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Horst Wagner
Die Tage der Wende

Die Ereignisse des Herbstes '89 in zwei Berliner Zeitungen

Wann das begann, was die meisten als Wende, andere einfach als Sturz der SED-Herrschaft, wieder andere, wie Stefan Bollinger in einem jüngst erschienenen Buch, als abgebrochene demokratische Revolution bezeichnen, darüber werden die Historiker wohl noch eine Weile streiten. Schon mit dem Protest gegen das »Sputnik« -Verbot vom 19. November 1988? Oder mit der Fälschung der DDR-Kommunalwahlen und dem Abbau der Sperranlagen an Ungarns Westgrenze im Mai 1989? Mit der Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn sowie die BRD-Botschaften in Prag und Warschau im August und September? Mit der ersten Montags- Demonstration in Leipzig am 4. September 1989? Oder erst mit den Unruhen auf dem Berliner Alex und Gorbatschows mahnendem »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, während der getrübten Jubelfeiern zum 40. DDR-Jahrestag?
     Das Urheberrecht auf den Begriff Wende in diesem Zusammenhang steht dem letzten (nicht einmal drei Monate amtierenden)

SED-Generalsekretär Egon Krenz zu. Er war es, der nach dem erzwungenen Rücktritt Erich Honeckers auf der ZK-Tagung am 18. Oktober 1989 erklärte: »Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten.« So war es am nächsten Morgen in der »Berliner Zeitung«, dem damaligen SED-Blatt für die »Hauptstadt der DDR«, zu lesen. Kein Wort allerdings darüber, daß diese Wende nicht freiwillig geschah, sondern unter dem Druck der Straße, der Bürgerbewegungen, vieler Künstler und nicht zuletzt auch der kritischen Kräfte in der SED selbst.
     Der in Westberlin erscheinende »Tagesspiegel«, der seit jeher das Geschehen in Ostberlin und der DDR aufmerksam und kritisch verfolgte, nannte in seiner Ausgabe vom 19. Oktober als Ursache der Wende den »Wind der Veränderung aus Moskau«, den Abbau des Eisernen Vorhangs durch Ungarn und die dadurch einsetzende Massenflucht aus der DDR sowie die »Protestdemonstrationen in Ostberlin, Leipzig, Dresden, Halle, Plauen und anderswo, deren Massenbeteiligung alles übertraf, was es seit dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR gegeben hatte«.
     Von diesem »Volk auf der Straße« hatte die »Berliner Zeitung« freilich erst sehr spät und sehr verschämt Kenntnis genommen. In ihrer Ausgabe vom 9. Oktober, die unter der Hauptüberschrift »Der sozialistische deutsche Friedensstaat ist das Werk von Millionen« einen mehrseitigen Jubelbericht vom
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40. Jahrestag der DDR brachte, findet sich erst auf Seite 12 eine Siebenzeilenmeldung: »Randalierer wollten auf dem Alex provozieren«. Das sei »im Zusammenspiel mit westlichen Medien« geschehen, und die Rädelsführer seien festgenommen worden.
     Zu der seit Wochen anhaltenden Massenflucht hatte die »Berliner Zeitung« wie die anderen DDR-Blätter den von Honecker persönlich redigierten ADN-Kommentar nachgedruckt, in dem diese Abstimmung mit den Füßen als Ergebnis einer »von Politikern und Medien der BRD ... stabsmäßig vorbereiteten >Heim ins Reich<-Psychose« dargestellt wurde. Die Flüchtenden hätten »sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen«.
     Diese gehässige Bemerkung löste bekanntlich neue Proteste aus und mußte in einer Erklärung des Politbüros der SED vom 11. Oktober zurückgenommen werden, die zwar auch nicht zu den wahren Ursachen der Flucht- und Protestbewegung vordrang, aber immerhin einräumte, daß »es uns nicht gleichgültig« läßt, »wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten«, von der DDR »losgesagt haben ... Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten.« (Was freilich – siehe Verbot des »Neuen Forums« – nicht geschah.)
     Ganz im Gegensatz zur damaligen »Berliner Zeitung« finden wir im »Tagesspiegel«
eine ausführliche Dokumentation und Betrachtung der zur Wende drängenden Ereignisse auch schon vor dem 18. Oktober 1998. »Der Wind der Veränderung weht aus Moskau durch Osteuropa, aber die Altherrenriege der SED kehrt ihm den Rücken zu«, bemerkte das Westberliner Blatt in seinem Spitzenkommentar vom 21. September. Es hob demgegenüber die »kritischen Gedanken« hervor, die der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach auf einer Veranstaltung seiner Partei zum 40. Jahrestag der DDR gemacht hatte: »Gerlach fordert eine Diskussion über die ganze Wahrheit und erinnert die Staatsführung daran, daß Information Bürgerrecht und Staatspflicht sei.«
     Zwei Tage später wendet der »Tagesspiegel« seine Aufmerksamkeit dem »Neuen Forum«, dieser »unabhängigen Sammlungsbewegung für demokratische Erneuerung in der DDR«, dessen Gründungsaufruf vom 9. September bisher an die 3 000 DDR-Bürger, »darunter etliche SED-Mitglieder«, unterzeichnet hätten, und kommentiert: »Es zeugt für den Realitätsverlust der SED-Spitze, daß der Zulassungsantrag des Neuen Forum, das sich in der DDR um einen ehrlichen Dialog über die Probleme des Landes bemühen will, vom DDR-Innenministerium brüsk abgelehnt wurde.«
     Gleichzeitig meldete das Blatt: »Der frühere DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf hat für Reformen und Meinungsstreit in der DDR plädiert«, wobei es sich auf
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dessen Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« bezog.
     In seiner Ausgabe vom 3. Oktober berichtete der »Tagesspiegel« über die »bisher größte Demonstration für Demokratie in Leipzig« am vorangegangenen Montag, an der nach einem Friedensgebet in der Nicolaikirche 15 000 Menschen teilnahmen. In Ostberlin hätten sich am vorangegangenen Sonntag »trotz umfangreicher Polizeimaßnahmen ... Vertreter staatlich unabhängiger politischer Gruppierungen getroffen und dabei die Oppositionsgruppe >Demokratischer Aufbruch< gebildet. Insgesamt fanden sich 60 Künstler, Pfarrer und Autoren zusammen.«
     Weitere Überschriften auf Seite 1 dieser »Tagesspiegel«-Ausgabe: »Schon wieder 2 500 DDR-Bürger in der Prager Botschaft« und »Sieben Sonderzüge brachten mehr als 6 000 Flüchtlinge ins Bundesgebiet«. Dazu im Kommentar: »Allein in diesem Jahr werden mehr als 100 000 DDR-Bürger mit ihren Füßen gegen das SED-Regime abstimmen.«
     Am 6. Oktober berichtete der »Tagesspiegel« dann von den Zusammenstößen zwischen ausreisewilligen Bürgern und Sicherheitskräften, zu denen es in Dresden bei der Durchfahrt der Sonderzüge mit den Flüchtlingen aus den Botschaften in Prag und Warschau gekommen war. »Gewährsleute teilten mit, daß die Menge >wir wollen raus< geschrien und die Internationale gesungen habe. Aufgebrachte Menschen hätten auf
dem Vorplatz Pflastersteine herausgerissen und sie gegen den Bahnhof und die Sicherheitsbeamten geschleudert.« Der Bahnhof sei hermetisch abgeriegelt worden, nachdem die Polizei bereits am Vortag 5 000 Personen aus ihm vertrieben hatte.
     An die Spitze seines Berichtes vom DDR-Jahrestag stellte der »Tagesspiegel« am 8. Oktober die Überschrift »Tausende demonstrierten in der Ostberliner Innenstadt«. Sie seien »gestern abend vom Ostberliner Alexanderplatz zum Palast der Republik gezogen und haben immer wieder >Freiheit, Freiheit< gerufen.
     Während der SED-Chef Honecker mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow und anderen offiziellen Gästen zu einem Abschlußempfang aus Anlaß der 40-Jahrfeiern zusammentraf, skandierten die Demonstranten >Gorbi komm raus< und >Gorbi hilf uns< sowie >Wir bleiben hier<.« Honeckers Festrede kommentierte das Blatt mit den Worten: »Einer gegen den Rest der Welt. Eine Tirade provinziellen Zuschnitts – man mauert sich nicht ungestraft 28 Jahre ein.« Am 12. Oktober überschrieb der »Tagesspiegel«, sich auf eine »langwierige Krisenberatung« des SED-Politbüros beziehend, seine Spitzenmeldung: »Anzeichen für baldige Ablösung Erich Honeckers verdichten sich.« Die Absetzung des DDR-Spitzenmannes am 18. Oktober kommentierte das Blatt mit den Worten: »Es wurde unvermeidlich, Honecker zu opfern und weitere
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Politbüromitglieder werden folgen, die für das Dilemma des SED-Staates verantwortlich sind und deren heutige Maskerade als Reformanhänger sich seltsam genug ausnimmt ... Möglicherweise ist auch Egon Krenz, der sich bisher nicht gerade durch Reformfreudigkeit auszeichnete, lediglich eine befristete Übergangslösung.«
     Am 23. Oktober kam es in Leipzig zur bisher größten Montagsdemonstration mit 300 000 Teilnehmern. Dominierende Losung »Wir sind das Volk«.
     Am 24. Oktober gab es bei der Wahl von Egon Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrates in der Volkskammer 26 Gegenstimmen und 17 Enthaltungen – eine Sensation angesichts der bis dahin üblichen Praxis. Am 27. Oktober erließ der Staatsrat eine Amnestie für alle DDR-Bürger, die bis dahin in den Westen geflüchtet waren, und verfügte die Freilassung aller wegen Republikflucht Verurteilten.
     Am 29. Oktober fanden sich über 20 000 Berliner vor dem Roten Rathaus ein, um von Spitzenpolitikern wie Günter Schabowski Rede und Antwort zu fordern. »Viele Anfragen«, so berichtete darüber die »Berliner Zeitung« am nächsten Morgen, »galten der Untersuchung von Übergriffen der Schutz- und Sicherheitsorgane vor drei Wochen. Gefordert wurden öffentliche Entschuldigung und ein öffentlicher Untersuchungsausschuß.« Auch sei es, so das Blatt weiter, um »Bevorzugungen und Sonderregelungen
für Funktionäre sowie die Demokratie in der SED« gegangen.
     Am gleichen Tag traf sich Westberlins Regierender Bürgermeister Walter Momper mit Schabowski und Oberbürgermeister Krack sowie im Atelier der Malerin Bärbel Bohley mit Vertretern des Neuen Forums und der am 7. Oktober in Schwante bei Berlin neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP).
     Am 31. Oktober berichtete der »Tagesspiegel«, daß der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer »die regimekritische >Gruppe der 20< als Interessenvertretung der Bürger anerkannt« und sich »für eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft ohne Wenn und Aber« ausgesprochen hat.
     Am 3. November versuchte Egon Krenz in einer Fernsehansprache, mit dem Verweis auf seine in Moskau geführten Gespräche mit Gorbatschow und der Information über den Rücktritt einzelner Politbüromitglieder (Axen, Hager, Mielke, Mückenberger, Neumann, Tisch), vor der für den nächsten Tag angekündigten Großdemonstration besänftigend einzuwirken.
     Dem gleichen Ziel galt ein ebenfalls am 3. November veröffentlichtes »Aktionsprogramm für Erneuerung« der SED, in dem die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes, eines Verwaltungsgerichtes, eines zivilen Wehrersatzdienstes sowie grundlegende Reformen in der Wirtschafts- und Bildungspolitik versprochen wurden.
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Trotzdem richten sich am nächsten Tag bei der bis dahin größten Demonstration in der Geschichte der DDR viele der zum Alexanderplatz getragenen Losungen gegen die Politik der SED und speziell gegen Egon Krenz, geht die Rede des Politbüromitglieds Günter Schabowski in Pfiffen unter. Lebhaften Beifall, so konnte man in der »Berliner Zeitung« nachlesen, erhielt der Schauspieler Ulrich Mühe, der eine Änderung des Artikels 1 der DDR-Verfassung forderte und erklärte: »Der Führungsanspruch einer Partei darf nicht durch Gesetz verordnet werden.«
     »Wir haben in den letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen«, zitierte das Blatt den Schriftsteller Stefan Heym, einen der 27 Sprecher dieser bewegenden Kundgebung, der besonders lebhafte Zustimmung fand. Auch seine Worte, es gehe jetzt um »Freiheit und Demokratie und einen Sozialismus, der des Namens wert ist«.
     Der 9. November setzt mit seiner längst fälligen, aber nun überhastet und konzeptionslos durchgeführten Maueröffnung eine entscheidende Marke. Nach der Demonstration vom 4. November und der weiter andauernden Flucht von DDR-Bürgern über Ungarn, Polen und die CSSR sah sich die SED-Führung gezwungen, endlich Reisefreiheit zu gewähren.
     Am 6. November wurde der Entwurf eines Reisegesetzes veröffentlicht, der wegen seiner darin noch zahlreich enthaltenen
Restriktionen sofort auf heftige Kritik stieß. Am 7. November trat der DDR-Ministerrat unter Stoph zurück. Am 9. November tagte das SED-Zentralkomitee. Dort übergab der noch amtierende Stoph den Entwurf einer eiligst erarbeiteten neuen Reiseverordnung, die von Krenz verlesen wurde. Sie fand die Zustimmung aller Tagungsteilnehmer.
     »Die Reiseverordnung war mit der sowjetischen Seite abgestimmt. Ihr Wesen bestand darin, am 10. November planmäßig und geordnet die Grenze der DDR für den freien Reiseverkehr ihrer Bürger zu öffnen.« So Egon Krenz in seinen Erinnerungen an diesen Tag.1) Aber diese Öffnung verlief weder planmäßig noch geordnet im Krenzschen Sinne, und die sowjetische Seite zeigte sich bekanntlich sehr überrascht.
     Während die »Berliner Zeitung« an der Spitze ihrer Ausgabe vom 10. November über die ZK-Tagung und ein Treffen von Egon Krenz mit dem nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau informierte, lediglich klein darunter über Schabowskis Pressekonferenz mit der Mitteilung über das »sofortige Inkrafttreten« der neuen Reiseverordnung (erst am nächsten Tag folgte der Bildbericht »Bloß mal auf dem Kudamm bummeln«), erschien der »Tagesspiegel« mit der Schlagzeile »DDR öffnet ihre Grenzen zum Westen« und der »Letzten Meldung«, daß allein am Übergang Bornholmer Straße noch am Abend des 9. November bis zu 1 000 Personen die Grenze überschritten.
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Dazu ein Kommentar, in dem es hieß: »Unter dem Eindruck von Massenflucht und Massendemonstration hat die Entwicklung in der DDR eine Eigendynamik gewonnen, angesichts derer die Führung wachsende Schwierigkeit hat, den Gang der Ereignisse zu ordnen.«
     Schwierigkeiten hatte Schabowski offenbar auch auf der am 9. November um 18.00 Uhr eröffneten Pressekonferenz mit dem ihm kurz vorher von Krenz in die Hand gedrückten Text der neuen Reiseverordnung, die eigentlich erst am 10. November veröffentlicht werden sollte.
     Auf die Frage eines Journalisten nach dem Stand der Ausarbeitung der neuen Reiseregelung zog er dieses von ihm offenbar vorher nicht durchgelesene Papier aus der Tasche, verlas es auszugsweise und antwortete auf die Zusatzfrage, wann dieses denn in Kraft treten sollte: »Nach meiner Kenntnis unverzüglich.«
     Unverzüglich verbreitete sich die Nachricht in den Medien, und ebenso unverzüglich machten sich zahlreiche DDR-Bürger per Auto oder zu Fuß auf, um die neue Lage zu testen. Um 21.00 Uhr wurde Egon Krenz, der damals nicht nur die oberste politische Entscheidungsbefugnis, sondern auch die oberste militärische Kommandogewalt in der DDR innehatte, über »große Autoschlangen und Menschengruppen an den Berliner Grenzübergangsstellen« informiert. Er ließ die Schleusen öffnen.
Quellen:
1     Egon Krenz, Der 9. November 1989. Unfall oder Logik der Geschichte, in: Die kurze Zeit der Utopie, Herausgegeben von Siegfried Prokop, Elefanten Press, Berlin 1994, S. 79
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