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Manfred Stürzbecher
Zur Ablenkung ein Schmalfilm?

Erinnerungen an Zahnärzte in Friedrichshain

1928, im Jahre meiner Geburt, sind im Berliner Statistischen Jahrbuch für den Bezirk Friedrichshain 30 Zahnärzte, 30 staatlich geprüfte und 105 nicht staatlich geprüfte Zahntechniker verzeichnet.1) Zehn Jahre später werden für den Bezirk »Horst-Wessel« 31 Zahnärzte, 61 im Inland geprüfte (§123 RVO) und 81 sonstige Dentisten aufgeführt. Erst nach Kriegsende wurden dann wieder Zahlen über die Zahnärzte in Friedrichshain veröffentlicht. Nach »Berlin in Zahlen« waren am 1. Oktober 1947 in Friedrichshain acht Zahnärzte und 60 Dentisten niedergelassen.2)
     In der Zeit von 1928 bis 1938 hat sich bei den Zahnärzten mit akademischer Ausbildung zahlenmäßig keine wesentliche Veränderung ergeben.3) Wie weit eine Umstrukturierung, z. B. durch die Judenverfolgung der Nationalsozialisten, eingetreten ist, läßt sich aus der Statistik nicht ablesen. Bei den geprüften Dentisten ist in dem Arbeiterbezirk eine Verdoppelung eingetreten, während bei den nicht geprüften Zahnbehandlern ein Rückgang zu verzeichnen ist.

Ob diese Veränderung auf einen anderen Erfassungsmodus zurückzuführen ist, kann hier nicht endgültig geklärt werden.
     Im folgenden sollen die Erfahrungen eines Kindes und Jugendlichen mit der Vorsorge und Behandlung von Zahnerkrankungen berichtet werden, wobei, wie immer bei sogenannten Zeitzeugen, die in Erinnerung gebliebenen Ereignisse und Personen nicht repräsentativ sein können und stark vom Standpunkt des Betrachters bestimmt sind, hier eines Apothekersohnes und späteren Arztes des öffentlichen Gesundheitsdienstes und Historikers.
     In Erinnerung geblieben sind mir drei Zahnbehandler, die mich während meiner Zeit als Schüler und später als Auszubildender untersucht und behandelt haben, der Dentist und Zahnarzt Walter Lietz4) in der Grünberger Straße und die Zahnärzte Dr. Gerhard Bendias5) und Dr. Günther Schütte6) in der Warschauer Straße.

Walter Lietz

Die früheste Erinnerung habe ich an »Waffchen« Lietz, wie das etwas grobe Original in der Umgebung genannt wurde. Er hatte einen sehr rauhen Ton, schien aber in der Bevölkerung als kompetenter Fachmann geschätzt zu sein. Seine Ehefrau war mit in der Praxis tätig und stand an Originalität ihrem Mann nicht nach. Man mußte in einem großen Wartezimmer auf die

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Behandlung warten. Dort lagen verschiedene Schriften aus, für Kinder Bilderbücher zur Aufklärung, wie Karies verhindert werden kann. Es müssen didaktisch eindrucksvoll gestaltete Schriften gewesen sein, denn mir ist bis heute in Erinnerung geblieben, wie kleine Männchen mit Bohrern und Meißeln die Zahnsubstanz bearbeiteten. Für mich war die Darstellung furchterregend. Warum meine Eltern mich nach einiger Zeit zu einem anderen Zahnarzt schickten, weiß ich nicht. Bis in die Nachkriegszeit wirkte Walter Lietz, obwohl er mit seiner Praxis in der Grünberger Straße ausgebombt war, in der gleichen Gegend. Man sprach auf der Straße miteinander. Die Eheleute waren, wenigstens vor dem Krieg, Wassersportler, Ruderer, in einem Verein in Grünau.

Dr. med. dent. Gerhard Bendias (1900–1944)

Beim nächsten Zahnarzt, Dr. Gerhard Bendias in der Warschauer Straße 84, kam ich in ein ganz anderes Milieu. Dr. Bendias betrieb schon damals eine Bestellpraxis, so daß man auf die Behandlung, die er im Sitzen ausübte – wegen Krampfaderbeschwerden, wie man sagte – nicht zu warten brauchte. Die Praxis war in den Augen eines kindlichen Patienten aufs modernste und feinste ausgestattet. Dr. Bendias war ein weitgereister Mann, und gelegentlich der Termine bekam der Patient – jedenfalls habe ich das so erlebt – Schmalfilme von seinen

Zeppelinreisen zu sehen. Der Zahnarzt konnte von seinen Reisen spannend erzählen, was die Zahnuntersuchung und -behandlung zu einem Erlebnis werden ließ. Es war ein sehr kultiviertes Milieu. Der am 5. Juli 1900 in Charlottenburg geborene Junggeselle wohnte mit seinen Eltern, die das Haus besaßen und im Erdgeschoß einen Blumenladen betrieben, neben der Praxis. Bendias hatte in Berlin-Friedenau ein Reformrealgymnasium besucht und nach dem Abitur Zahnmedizin studiert. 1922 hatte er das Staatsexamen abgelegt, erhielt unter dem 23. November 1922 die Approbation als Zahnarzt und wurde kurz darauf, im Frühjahr 1923, von der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität auf Grund einer Dissertation »Die Satura platina in ihrer Lage zur Medianebene des Kopfes« zum Doktor der Zahnmedizin promoviert. Die mit sehr gut bewerteten Untersuchungsergebnisse waren auch unter anthropologischen Gesichtspunkten von Interesse. Als Prüfungsleistung mußte auch noch ein Colloquium in den Fächern innere Medizin bei Friedrich Kraus (1856–1936), zahnärztliche Chirurgie bei Fritz Williger (1866–1932), Hygiene – hier prüfte der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn (1869–1931) und technische Zahnheilkunde bei Hermann Schröder (1876–1942), der auch als »Doktorvater« aufgetreten war, absolviert werden. Trotz der Inflationszeit konnte sich der junge Zahnarzt in dem im Familienbesitz befindlichen
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Haus Warschauer Straße 84 gleich nach der Approbation niederlassen.
     Diese sehr angenehme und anregende zahnärztliche Behandlung wurde durch die Einberufung des Zahnarztes zur Wehrmacht im Jahre 1942 beendet. Diese führte zu einer tödlich endenden Katastrophe für Bendias. Was sich abgespielt hat, läßt sich ohne die Kenntnis der Gerichtsakten nur sehr vage angeben. Dem Anschein nach war der weitgereiste Zahnarzt ein Wehrdienstgegner, der sich weigerte, den Grundwehrdienst zu leisten. Aus Erzählungen wurde bekannt, daß alle Rettungsversuche, die darauf abzielten, ihn zur Dienstleistung zu bewegen, da er nach der militärischen Grundausbildung als Zahnarzt bei der Wehrmacht eingesetzt werden sollte, fehlschlugen. Auch eine psychiatrische Begutachtung konnte ihn, da er als Simulant bezichtigt wurde, vor der Verurteilung durch ein Militärgericht zum Tode nicht retten. Ohne Kenntnis der Gerichtsakten lassen sich die Einzelheiten dieser Tragödie nicht rekonstruieren. Aus dem Militärgefängnis in Potsdam wurde am 5. Juni 1944 der Schütze Gerhard Bendias an das Zuchthaus Brandenburg überstellt. Dort wurde ihm am gleichen Tage um 11 Uhr die auf 13 Uhr festgesetzte Exekution mitgeteilt.7) Ein Bediensteter der Strafanstalt Brandenburg teilte dem dortigen Standesamt »aus eigener Kenntnis« mit, daß der Tod des Zahnarztes am 5. Juni um 13 Uhr 05 Uhr eingetreten sei.8) Auffallend ist, daß in den Akten im
Zusammenhang mit der Urteilsvollstreckung nur vom Schützen bzw. Zahnarzt Bendias gesprochen wurde. Aus den Promotionsakten der Berliner Universität ist nicht ersichtlich, daß der Doktortitel aberkannt wurde.

Schulzahnklinik

Während ich mich recht deutlich an die Schulgesundheitsfürsorge erinnern kann, habe ich von der Schulzahnklinik in der Rigaer Straße nicht einmal verschwommene Vorstellungen.9) Erfolgte keine regelmäßige schulzahnärztliche Untersuchung für Schüler der höheren Schulen in der Schulzahnklinik? Habe ich bei den zahnärztlichen Terminen immer gefehlt, oder kam der Schulzahnarzt in die Schule? War diese Untersuchung nach den sonstigen Erfahrungen mit Zahnärzten ohne Eindruck auf mich geblieben? Die Schulgesundheits- Fürsorgestelle am Stralauer Platz/ Mühlenstraße war dagegen attraktiv, konnte man doch aus dem Wartezimmer den Schiffsverkehr auf der Spree beobachten.

Dr. med. dent. Günther Schütte (1905–1967)

Nachdem Dr. Bendias eingezogen worden war, wurde ich in die Betreuung eines Zahnarztes in der Warschauer Straße 1 gegeben, der erst kurz vor dem Kriege seine Praxis eröffnet hatte, Dr. med. dent. Günther Schütte. Von den Räumen habe ich nur das Warte-

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zimmer als einen ständig mit Patienten überfüllten dunklen Raum in Erinnerung. Der Zahnarzt muß dem Anschein nach als kompetent und geschickt von der Bevölkerung angesehen worden sein. Für mich hatten die Zahnarztbesuche in der Warschauer Straße 1 bei weitem nicht die Attraktivität wie bei Dr. Bendias. Trotzdem blieb das Patient-Arzt-Verhältnis über lange Zeit trotz aller politischer Wirren bis zum Tode von Dr. Schütte im Jahre 1967 bestehen.
     Günther Schütte wurde 1905 als Sohn eines Regierungs- und Baurates in Rawitsch in der Provinz Posen geboren. Er besuchte dort die Volksschule und später das Gymnasium in Liegnitz, an dem er 1926 die Reifeprüfung ablegte. Aus einem Antrag auf Erlaß des 8. Fachsemesters für die Promotion als Dr. med. dent. an den Dekan der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität vom 10. Februar 1938 sind folgende Einzelheiten über die akademische Ausbildung von Schütte zu erfahren:
     »Ich habe vom Sommersemester 1926 bis Wintersemester 1927/28 in Rostock Jura studiert. Dann das juristische Studium in Berlin fortgesetzt und zwar vier Semester vom Sommersemester 1928 bis zum Wintersemester 1929/30. Im Wintersemester 1928/29 habe ich die Vorlesung >gerichtliche Medizin mit Demonstrationen< bei Herrn Prof. Strauch gehört.«
     Im Sommersemester begann Schütte, der einer Corporation angehörte, mit dem Studium
der Zahnmedizin an der Berliner Universität. Die Gründe, die zum Fachwechsel führten, gehen aus den Akten nicht hervor, so daß darüber nur spekuliert werden kann. Am Ende des Sommersemesters legte er das Physikum ab und bestand 1937 das zahnmedizinische Staatsexamen. In diesem Jahr wurde er auch Mitglied der NSDAP. Mitte Januar 1938 erhielt er die Approbation als Zahnarzt. Er war dann als Assistent und Praxisvertreter tätig, bis er 1938 die Praxis in der Warschauer Straße 1 gründete.
     In der Begründung der Bitte um Erlaß des 8. Semesters der Zahnmedizin heißt es dann abschließend:
     »Als weitere Begründung meines Antrages bitte ich meine wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen. Ich bin seit 1 1/2 Jahren verheiratet, und wohne bei meinen Schwiegereltern. Diese sowie meine Eltern trugen zum Teil die Kosten des Studium, zum Teil mußte ich mir Geld durch Darlehen beschaffen. Meine Frau ist auch jetzt noch aushilfsweise berufstätig. Unter diesen Umständen wäre es mir äußerst schwer, die Kosten für das achte Semester aufzubringen.«
     Dem Antrag wurde stattgegeben. Unter der Leitung von Georg Axhausen (1877– 1960) fertigte er an der Chirurgischen Abteilung des Zahnärztlichen Institutes der Berliner Universität ab April 1937 eine Dissertation zu dem Thema »Der physiologische Durchbruch der unteren Weisheitszähne«. Axhausen äußert sich in seinem
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Gutachten für die Fakultät zu der Arbeit, »zu der eigene histologische Untersuchungen in weitem Ausmaße herangezogen wurden«, sehr positiv.
     »Die Arbeit ist klar und eindrucksvoll geschrieben. Die eigenen Untersuchungen, von denen Bildwiedergaben der Arbeit beigefügt sind, sind trotz der bekannten Schwierigkeiten von Zahn-Kiefer- Schnitten mit erfreulicher Sorgfalt durchgeführt worden. Ihr Ergebnis wird sachgemäß verwandt.«
     Während des Krieges stand Schütte der zahnärztlichen Versorgung der Bevölkerung in Friedrichshain zur Verfügung. Kurz vor Kriegsende brannte nach einem Fliegerangriff das Haus Warschauer Straße 1 aus. Die Praxis wurde völlig zerstört. Im Sommer 1946 übte Dr. Schütte in einer Wohnung in der Ruhrstraße in Wilmersdorf eine zahnärztliche Praxis aus. Dem Anschein nach ist ihm ein Teil seiner Patienten aus Friedrichshain in die Gegend des Fehrbelliner Platzes gefolgt. Dieser Patientenstamm schrumpfte nach der Währungsreform und Spaltung enorm, und ab 1961 zerrissen die Verbindungen nach Friedrichshain fast völlig. An einem Herzleiden ist er verstorben.10)

Quellen:
1     Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 6. Jg., 1930, S. 214
2     Berlin in Zahlen, hrsg. vom Hauptamt Statistik Berlin- Wilmersdorf, Berlin 1949, S. 312 ff.
3     Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 15. Jg. 1939, S. 171

4     Biographische Daten über Dentisten sind kaum zu ermitteln. Die Bundeszahnärztekammer, von der die Dentistenverbände nach dem Zahnheilkundegesetz aufgelöst wurden, besitzt keine Verzeichnisse über die in den einzelnen Orten und Regionen tätig gewesenen Dentisten. Der Bundeszahnärztekammer, der Zahnärztekammer Berlin und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Berlin sei für die Unterstützung bei der Suche nach biographischen Angaben über die drei Zahnärzte gedankt
5     Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Med. Fak. Nr. 1196, Promotionen Dr. med. dent. 1. 12. 1922 – 26. 2. 1823, Bl. 220 ff.
6     Ebenda, Med. Fak. Nr. 1233, Promotionen Dr. med. dent., Bl. 9 ff.
7     Brandenburgisches Landeshauptarchiv Pr. Br. Rep. 29, Zuchthaus Brandenburg, Gen. 101, Bl. 154, am 5. 6. 1944 wurden insgesamt 14 Todesurteile vollstreckt: 10 durch Urteil Volksgerichtshof, 3 auf Antrag der Oberstaatsanwaltschaft, Potsdam, 1 durch Urteil des Gerichts der Division 463
8     Ebenda, Sterbebuch Brandenburg, Nr. 1404/44
9     Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Jugendzahnpflege in Berlin, in: Sylvia Dohnke-Hohrmann, Renate Reich, Der Mund- und Zahngesundheitsstand von Kindern und Jugendlichen 1992/93 in Berlin, Teil I, Diskussionsbeiträge zur Gesundheits- und Sozialforschung Nr. 27, hrsg. von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Berlin 1995, S. 33 ff.
10     Mitteilung der Zahnärztekammer Berlin
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