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Heiko Schützler
Notrationen zum Überleben

Zur Ernährungslage in Berlin 1945

Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es zur Plünderung von Lebensmittellagern durch die Bevölkerung gekommen. Dies geschah zum Teil mit Duldung der Verwaltung, die verhindern wollte, daß die Vorräte in Feindeshand gelangten. Am 21. April 1945 wurden Lebensmittelkarten vorfristig aufgerufen,1) tags darauf gab es Fleisch, Zucker und Konserven sogar ohne Marken.2) Als am 25. April die SS auf ihrem Rückzug das Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz sprengte, dürften auch Vorräte vernichtet worden sein. Das zu seiner Erbauungszeit größte Kaufhaus des Kontinents (mit eigenem U-Bahn-Anschluß) war zuletzt als Vorratsmagazin verwendet worden. Ob, wie anzunehmen, die Sprengung Todesopfer unter der plündernden Bevölkerung gefordert hat, konnte nicht eindeutig ermittelt werden.3)
     Während der Besetzung Berlins verteilte die Rote Armee aus ihren Beständen Lebensmittel an die Bevölkerung. Um eine notdürftige Versorgung zu sichern, hatte Oberstleutnant Krol, Chef der Versorgungsstelle der

Stadt Berlin, beim Stadtkommandanten mit Datum vom 5. Mai 1945 eine »Provisorische Regelung der Organisation über die Lebensmittelversorgung der Berliner Bevölkerung«4) erlassen. Darin wurden die Art und Weise der Verteilung sowie die Rationierung der Lebensmittel festgelegt. Zur Verdeutlichung erfolgt eine gerundete Bestimmung der Kalorienwerte gemäß Lebensmitteltabelle. Geht man von einem durchschnittlichen Tagesbedarf eines erwachsenen Menschen von 2 500 kcal bei durchschnittlicher körperlicher Belastung aus, wird das Ausmaß der Not sichtbar. Auf Lebensmittelkarten sollten folgende Rationen ausgegeben werden:

Für Erwachsene deutscher Staatsangehörigkeit:
200 g Brot, 25 g Fleisch, 400 g Kartoffeln,
10 g Zucker, 10 g Salz, 2 g Kaffee
(rund 900 kcal)

Für Kinder bis 14 Jahre:
150 g Brot, 25 g Fleisch, 200 g Kartoffeln,
10 g Zucker, 5 g Fett, 10 g Salz, 1 g Kaffee
(rund 650 kcal)

Für Angehörige der Alliierten Staaten:
400 g Brot, 75 g Fleisch, 500 g Kartoffeln,
20 g Zucker, 20 g Salz, 5 g Kaffee
(rund 1 600 kcal)

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Für Arbeiter, Angestellte und technisches Personal von Fabriken, Werken, Kommunalen Anstalten und Behörden, wirtschaftlicher Betriebe, des gesamten Handelsverkehrs, von Heilanstalten und anderen zur Versorgung der Bevölkerung eingesetzten Betrieben galten erhöhte Rationen:
350 g Brot, 50 g Fleisch, 600 g Kartoffeln,
20 g Zucker, 5 g Fett, 20 g Salz, 3 g Kaffee
(rund 1 500 kcal)

Bei diesen geringen Mengen konnte es sich nur um vorläufige Notrationen handeln, zum Überleben waren sie kaum geeignet. Es mußte daher umgehend eine Lösung für längere Zeit gefunden werden. Zu diesem Zwecke fand am 11. Mai eine Besprechung zwischen dem Stadtkommandanten Bersarin und dem zukünftigen Stadtrat für Ernährung, Andreas Hermes, statt.5) Dabei wurde festgestellt, daß es für eine effiziente Versorgung mit Lebensmitteln zunächst erforderlich sei, die Bevölkerungsstruktur zu ermitteln, um eine Einteilung in fünf Gruppen vornehmen zu können. Des weiteren mußte sofort festgestellt werden, welche Lebensmittel erforderlich sind. Zur Bereitstellung dieser Lebensmittel sollte eine entsprechende Infrastruktur entstehen, dazu waren arbeitsfähige bzw. schnellstmöglich wieder herzurichtende Betriebe zu ermitteln: Bäckereien, Schlächtereien und Fleischwarenfabriken, Molkereien und Meiereien, Kuhställe mit Angabe der Anzahl der Kühe, Milchgeschäfte, Lebensmittelgeschäfte,

Apotheken und Drogerien, Kartoffel- und Gemüsegeschäfte, Marmeladenfabriken, Lebensmittelfabriken.
     Erfaßt werden mußten auch die Krankenhäuser mit der Anzahl der belegten Betten. Der Stadtkommandant verlangte außerdem Angaben über die Vorräte bei einzelnen Händlern sowie in den Lagern der Verwaltungsbezirke. Weiterhin war die Frage des Transports zu klären, das heißt die Anzahl der zur Verfügung stehenden Fahrzeuge und der Betriebsstoffe war zu ermitteln. Auch der Versorgungsgrad der Bäckereien mit Kohle sollte festgestellt werden.
     Nach dieser Besprechung wurden durch die Stadtverwaltung am 13. Mai die folgenden vom sowjetischen Stadtkommandanten festgelegten Lebensmittelsätze pro Person und Tag öffentlich bekanntgegeben:6)

I. Schwerarbeiter und Arbeiter in gesundheitsschädlichen Betrieben:
600 g Brot, 80 g Nährmittel, 100 g Fleisch,
30 g Fett, 25 g Zucker, 400 g Kartoffeln,
dazu monatlich 100 g Bohnenkaffee,
100 g Kaffee-Ersatz, 20 g echten Tee, 400 g Salz
(rund 2 600 kcal)

II. Arbeiter, die nicht in schweren oder gesundheitsschädlichen Berufen tätig sind:
500 g Brot, 60 g Nährmittel, 65 g Fleisch,
15 g Fett, 20 g Zucker, 400 g Kartoffeln,
dazu monatlich 60 g Bohnenkaffee,
100 g Kaffee-Ersatz, 20 g echten Tee, 400 g Salz
(rund 2 100 kcal)

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III. Angestellte:
400 g Brot, 40 g Nährmittel, 40 g Fleisch,
10 g Fett, 20 g Zucker, 400 g Kartoffeln,
dazu monatlich 60 g Bohnenkaffee,
100 g Kaffee-Ersatz, 20 g echten Tee, 400 g Salz
(rund 1 700 kcal)

IV. Kinder:
300 g Brot, 30 g Nährmittel, 20 g Fleisch,
20 g Fett, 25 g Zucker, 400 g Kartoffeln,
dazu monatlich 25 g Bohnenkaffee,
100 g Kaffee-Ersatz, 20 g echten Tee, 400 g Salz
(rund 1 500 kcal)

V. Nichtberufstätige Familienangehörige und die übrige Bevölkerung:
300 g Brot, 30 g Nährmittel, 20 g Fleisch,
7 g Fett, 15 g Zucker, 400 g Kartoffeln,
dazu monatlich 25 g Bohnenkaffee,
100 g Kaffee-Ersatz, 20 g echten Tee, 400 g Salz
(rund 1 300 kcal)

Daß die Rationen der Gruppe I außerdem für Intelligenzberufe, Künstler und leitende Personen der Stadt- und Bezirksverwaltungen sowie der großen Industrie- und Transportunternehmen galten,7) führte verständlicherweise zu Verärgerungen. Karl Maron (KPD), Stellvertreter des Oberbürgermeisters, sah sich gezwungen, diese Festlegung vor den Bezirksbürgermeistern

als »Anreiz« zur Arbeit zu rechtfertigen.8)
     Am 15. Mai traten die Versorgungsgruppen in Kraft. Die Rote Armee stellte umfangreiche Lebensmittellieferungen zur Verfügung.9) Einem Zeitzeugen erschien es, als pumpe man nach Berlin hinein, was immer die Vorratslager hergeben. Um den Sieg zu sichern, bekämpfe man den Hunger.10)
     Trotz aller Bemühungen gelang es nicht, der schnell anwachsenden Bevölkerung eine ausreichende Ernährung zu sichern. In einer damals vorgenommenen Untersuchung wird sie vorsichtig als »teilweise recht ungenügend« bezeichnet und geschlußfolgert, daß auch in den kommenden Jahren mit einer erhöhten Sterblichkeit zu rechnen sei.11) Kinder von sechs bis 14 Jahren wiesen ein Untergewicht von 10 bis 20 Prozent auf, bei den Erwachsenen sah es nicht viel besser aus: In der Altersgruppe 18 bis 35 Jahre betrug das Untergewicht 5 Prozent, auch bei den über 40jährigen war es erheblich. Die über 60jährigen wiesen gar 15 Prozent Untergewicht auf.12)
     Probleme gab es auch dabei, die wenigen Lebensmittel gerecht zu verteilen. Aus der Ernährungsbilanz von Anfang Juli 1945 wird das deutlich.13) Im Juni belief sich der Bedarf an Fett auf eine Million Kilogramm. Diese Menge konnte aber nicht bereitgestellt werden, es fehlten 363 000 kg, also etwa ein Drittel. Während sechs Bezirke voll
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versorgt werden konnten, fehlte Fett in 15 Bezirken. Das führte zu Unruhen. Dieser Mißstand konnte durch die Abteilung für Ernährung aber nicht abgestellt werden, da er größtenteils auf das eigenmächtige Handeln einzelner Bezirkskommandanten zurückging. Erschwerend kam hinzu, daß Marschall Shukow am 7. Juli die westlichen Alliierten aufgefordert hatte, die Verpflegung ihrer Sektoren selbst zu übernehmen, da sich die Sowjetunion dazu nicht mehr in der Lage sah.14)
     Die Versorgung mit Milch war zu diesem Zeitpunkt nur für Kinder bis zu zwei Jahren gesichert, in einzelnen Bezirken auch bis zu drei Jahren. Kranke und schwangere Frauen konnten zunächst nicht versorgt werden, ein Zustand, auf dessen Gefahren die Ärzte wiederholt hinwiesen. Zur Verbesserung der Milchversorgung wurden in den größeren Parks Ziegen gehalten. Zwar stand auf dem Lande Milch für Berlin bereit, doch da sie nicht transportiert werden konnte, verdarben große Mengen an Ort und Stelle.
     Die Brotversorgung konnte gewährleistet werden. Ein Problem ergab sich hier durch die Demontage des Mühlenbetriebes der Firma Sarotti in Tempelhof. Die diesem Betrieb eingegliederte Kindernährmittelfabrik war restlos abgebaut worden. Der Bericht verweist darauf, daß gerade zur Bekämpfung der herrschenden Magen-Darm- Epidemie Haferprodukte wichtig gewesen wären.
Bei der Kartoffelversorgung kam es zu erheblichen Mängeln, weil die Kartoffeln von schlechter Qualität und nicht mehr lagerfähig waren. Marmelade wurde nicht zur Verfügung gestellt. Grund war der Mangel an Zucker, hervorgerufen durch die Zerstörung der größten für Berlin arbeitenden Zuckerfabrik im Oderbruch.15)
     Fleisch konnte in den erforderlichen Mengen zugeteilt werden. Die Obst- und Gemüseversorgung funktionierte sehr mangelhaft. Sie oblag dem freien Handel und blieb weit hinter dem Bedarf zurück. Immerhin konnte am 19. November die allgemeine Schulspeisung aufgenommen werden.16)
     Eine weitere Erscheinung war die Manipulation mit Lebensmittelkarten. In der Volkszählung vom 28. Juli 1945 hatte sich eine Differenz zwischen der Bevölkerungszahl und den ausgegebenen Karten von 110 465 Karten ergeben, die zuviel ausgegeben waren. Mit Schreiben vom 26. September forderte die Alliierte Kommandantur den Oberbürgermeister auf, diesen Widerspruch zu untersuchen.17) Ob die Einführung von 40 Pfennig Ausgabegebühren pro Lebensmittelkarte diesem Umstand abhelfen konnte, ist zweifelhaft.18)
     Die mangelhafte Ernährung führte zu schweren gesundheitlichen Problemen in der Stadt.
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Quellen:
1     Olaf Groehler, Das Ende der Reichskanzlei, Deutscher Verlag der Wissenschaft (Illustrierte Historische Hefte, 1), Berlin 1976, S. 8
2     Jacob Kronika, Der Untergang Berlins, Wolff-Verlag Flensburg, Hamburg 1946, S. 134 sowie Emilie Karoline Gerstenberg, Die Schlußphase der russischen Eroberung Berlins 1945. Ein Westender Tagebuch, Post Presse, München 1965, S. 9 f.
3     Vgl. Felix Escher, Neukölln, Colloquium 1988 (Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke, hrsg. von Wolfgang Ribbe, Band 3), S. 82
4     Landesarchiv Berlin, Abteilung Zeitgeschichte (LAZ), Nr. 2129
5     LAZ, Aktenvermerk unter Nr. 3650
6     »Tägliche Rundschau« vom 15. 5. 1945
7     Vgl. Verordnungsblatt der Stadt Berlin, 1. Jg., 1945, S. 6
8     Vgl. Hans J. Reichhardt, »... raus aus den Trümmern«. Vom Beginn des Wiederaufbaus in Berlin (Ausstellungskatalog), Transit-Verlag, Berlin 1987, S. 81 f.
9     Matthias Menzel, Die Stadt ohne Tod, Berliner Tagebuch 1943–1945, Habel 1946, S. 216; Vgl. LAZ Nr. 8500/19, Magistratsprotokolle 1945, und LAZ Nr. 2732
10     Matthias Menzel, a. a. O.
11     Die Entwicklung der Bevölkerung von Berlin in den Jahren 1816–1946 unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen des Krieges, bearbeitet von Erdmann-Müller, Generaldirektion Kraftverkehr und Straßenwesen, Berlin, 17. 9. 46; BArch DE-1-St/6926, S. 27
12     Ebenda
13     Bericht über die Ernährungslage in Berlin, Anfang Juli 1945, erstattet vom Generalreferenten in der Abteilung für Ernährung des Magistrates, Heinricht, auf der Konferenz der Bezirksbürgermeister in der Sitzung am 11. Juli 1945, 16.00 Uhr; LAZ Nr. 3832, RdB, Protokoll 1945
14     Vgl. Hans J. Reichhardt, a. a. O.
15     Vgl. Protokoll der Sitzung des Magistrats vom 18. Juni 1945, Stadtrat Dr. Hermes, LAZ Nr. 8500/3
16     »Tägliche Rundschau« vom 20. 12. 1945
17     Anordnung der Alliierten Kommandantur vom 26. September 1945, LAZ Nr. 12284
18     Anordnung der Alliierten Kommandantur vom 12. November 1945, LAZ Nr. 12348
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