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Laurenz Demps
Der Fliegeralarm vom 1. September 1939 und seine Folgen

Berlin am 1. September 1939, am Abend. Viele Stadtbewohner sind verwirrt ob der Nachrichten über den Kriegsbeginn. Eine Begeisterung darüber, daß es nun wieder Krieg gibt, kann man wohl nur in den Kreisen antreffen, die mit den Nazis engliiert sind. Zu stark ist noch die Erinnerung an die vier Jahre Weltkrieg von 1914 bis 1918. Um 18.55 Uhr heulen die Sirenen auf; der erste Fliegeralarm steht der Stadt bevor.
     Die Stadtverwaltung hat seit 1937 vorbereitende Maßnahmen für mögliche Luftangriffe getroffen, die vor allem im bürokratischen Bereich galten und in der psychologisch- propagandistischen Vorbereitung auf den Abwurf von Gasbomben bestanden. Dazu fanden mehrere Luftschutz- und Verdunkelungsübungen statt. Die Bevölkerung sollte auf Luftangriffe eingestellt werden, ohne daß direkt gesagt oder erklärt wurde, warum mit ihnen gerechnet werden muß.
     Allein die Deutsche Reichspost hatte gemeinsam mit der Luftwaffe ab Ende 1937

mit der Installation von Luftschutzsirenen begonnen, die dann auch erprobt worden waren. An diesem 1. September werden sie nun erstmals – wie es schien – für den Ernstfall in Betrieb genommen. Verwirrt, weil darauf nicht vorbereitet, reagieren die Berliner und nehmen die Entwarnung um 19.00 Uhr erleichtert zur Kenntnis. Es scheint noch einmal gutgegangen zu sein. Ein Schrecken von fünf Minuten. Aber die an diesem Tage kritische Situation steigert die Unruhe unter den Bewohnern der Stadt, und es entsteht das Gerücht, daß es zwei polnische Flugzeuge gewesen seien, die Berlin angegriffen hätten. Tatsächlich aber waren es zwei Flugzeuge der Luftwaffe, die versehentlich in den geschützten Luftraum über Berlin eingeflogen sind und so den Alarm ausgelöst haben.
     Bestürzung herrschte in der Bevölkerung zunächst, weil alles so schnell und ohne Vorwarnung geschehen war. Fieberhaft begannen die städtischen Behörden und die Einrichtungen der NSDAP, Aktivitäten auszulösen, um die Menschen auf mögliche Luftangriffe vorzubereiten. Und sie trafen Maßnahmen, die darauf hinausliefen, der Bevölkerung der Stadt die Illusion eines Schutzes zu geben. Diese Maßnahmen sollten auch dazu beitragen, Panik zu verhindern. In Panik geratene Menschenmassen, so fürchteten die Nazis, könnten ihnen leicht entgleiten. War der Alarm am 1. September auch blinder Alarm, war
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er doch erstes Zeichen kommender Entwicklungen.
     Der nächste Fliegeralarm wurde dann am 9. September um 3.35 Uhr in der Nacht ausgelöst. Er dauerte 45 Minuten. Auch bei diesem Alarm traten in Berlin keine Schäden auf, die Stadt wurde nicht von Flugzeugen überflogen. Obwohl bei beiden Alarmen Berlin in keiner Weise betroffen war, zerstörten sie doch die Auffassung, die Stadt sei durch ihre geographische Lage geschützt. Man war solange der Meinung, Berlin läge so weit von den Grenzen entfernt, daß Luftangriffe aufgrund der Reichweite der damaligen Flugzeuge nicht stattfinden könnten. Außerdem, so die Meinung, würden die eigenen Truppen den Gegner so schnell in seinen Basen vernichten, daß die wenigen Flugzeuge, die die Stadt doch erreichen könnten, gar nicht erst zum Starten kämen.
     Dieser Alarm beschleunigte die Aktivitäten zur Beruhigung der Bevölkerung. Die Anlage von Luftschutzkellern wurde in Angriff genommen. Im Prinzip waren das größere Kellerräume, die notdürftig hergerichtet und durch primitive Konstruktionen zusätzlich gestützt wurden. Sand- und Wassereimer wurden bereitgestellt, die »Feuerpatsche«, ein Gerät ähnlich einem Dreschflegel zum Ausschlagen von beginnenden Bränden, verteilt. Zusätzlich wurden dann noch Spitzhacken, Schaufeln und weitere primitive Geräte ausgegeben.
Luftschutzwarte, in der Regel die Blockwarte der NSDAP, wurden eingesetzt, die Bewohner eines Hauses waren nun eine »Luftschutzgemeinschaft«, die ihr Haus zu »verteidigen« hätte.
     Eine Erkundungsaktion in den Staatsgebäuden begann, bei der »bombensichere Keller« festgestellt werden sollten, damit ihr Ausbau zu Luftschutzräumen in Angriff genommen werden konnte.
     Als wichtig und in vielen Fällen lebensrettend erwies sich die im Frühjahr 1940 begonnene Aktion »Mauerdurchbruch«, bei der in die Brandmauer der Häuser Durchbrüche geschlagen wurden. Falls das Haus über ihnen zerstört würde, sollten sie den Überlebenden im Luftschutzkeller die Möglichkeit geben, durch das Nachbarhaus ins Freie zu gelangen. Gegen diese Mauerdurchbrüche wehrten sich viele Hausbesitzer, weil sie die Sicherheit nicht mehr gewährleistet sahen. Deshalb wurden diese Durchbrüche nur noch markiert und für den Ernstfall vorbereitet. Zwischen April und Juli 1940 kam es zur Anlage von 2 157 derartiger Durchbrüche.1)
     In einer »Sonderaktion Mutter und Kind« wurden spezielle Bunker für Frauen und Kinder eingerichtet. Bei Abschluß der Aktion gab es »29 427 Kinder- und 1 892 Frauenbetten« in »«luftschutzmäßig gesicherter Unterbringung«.2)
     Bunker für den Schutz der Zivilbevölkerung gab es nicht. Auch zu diesem Zeitpunkt
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hat niemand daran gedacht, derartige sichere Schutzräume für die Einwohner der Stadt zu bauen. Die Entwicklung an den Fronten und die der Luftangriffe trug dazu bei, daß diese Sorglosigkeit sich zunächst fortsetzen konnte. Im eigentlichen Sinne gab es keinen sicheren passiven Schutz für die Bevölkerung, die in den folgenden Monaten und Jahren Opfer der abenteuerlichen Kriegsführung der Nazis wurde.
     Zunächst aber herrschte in den Führungskreisen Sorglosigkeit vor, die tatsächlichen Gefahren wurden verdrängt. Nur so ist es zu erklären, daß der erste Bombenabwurf weder von den Behörden noch von der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Am 7. Juni 1940 war es dem französischen Bombenflugzeug »Charlemagne« gelungen, unbemerkt Deutschland zu überfliegen und im Bezirk Pankow Bomben abzuwerfen.
     Von den bei diesem Bombenabwurf beschädigten Häusern liegen Fotos im Heimatmuseum Pankow vor.3)
     Ernster wurde die Situation dann während der Luftschlacht um England. Die deutsche Luftwaffe griff Ziele in britischen Städten an und begann, insbesondere durch Flächenbombardements, Arbeiterviertel zu zerstören. Diese Angriffe sind mit dem Bombardement der Stadt Coventry auf immer verbunden. Die Royal Air Force flog in der Folge Angriffe auf deutsche Städte im norddeutschen Raum und im Ruhrgebiet, aber es war nur eine Frage der Zeit bis zum er-
sten Angriff auf Berlin. Und wenn dieser Angriff auch nur mit geringen Kräften unternommen werden konnte, er sollte und mußte zeigen, daß die britische Seite reaktionsfähig ist.
     Der Angriff erfolgte am 26. August 1940; die Luftschutzsirenen heulten um 00.19 Uhr auf. 22 britischen Bombenflugzeugen war es gelungen, bis nach Berlin zu kommen. Sie warfen ihre todbringende Last über Wartenberg und Rosenthal ab. Es gab etwa 100 Beschädigungen, aber keine Toten. Fast die Hälfte der Schäden war durch Splitter von Flakgeschossen hervorgerufen worden.
     Am 29. August fand dann der erste Angriff auf die Innenstadt statt. Etwa 30 Flugzeuge warfen ihre Bomben auf die Gegend um das Kottbusser Tor im Bezirk Kreuzberg, weitere fielen im Bezirk Tiergarten. Zehn Menschenleben waren zu beklagen, 28 Personen wurden verletzt.
     Die Wirkung dieses Angriffes war nachhaltig, der Führung, aber auch der Bevölkerung wurde bewußt, daß der Krieg nach Berlin griff und die Bevölkerung der Stadt sich dem nicht entziehen konnte.
     Nun folgten Aktivitäten auf drei Ebenen:

1.     Da die Gefahr bestand, daß die Berliner Bevölkerung ihren Unmut, wenn nicht sogar mehr, bezeugte, wurde die NSDAP mobilisiert. Am 23. August 1940 gab die Gauleitung Berlin in einem umfangreichen Dokument Verhaltensmaßregeln für den

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Zerstörungen am Wittenbergplatz
»Umgang mit der Bevölkerung bei Luftangriffen« heraus. Nicht eine Minute sollten die Betroffenen alleine gelassen werden und ständig der Disziplinierung unterworfen bleiben. Das Motto hieß: »Durch diesen Bereitschaftsdienst muss der Bevölkerung gezeigt werden, dass die NSDAP sich um ihr Wohlergehen bemüht. Zugleich soll die Tätigkeit dieser Männer eine wirksame Unterstützung der Tätigkeit der Polizei und der Stadt darstellen.«4) 2.     Die primitiven Schutzmaßnahmen hatten sich als nicht ausreichend erwiesen. Ein Bunkerbauprogramm wurde aufgelegt. Dazu wurde am 30. September 1940 eine Weisung über die »Errichtung von Luftschutzbauten in Berlin« eingeholt.5) Es folgte der Bau der Flaktürme am Zoo, im Friedrichshain und im Humboldthain. Weiterhin war geplant, 300 Bunker mit einer Kapazität zwischen 300 und 1 200 Personen zu errichten. Tatsächlich gebaut wurden
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etwa 120. Der passive Luftschutz konnte etwas erweitert werden, aber die Mehrheit der Bevölkerung blieb auf die primitiven Mittel des Selbstschutzes angewiesen.

3.     Verstärkung des aktiven Schutzes der Millionenstadt durch den Ausbau des Jagdschutzes der Luftwaffe und der Flakartillerie um Berlin. Tatsächlich blieb die Bevölkerung der Millionenstadt weitestgehend ohne Schutz und mußte sehen, wie sie mit den Luftangriffen zurecht kam.6)
     Die folgenden Monate brachten eine Vielzahl von Fliegeralarmen, von denen einige bereits sehr heftig waren. Im Jahr 1942 gab es dann neunmal Fliegeralarm; es waren kleine Angriffe der sowjetischen Luftstreitkräfte sowie Beobachtungsflüge. Andere Teile des Deutschen Reiches und der okkupierten Länder erlitten dagegen immer schwerer werdende Angriffe.
     Grundlegend änderte sich die Situation mit Beginn des Jahres 1943. Die trügerische Ruhe war mit den Angriffen auf Berlin am 16. Januar, 17. Januar, 1. März, 27 März und 30. März zu Ende. Die Abwürfe wurden immer heftiger. Im Zusammenhang mit den Großangriffen auf Lübeck, Hamburg und das Ruhrgebiet sowie den Ereignissen insbesondere an der Ostfront machte sich die Erkenntnis breit, daß die Bevölkerung der Stadt nicht zu schützen ist.
     Unter allen Möglichkeiten der Erweiterung des passiven Schutzes setzte sich in den Führungsgremien der Gedanke durch,

eine Abwanderung der Berliner Bevölkerung zu organisieren, d.h. die nicht in der Produktion und Verwaltung gebrauchten Bewohner Berlins ab August 1943 in Gegenden des Staatsgebietes zu transportieren, von denen anzunehmen war, daß sie nicht durch alliierte Bomber angegriffen werden.
     Dieser wenig beachtete Vorgang dokumentiert in besonderer Weise das Abwälzen der Lasten des Krieges auf die Menschen: die Umsiedlung, die Ungewißheit über das Schicksal der Menschen, die man zurücklassen mußte, die Ungewißheit über den Zustand der Wohnung in Berlin. Außerdem wurden die Berliner vor allem in die Neumark, nach Schlesien und Westpreußen gelenkt. Das bedeutete, daß sie sich ab Herbst und Winter 1944 in die Flüchtlingstrecks mit ihrem tragischen Schicksal einreihen mußten.
     Es kann geschätzt werden, daß sich etwa zwei Millionen Menschen der angestammten Berliner Bevölkerung dieser erzwungenen Abwesenheit von ihrer Stadt zu unterwerfen hatten, darunter etwa 600 000 Kinder, die zum Teil von ihren Eltern getrennt wurden. Viele Berliner verloren so ihr Leben in den Kriegswirren, andere durften, wollten oder konnten nicht mehr in die Stadt zurückkehren.
     Nach Berlin wurden in dieser Zeit ausländische Zwangs- und Fremdarbeiter transportiert; im Sommer 1944 betrug ihre
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Zahl 381 500.7) Etwa ein Drittel der Toten der Luftangriffe auf Berlin waren ausländische Arbeitskräfte, die gegen ihren Willen in der Stadt sein mußten.
     Die Wirkung dieser Angriffe über den gesamten Zeitrum des Krieges, insgesamt wurde 388 mal Fliegeralarm gegeben, ging über die tatsächliche materielle Zerstörung der Stadt weit hinaus. Die Lebensgrundlagen wurden zwar nicht nachhaltig zerstört, aber im Verein mit dem Bruch des Jahres 1933 in der Tradition der Stadt sowie der politischen Entwicklung nach 1945 verlor Berlin seine überragende Stellung im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben.

Quellen und Anmerkungen:
1     Landesarchiv Berlin/Stadtarchiv (im weiteren LAB/StA), Rep. 01, Generalbüro, Nr. 1688, Bl. 141
2     Landesarchiv Berlin, Provinz Brandenburg, Rep. 107, Nr. 4, o. Bl.
3     Siehe dazu Rudolf Dörrier, Pankow, Chronik eines Stadtbezirkes, Berlin 1971, S. 95
4     LAB/StA, Nr. 16148, Versorgung von Obdachlosen nach Luftangriffen, o. Bl.

5     Landesarchiv Berlin, Provinz Brandenburg, Rep. 107, Nr. 4, Bl. 401. Diese Weisung ist nicht in dem sonst sehr gründlichen Werk »Führer-Erlasse 1939–1945«, zusammengestellt von Martin Moll, Stuttgart 1997, enthalten
6     Siehe dazu Olaf Gröhler, Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990, S. 238 ff.
7     Siehe Laurenz Demps, Dokumentation zur Zahl der ausländischen Zwangs- und Fremdarbeiter in Berlin, in: Berliner Geschichte, Dokumente, Beiträge Information, hrsg. vom Stadtarchiv Berlin, Heft 7/1986, S. 23 ff.

Bildquelle: Archiv

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