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Heinz Knobloch
Eine Berliner Kindheit

Zwischen Olympia und Luftschutzkeller
Jaron Verlag, Berlin 1999

Heinz Knobloch gebührt der Ruhm, das (ost-?)deutsche Feuilleton wiederbelebt und zu nie erwarteter Blüte gebracht zu haben. Als mir unlängst jemand sagte, Knoblochs früher Roman »Pardon für Bütten« (Berlin 1965 und 1976) erinnere ihn an die Diktion meiner eigenen Kriminalromane, empfand ich das als Lob. Schreiben zu können wie Knobloch habe ich mir tatsächlich oft gewünscht. Liest man Knobloch – und wie groß die Schar seiner Leser ist, erwies sich auch bei der Buchpremiere der »Berliner Kindheit« in der Buchhandlung am Hackeschen Markt, wo die Stühle nicht ausreichten –, stößt man mit ihm noch im alltäglichsten Vorgang auf etwas Neues, Besonderes, Überraschendes.
     Wie fast alle, die Berlin als »ihre« Stadt entdeckt und erobert haben, ist auch Knobloch nicht an der Spree (oder am Landwehrkanal, wo er Kindheit und Jugend verbrachte) geboren, sondern stammt wie Kästner oder Heinrich Zille aus dem tiefsten Sachsen. Er kam als Neunjähriger in diese fremde Stadt und mußte sie sich langsam erschließen. Davon handelt »Eine Berliner Kindheit«, von dem Jungen, der am Tempelhofer Ufer aufwuchs und in der wenig geliebten Schule seine ersten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus machen mußte. Daß er den »Leibesübungen« auch heute noch abhold ist, macht mir Knobloch übrigens noch sympathischer. Die markigen Sportlehrer in ihren weinroten Trainingsanzügen gehören auch zu meinen schlimmsten Schulerinnerungen. »Diese blödsinnige Lebenszeitverschwendung stammt vom geistesgestörten, deshalb in Deutschland durch Straßennamen geehrten >Turnvater< Jahn und der seinerzeit eingeführten allgemeinen Wehrpflicht, von der sich die

deutschen Anführer nicht einmal nach zwei restlos verlorenen Weltkriegen trennen können.« Wie wahr!
     Im übrigen scheinen Knoblochs Eltern nicht jenen unguten Druck auf den Jungen ausgeübt zu haben, der heute mindestens zweimal im Jahr vielen Kindern den letzten Schultag vor den Ferien vergällt. Das abgedruckte Abgangszeugnis der Mittleren Reife zeugt von nur mittelmäßigen, vielmehr ausreichenden bis befriedigenden Leistungen. Na und?
     Knobloch, der so viel Berlinisches beschrieben hat, konnte in der DDR kaum über seine »West«-Berliner Kindheit berichten. Und ein entlarvendes Kapitel wie »Ich als Geschenk für Hitler?« hätte allzu eindeutige Assoziationen zur Offizierswerbung der NVA in den Schulen der DDR erweckt. Auch »Jubeln am Straßenrand« und die staatliche Antipathie gegen amerikanische Musik waren uns vertraut. Wobei eine kritische (in Berlin sagt man: krümelkackerische) Anmerkung zu machen ist: Der Swingkönig hieß Jimmie Lunceford, nicht Lanceford. Mehr zu meckern habe ich nicht gefunden.
     Das Buch füllt, wie der Autor anmerkt, die Zeit zwischen seiner Dresdener Kindheit (»Eierschecke«, Berlin 1995) und den Jahren als Soldat und Kriegsgefangener (»Nase im Wind«, Berlin 1994) und besteht – wie könnte es bei Knobloch anders sein – aus fünfundvierzig, durch Fotos und Faksimiles ergänzte Feuilletons, von denen jedes einzelne ein Kabinettstückchen an erzählerischem Charme und an Genauigkeit darstellt. Denn genau nimmt es der geborene Sachse Knobloch allemal: so genau, wie man es eigentlich nur den Preußen nachsagt. Wer wußte schon, daß die Polizei als »Freund und Helfer« einer Rede Heinrich Himmlers von 1934 entstammt? Wie gesagt, bei Knobloch gibt es immer etwas zu entdecken – und sei es über alltäglichen Nationalsozialismus.
Jan Eik
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Claudia von Gelieu
Wegweisende Neuköllnerinnen

Von der Britzer Prinzessin zur ersten Stadträtin
trafo verlag, Dr. Wolfgang Weist, Berlin 1998

Bücher über Berlinerinnen sind auf dem Büchermarkt rar und auch in den Regalen der Bibliotheken nicht gerade zahlreich präsent. Claudia von Gelieu gehört zu den Autorinnen, die sich in diesem Genre bereits ausgewiesen haben. Diesmal wählte sie ein Thema aus einem lokalen Bereich. Frauen aus dem bevölkerungsreichsten Bezirk, aus Neukölln, sind ihr Gegenstand. Für den Titel stand Pate, daß 1996 in Neukölln ein sogenanntes Frauenviertel entstand: 20 Straßen wurden nach Frauen benannt. Diese Benennung bildete auch den Anlaß, das Buch – es wurde im Auftrag des Kultur-Netzwerkes Neukölln herausgegeben – zu initiieren.
     Gefördert wurde es durch das Landesarbeitsamt Brandenburg-Berlin und unterstützt von vielen Sponsoren.
     Viele der »wegweisenden Neuköllnerinnen« wirkten für Berlin in Politik, Wirtschaft und Kultur. Nicht erst seit 1920, als die damalige Stadt Neukölln (das frühere Rixdorf) nebst einigen umliegenden Dörfern zu Berlin kam, verknüpft sich die Geschichte der Frauen Neuköllns mit der Berlins. Die Autorin zeigt, wie Frauen in Neukölln lebten, wie sich ihre Lebenslage im Laufe der Jahrhunderte veränderte, wie sie die Entwicklung Neuköllns beeinflußten. Sie schreibt damit Alltags- und Sozialgeschichte, ohne feministisch überzogene Positionen zu beziehen. Ihre solide Basis bilden umfangreiche Recherchen in Archiven (Neuköllns, der Stadt Berlin, aber auch des Bundes) sowie eine Fülle ausgewerteter Literatur.
     Der Band ist chronologisch gegliedert. Einer Einleitung folgt die Darstellung der Zeitabschnitte

bis 1800, 1800–1918, 1919–1933, 1933–1945 und nach 1945. Ein Geleitwort der Neuköllner Frauenbeauftragten führt in das Werk ein.
     Im ersten Abschnitt erfährt der Leser – und das dürfte für die meisten bisher unbekannt gewesen sein –, wer die erste Neuköllnerin war: Die Urkunde mit der Umbenennung von Rixdorf in Neukölln war am 27. Januar 1912, um 8.45 Uhr, im Rathaus eingetroffen (zu Kaisers Geburtstag!). Die erste Geburtsmeldung verzeichnete das Standesamt mit Gerda Lauffer. Als Ehrengeschenk erhielt sie – wie auch der erste Junge – von den Stadtvätern ein Sparkassenbuch im Werte von 100 Mark. Das war mehr als das Monatsgehalt einer Arbeiterin, doch das Geld blieb bis zur Konfirmation gesperrt, und dazwischen lag die Zeit der Inflation. Leider konnte die Autorin nichts zum Lebensweg der ersten Neuköllnerin ermitteln. In der Einleitung legt die Autorin die vielen Widerstände dar, ehe Frauen durch die Benennung von Straßen im Neubaugebiet auf den Rudower Feldern gewürdigt werden konnten. Damit, so hebt sie hervor, entstand erstmals in Deutschland ein Frauenviertel. Entscheidenden Anteil hatte dabei wohl die Aktion »Frauen aufs Schild«. Neuköllner Straßenschilder – die Widmungsschilder im Bezirk werden als unzureichend kritisiert – tragen nun die Namen u. a. von Elly Heuss-Knapp, Käte Frankenthal, Elisabeth Seibert, Helene Weber, Jeanette Wolff.
     Den Abschnitt über die Zeit bis 1800 beginnt Gelieu mit der »Britzer Prinzessin«, so der Name eines 1951 gefundenen frühgeschichtliches Skeletts aus dem 6. Jahrhundert. Seine Ausgrabung wurde geleitet von der Direktorin des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin, Gertrud Dorka, der als erster Frau in Deutschland die Führung eines staatlichen Museums übertragen worden war.
     Ins Gedächtnis gerufen werden »sagenhafte Frauen«, Buckower Hofbesitzerinnen im 17./18. Jahrhundert, das Freifräulein von Knyphausen und
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Religionsimmigrantinnen, die Böhminnen. Das Kapitel 1800 bis 1918 behandelt Frauen in alten und neuen Frauenberufen, die Bildungswege und -möglichkeiten für Mädchen, Wohltätigkeits- und Jungfrauenvereine sowie die politische Betätigung von Frauen. Der erste für Rixdorf nachgewiesene Frauenverein war die Evangelische Frauenhilfe, die 1882 mit 45 Mitgliedern gegründet wurde, der erste Hinweis auf einen Arbeiterinnenverein findet sich 1900. Als erste Ärztin wurde am Krankenhaus Neukölln 1914 Elfriede Kuhr eingestellt – sie war nach 1945 dann auch die erste Frau, die Stadträtin wurde und das Gesundheitsressort im Bezirksamt leitete. Besondere Würdigung erhält die Stadtverordnete Anna Deutschmann.
     Im anschließenden Kapitel (1918–1933) ist zu erfahren, daß bereits im Mai 1919 eine Stelle als Leiterin der Frauenberatungsstelle in Neukölln ausgeschrieben war, die aber – nach einer Absage – erst im Februar 1920 durch Ilse Eggert besetzt werden konnte. Vorgestellt werden u.a. die Fürsorgerin Marianne Hapig, die Sexualberaterin Charlotte Wolff, die Bibliotheksleiterin Helene Nathan und die Lehrerin Gertrud Rosenow. In Neukölln lebte Mitte der zwanziger Jahre auch die später nach Brasilien auswandernde Olga Benario (-Prestes), eine Galerie in der Weserstraße trägt heute ihren Namen.
     Im Kapitel 1933–1945 lenkt die Autorin das Augenmerk auf den Widerstand der Frauen gegen den Nationalsozialismus in Neukölln. In der Nazi-Zeit wurden, wie bisher nachgewiesen, 328 Frauen aus politischen Gründen verhaftet. Die Autorin verdeutlicht, wie schnell die neuen Machthaber die aus der Weimarer Republik stammenden Ansätze zur Gleichbehandlung liquidierten und Frauen aus dem Berufsleben verdrängten. Und auch das gehört zur Geschichte jener Jahre: Charlotte Reimann wurde vom Bezirksamt bedrängt, ein viertes Kind zu bekommen, Hitler sollte Pate werden, sie weigerte sich.
Das letzte Kapitel behandelt die Zeit nach 1945. Unmittelbar nach Kriegsende entstand auch in Neukölln ein Frauenausschuß, seinen Aufruf »Rettet die Kinder« unterzeichneten Marie Wolter und Dora Lösche als Vorsitzende. Der Ausschuß wurde 1947 durch das Bezirksamt aufgelöst. Damit begann, so die Autorin, die Zurückdrängung der Frauen aus der Politik und dem öffentlichen Bereich. Auch für diese Publikation gilt, wie allzuoft für heimatgeschichtliche Literatur, daß dieser Zeitabschnitt mit nicht einmal 20 Seiten viel zu knapp behandelt wird. Zudem konzentriert sich die Autorin auf die Jahre bis 1947/48. Hatte Neukölln danach keine interessanten Frauen mehr?
     Der Band ist durchgängig gut bebildert, was leider nicht für die Bildqualität gilt. Zahlreiche Auszüge aus Originialtexten, Interviews, Autobiographien und bisher noch nicht veröffentlichten Erinnerungsberichten zeichnen ein authentisches Bild von der Lebensweise und dem Alltag. Insgesamt gewinnt der Leser einen plastischen Eindruck vom Leben der Frauen im 19./20. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Bezirks Neukölln. Sichtbar werden die Auswirkungen der Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits-, Wohnungs- und Bildungspolitik auf die Lebensverhältnisse. Hinweise auf weitere Publikationen erhält der Leser in einem Literaturverzeichnis. Ein »Frauen«-Register anstelle eines Personenregisters ermöglicht leider nur die zielgerichtete Suche nach den im Text aufgeführten Frauen, die Männer bleiben ausgeschlossen. Aber sie sind auch ansonsten kaum erwähnt.
     Der Autorin ist es gelungen, eine Lücke zu füllen. Bisher waren in Arbeiten zur Neuköllner Heimatgeschichte – wie anderswo auch! – Frauen nur beiläufig behandelt oder gar nicht erwähnt worden. Daß die Überwindung dieses Defizits nicht vollständig gelingt, ist bei dem bisherigen Forschungsstand, der Quellenlage und nicht zuletzt bei dem mit solchen Arbeiten verbundenen enormen Zeitaufwand nicht verwunderlich. Schließ-
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lich kann in kurzer Zeit nicht nachgeholt werden, was jahrzehntelang versäumt wurde.
     Zu wünschen wäre, daß auch zu anderen Berliner Bezirken ähnliche Arbeiten vorgelegt werden.
Herbert Mayer

 

Hans-Joachim Beeskow
Führer durch die evangelischen Kirchen des Kirchenkreises Lübben

Heimat-Verlag Lübben 1998

Stadtbaurat Ludwig Hoffmann hat bei der Konzipierung des nun endlich von den Wunden des Zweiten Weltkrieges wieder ganz genesenen Märkischen Museums beim Unterbau des Gebäudes bewußt auf das Charakteristikum brandenburgischer Kirchenbauten zurückgegriffen: den Feldsteinsockel. Das dürfte auch jenes Merkmal sein, mit dem sich die märkischen Kirchen als Bauwerke in die deutsche Kunstgeschichte eingeschreint haben – zu den weltbekannten Kostbarkeiten sakraler Kunst gehören sie ja (nimmt man den Bau der märkischen Mutterkirche – den Dom zu Brandenburg – einmal aus) nun eben nicht. Aber ein näherer Blick auf Dorf- und Kleinstadtkirchen enthüllt diese Bauwerke oft genug als kleine historische Juwelen mit berührenden Aussagen über den kulturgeschichtlichen Wert einer kargen Landschaft, wie sie die Mark Brandenburg darstellt. Natürlich legt Beeskow nicht das erste Inventar von Kirchenbauten im heutigen Bundesland gleichen Namens vor – solche Vorhaben gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück und haben auch schon zu wertvollen Übersichten geführt – aber es ist das erste, das sich in den Grenzen der neuen administrativen

Gegebenheiten bewegt. Denn nach der staatlichen Kreisreform des Jahres 1993 hat sich auch mit der üblichen und traditionellen Verspätung die Evangelische Landeskirche neue Verwaltungsgrenzen gesetzt (glaube nur niemand, daß diese sich den staatlich verordneten angepaßt hätten!) und per 1. März 1998 ihre Kirchenkreise neu geordnet.
     Für den neuen, vergrößerten, Kirchenkreis Lübben liegt mit dem Büchlein nun eine komplette Übersicht über alle 89 Kirchengebäude vor, die Baugeschichte, Bauzustand und Ausstattung erfaßt. Das älteste Bauwerk (die typische Feldsteinkirche zu Riedebeck) stammt aus der Zeit um 1200, das jüngste (die Kapelle in Falkenberg bei Uckro) aus dem Jahre 1914. So sind also alle Architekturrichtungen zwischen Romanik und Jugendstil vertreten. Sehr schöne, vom Autor stammende Fotografien liefern jeweils eine (farbige) Außenansicht des Gebäudes und instruktive (schwarzweiße) Einblicke ins Innere. Außenansichten wie Baugeschichten erinnern uns immer wieder daran, daß die umspannten acht Jahrhunderte stets auch von Krieg und Kriegsgeschrei widerhallten – die Spuren des letzten Kanonendonners von 1945 sind noch immer an einigen Kirchen präsent (vgl. besonders die Stadtkirche von Calau!). Wer auf Entdeckungsreise in die vor der Haustür Berlins liegende Spreewald-Region plus deren Umfeld auszieht, sollte künftig auf Beeskows instruktiven Kirchenführer nicht verzichten.
Kurt Wernicke
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