zu holen, erwiesen sich als nicht allzu schwierig, zumal gegenüber seinem Heidelberger Salär das angebotene Jahresgehalt von 2000 Talern ein mitentscheidendes Argument war. Doch auch ein inhaltliches Argument bestimmte seine Entscheidung, war doch, wie er seiner Schwester Christiane kurz vor der Abreise mitteilte, die »Philosophie von jeher mehr im nördlichen Deutschland Bedürfnis und zu Haus als im südlichen«. Hegel schlug noch einige Reisekosten heraus und erbat die Zusicherung einer hinreichenden Rente für seine Frau im Falle seines Ablebens, ehe er sich am 18. Oktober 1818 auf die Reise machte, begleitet von einem Koffer Kleidung, zwei Fässern Hausgeräten und Bettzeug sowie zwei Bücherkisten von insgesamt 968 und einem halben Pfund Büchern, was in etwa der Ausstattung von eintausend Büchern entsprochen haben dürfte.
     Vier Tage darauf, am 22. Oktober, hielt er schon die Antrittsvorlesung; vielleicht erklärt sich der nicht gerade großartige Eindruck, den er als Redner auf seine Zuhörer

machte, auch aus diesem Umstand. Jedenfalls berichtete einer seiner Schüler: »Abgespannt und grämlich sitzt er auf seinem Lehrstuhl, mit niedergebücktem Kopf; in sich zusammengefallen. Immerfort sprechend blättert und sucht er in den langen Folioheften vorwärts und rückwärts, unten und oben; das stete Räuspern und Husten stört allen Fluß der Rede; jeder Satz steht vereinzelt da und kömmt mit Anstrengung zerstückt und durcheinandergeworfen heraus; jedes Wort, jede Silbe löst sich nur widerwillig los, um von der metallenen Stimme in schwäbisch breitem Dialekt, als sei jedes das wichtigste, einen wundersam gründlichen Nachdruck zu erhalten. In den Tiefen des anscheinend Unentzifferbaren wühlte und webte jener große Geist mit großartig selbstgewisser Behaglichkeit und Ruhe. Dann erst erhob sich die Stimme, und das Auge blitzte scharf über die Versammelten hin und leuchtete im still auflodernden Feuer seines überzeugungstiefen Glanzes, während er in nie mangelnden Worten durch alle Höhen und Tiefen der Seele griff.«
     Eine großartige Schilderung! Und der Inhalt der Rede selbst? Hegel beschwört die Kraft des geistigen Lebens, »welches ein Grundmoment in der Existenz dieses Staates ausmacht«, und er stellt dieser Kraft den »negativen Geist der Eitelkeit« gegenüber, die mit ihrem »Versenktsein in die Flachheit des Lebens« und die »Schalheit der Interessen« all diejenigen Werte zu eliminieren
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beginnt, die in nur wenig zurückliegender Zeit die deutsche Nation angesichts einer furchtbaren Bedrohung – der napoleonischen Eroberung eben – gerettet haben. Der Weltgeist, dem die Philosophie ihre Geheimnisse abgelauscht hatte, erhebe nun, nachdem das historische Rettungswerk vollbracht ist, erneut den Anspruch, neben dem Regiment der wirklichen Welt als freies Reich des Gedankens selbständig emporblühen zu können. Um dem Ganzen die Spitze aufzusetzen, behauptet Hegel gar, daß diese Wissenschaft des Geistes allein noch bei den Deutschen fortleben würde, und insofern sei diesem Volke die »Bewahrung dieses heiligen Lichtes anvertraut«.
     Das Aufsehenerregende der Hegelschen Antrittsvorlesung ist jedoch ohne die Vorgeschichte nicht verständlich. Seit Fichtes (geb. 1762) Tod am 29. Januar 1814 war sein Lehrstuhl unbesetzt geblieben, was kein Zufall war. Die Euphorie des nationalen Aufbruchs gegen die napoleonische Besetzung Preußens, der insbesondere Fichte beredten Ausdruck verliehen hatte, war nach den Schlachten von Leipzig und Waterloo 1813 und 1815 der Mühsal der Konsolidierung des Alltäglichen gewichen. An der Universität war der patriotische Geist so schnell verflogen, wie er, befördert durch die Reformer des politischen, militärischen und geistig-kulturellen Lebens nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstädt 1806, in Gang gekommen war.

Georg Friedrich Hegel, Zeichnung von Wilhelm Hensel

 
Die Philosophie hatte sich damals, vor allem in Gestalt von Fichte, des ersten gewählten Rektors der neugegründeten Universität (nach dem Gründungsrektor Schmalz), an die Spitze dieser Aufbruchsbewegung gegen Napoleon gesetzt. Ihre Begründung fand diese selbstzugesprochene, alles Bisherige übersteigende nationale Verantwortung der Philosophie in Fichtes Universitätsidee, derzufolge sich in der Universität die Einheit der Welt als die Erscheinung Gottes darstellen würde!

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Damit haben sämtliche Wissenschaften ihren Anteil an der Verwirklichung dieser Idee, allen voran jedoch die Philosophie, weil sie und nur sie die Begründung für diese Einzigartigkeit der Universität geben könne. Und Fichtes Philosophie lieferte eine solche, die in der These gipfelte, daß die Universität diese Rolle nur spielen könne, wenn sie zur Bewahrerin des Heiligsten des Menschengeschlechts, der Freiheit nämlich, werde. Fichtes Ideal der akademischen Freiheit hatte also zum einen eine, wie wir heute sagen würden, hohe metaphysische Verankerung, zum anderen aber war sie auch ablesbar aus den konkreten Gegebenheiten des universitären Betriebes. Denn nur, wenn die Universität fortan ihrer Aufgabe als Pflegestätte des Geistes und einer hohen geistigen, sprich philosophischen Kultur treu bleibe, werde die akademische Freiheit und damit die veredelnde Funktion der Universität für die ganze Nation fortblühen.
     Ein gewaltiger Anspruch! Die Ernüchterung folgte erwartungsgemäß, sie entsprang aus verschiedenen Quellen, von denen zwei eine besondere Bedeutung erlangten. Der einen gab Friedrich von Schuckmann, Staatsminister im preußischen Departement der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten, Ausdruck mit der treffenden Wendung: »Wie aber auch die Köpfe exaltiert sein mögen, so behalten doch die Mägen immer ihre Rechte gegen sie.« Die soziale
Notlage vieler Studierenden, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität schob sich störend zwischen die hochfliegenden Gedanken akademischer Freiheit. Von vielen als verderbliches »Brotstudium« beklagt, zielte das Interesse des größeren Teils der Studentenschaft auf den Erwerb hinlänglicher beruflicher Qualifikation, weitaus weniger auf die Teilhabe an der Erkenntnis des Weltgottes der Philosophen. Die andere Quelle bestand in den bald schon einsetzenden, mit der restaurativen Ideologie des Wiener Kongresses einhergehenden Erneuerung des feudalen preußischen Staates. Die demokratischen Potentiale waren bald verbraucht; die großen Ideale mußten der Konsolidierung von Macht und Ordnung weichen. Zugleich aber beharrte die Universität auf ihren Freiräumen; und nach wie vor stand die gedankliche Durchdringung des Bestehenden, eine philosophische Wegleitung also, hoch im Kurs. Eine schwierige Situation – welche philosophische Autorität war wohl in der Lage, eine Balance zwischen diesen widerstreitenden Elementen herzustellen? An der Berliner Universität war kein Genius in Sicht, der dies vermocht hätte. Diese Kraft mußte also von außen kommen.
     Hegel hat den Geist der neu anbrechenden Zeit in seiner Antrittsvorlesung gründlich verkannt. Das philosophische Zeitalter war längst im Abklingen, zum Kernstück universitären Ruhmes wurden mehr und mehr die
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Erfolge der Naturwissenschaften. Das Nationale fand fortan nicht mehr in der Philosophie, sondern im wirtschaftlichen Aufschwung seine Krönung. Doch auch aus dem geisteswissenschaftlichen Raume wuchs die Kritik an der spekulativen Philosophie, mehr noch an den, wie man bald zu bemerken glaubt, unheilvollen Wirkungen der Hegelschen Philosophie auf das religiöse Leben. Die Spannungen vor allem mit Schleiermacher (1768–1834) werden immer unerträglicher, beide sollen gar mit dem Messer aufeinander losgegangen sein! Den Grund dafür bildete die in Hegels Philosophie angelegte Verwandlung des Gottesbegriffes in eine philosophische Kategorie. Nicht das religiöse Leben bildete demzufolge für Hegel den zentralen geistigen Ort, sondern das philosophische Kolleg. Der angestrebten Liaison bzw. der erneut sich abzeichnenden »heiligen Allianz« von Staat und Kirche stand diese These völlig verquer. Was Wunder, daß Hegels Philosophie bald schon als »Drachensaat des Pantheismus« verfemt wurde? Angesichts dessen erhält die Antrittsvorlesung Hegels ein eigentümliches Doppelgesicht. Hegels großartige, für jedes autarke Staatswesen gefährliche Idee, »daß, was gelten soll, vor der Einsicht und dem Gedanken sich rechtfertigen muß«, bereitete den Boden für die revolutionärdemokratische Umwälzung der preußischen restaurativen Zustände. Nicht von ungefähr erblickte die demokratische Linke in Hegel ihren Stammvater, haben Marx und Engels an Hegels Philosophie ihre Thesen geprüft. Auf der anderen Seite hatte Hegel keinen wirklichen, realistischen Maßstab für eine solche Rechtfertigung und Veränderung. Hegels Appell an die Kraft des geistigen Lebens haben andere zur wissenschaftlichen Analyse des Bestehenden weitergeführt. Seine Hoffnung allerdings, daß ein Staat durch sein geistiges Übergewicht auch ein politisches Übergewicht im Wettbewerb der Kulturnationen erlangen würde, war eine Vorahnung auf die künftigen Gestaltungen in der weltpolitischen Szenerie, wo wissenschaftlicher Erfindergeist und technologisches Gespür zunehmend an Bedeutung gewonnen haben, ja tatsächlich zur Grundlage, zum Grundmoment der Existenz der Staaten geworden sind. In Hegels Antrittsrede waren somit Stichworte künftiger Weltgestaltung verborgen.

Bildquelle: Katalog Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts, 1981

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