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Hans-Peter Doege/ Eberhard Fromm
Ein Leben für soziale Ziele

Mathilde Kirschner

In der Straße Alt-Moabit 38/39, im Zentrum des Stadtbezirks Tiergarten, zwischen Otto- und Gotzkowskystraße, liegt das Mathilde-Kirschner- Heim. Alt- und Neubau des Heimes heben sich durch ihr gepflegtes Äußeres wohltuend von den Nachbarhäusern ab. Früher war der Altbau vollständig mit Efeu überzogen, der jedoch der Renovierung der Fassade zum Opfer fiel.
     Wenn man das Heim betritt, fühlt man sich in die Zeit um die Jahrhundertwende zurückversetzt. Versuchen wir einmal, uns das heutige Heim mit seinem früheren Leben vorzustellen.

Eine Adresse mit langer Tradition

Gleich rechts in der Eingangshalle des Hauses befindet sich eine kleine Pforte, in der eine Pförtnerin saß. Viele Jahre saß hier das einstige Kindermädchen der Familie Kirschner. Sie war als Zugehfrau im Heim angestellt und gehörte quasi zum lebenden In-

ventar. In der Erinnerung ehemaliger Heimbewohnerinnen lebte diese alte Frau noch viele Jahre, weil sie die Kartoffeln so schön dünn schälen konnte. Nachts fungierte der Hausmeister als Pförtner, um den Frauen, wenn es erforderlich war, den Zutritt zu ermöglichen. Allerdings: Wer zu spät kam – also nach 22 Uhr –, mußte einen geringen Obolus entrichten.
     Hinter dieser Loge lag die Kaffeestube. Ausgeschenkt wurden Kaffee, Tee oder andere alkoholfreie Getränke, und es gab Kuchen und Gebäck, aber auch belegte Brote und Schrippen zu niedrigsten Preisen. Hier hatten die Frauen auch die Möglichkeit, sich mit ihren Freunden oder Bekannten zu treffen. Dies geschah weitgehend unbeaufsichtigt, wenn es auch in einer Ecke ein erhöhtes Kämmerchen mit einem Fenster gab, von dem aus sicher manches Mal die Heimleiterin oder gar die »Mutter Oberin« einen prüfenden Blick in die Kaffeestube geworfen haben wird.
     Weiter befinden sich im Erdgeschoß zwei Säle, von denen der größere Einsegnungen und anderen Festlichkeiten diente. Hier steht noch ein kleiner Brunnen, über dem sich eine Majolikaarbeit »Maria Magdalena am Brunnen« befindet. Der Brunnen aus Marmor stammt aus Italien, wo er 1664 geschaffen wurde. Er kam als Beutestück nach Berlin; 1988 wurde er von dem Maler M. Janson restauriert. Neben dem großen Saal war eine Bibliothek untergebracht, die man
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über eine kleine Empore betrat, die auch als Bühne genutzt werden konnte. Manche dieser Räumlichkeiten verwandelten sich tagsüber in eine Volksküche, in der warme Mahlzeiten an die notleidende Bevölkerung verteilt wurden. Zu dieser Volksküche gehörten auch jene Räume, die nach 1945 vom Bezirksamt für eine Kindertagesstätte angemietet wurden und in denen bis vor kurzem der Stadtteilladen Gesundheit e. V. untergebracht war.
     Früher gab es in der Eingangshalle eine große Wandeldiele mit einem vom Bildhauer Hugo Lederer (1871–1940) gestifteten Brunnen, der heute im Hof des Neubaus Alt-Moabit 39 steht. Zu der um die Jahrhundertwende aus Muschelkalksandstein geschaffenen Anlage gehört ein in die Wand eingelassener und ein freistehender Brunnen. Obwohl diese Brunnen noch völlig intakt sind, sind sie heute zu Blumenkübeln umfunktioniert worden.
     Ursprünglich wurde das Heim als Zuhause für junge Fabrikarbeiterinnen geschaffen. Die kleinen Zimmer – alle hatten eine Länge von vier Metern und eine Breite von zwei Metern zwanzig – waren eingerichtet mit einem bequemen Bett, Schrank, Tisch, einem Hocker, einem Waschtisch und einer abschließbaren Sitztruhe. Diese einfachen, aber praktischen und auch ansehnlichen Möbel hatten in jeder Etage eine einheitliche Farbe, so daß es ein rotes, grünes, braunes usw. Stockwerk gab. Hinzu kamen in

Mathilde Kirschner

 
allen Etagen Gemeinschaftseinrichtungen, die das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohnerinnen stärken sollten: eine Küche, ein heller, freundlicher Aufenthaltsraum, ein Musikzimmer und ein Leiterinnenzimmer.
     Nahezu sensationell und vorbildlich für die damalige Zeit war die Einrichtung von WCs und Badezimmern auf jeder Etage. Die Preise für die möblierten Zimmer waren so niedrig, daß eine Arbeiterin sie auch bezahlen

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konnte. Je nach Lage kosteten sie 8,50 Mark bis 10 Mark monatlich inklusive Bettwäsche, Hand- und Wischtücher. Ein Bad wurde mit 10 Pfennig, ein reichliches, gutes Mittagessen mit 30 Pfennig berechnet.
     Mit den Jahren veränderte sich die Funktion des Heimes, auch die Preise stiegen; so hatte sich die Miete Mitte der dreißiger Jahre verdoppelt. Man begann über eine Umnutzung nachzudenken. In den drei Komplexen (Vorderhaus 38 und 39 und ein Seitenflügel) wohnten zeitweilig bis zu 176 Bewohner. Die ursprüngliche Absicht, Arbeiterinnen im Haus Nr. 39 und bürgerliche Frauen im Seitenflügel unterzubringen, wurde immer weniger zeitgemäß. Auch kamen immer mehr verheiratete Paare dazu. Zeitweilig plante man auch, Wohnungen notleidenden Künstlern anzubieten. Eine wirkliche Konzeption und eine entsprechende Modernisierung wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet. Der Umbau des Komplexes zum Seniorenwohnhaus mit 54 Wohneinheiten wurde 1982 fertiggestellt.

Querelen um eine engagierte Frau

Eine Gedenktafel erinnert daran, wem dieses Heim seinen Namen verdankt. Die Inschrift lautet recht lapidar:
MATHILDE-KIRSCHNER-HEIM /
ZUM GEDÄCHTNIS AN DIE GRÜNDERIN /
* 10. 5. 1875 † 29. 4. 1951.

Eigentlich wollte Mathilde Kirschner solche Ehrungen nicht. So wie das Familiengrab in Friedrichsfelde ohne Stein und Tafel geblieben ist, wünschte sie sich Erinnerung allein in den Köpfen und Herzen der Menschen. Deshalb erfolgte die Namensgebung des Hauses erst nach ihrem Tod 1951, und die Gedenktafel existiert erst seit dem 28. April 1952. Ohnehin ist es erstaunlich, daß dies überhaupt geschehen konnte. Denn Friedrich Bachmann, der erste kommunistische Nachkriegsbürgermeister von Tiergarten, wollte das Heim beschlagnahmen und beschimpfte Mathilde Kirschner als »Erzfaschistin und Erzmonarchistin«. Daß er dann frühzeitig über seine dunklen Machenschaften stolperte, als Bürgermeister abgelöst und aus seiner Partei ausgeschlossen wurde, verhinderte zwar die Beschlagnahme des Hauses, doch Mathilde Kirschner hatte noch andere Gegner. So zweifelte auch der damalige Stadtrat Bruno Lösche ihre demokratische Einstellung an und legte dem diakonischen Werk nahe, eine andere Person mit der Leitung des Hauses zu beauftragen.
     Wie massiv der Druck auf Mathilde Kirschner war und in welch schwieriger Situation sie sich befand, geht aus einem handschriftlichen Protokoll, das sie für sich anfertigte, vom 25. 7. 1945 hervor:
Es erscheint der Bürgermeister Bachmann. Er beschimpft mich sofort, daß ich die Kaiserbrosche trage (so etwas gehöre in den Antiquariat-Raritätenkasten). Ich wäre deutschnational – meine Erwiderungen hört er nicht an.
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Er behauptet, ... es wäre der Kirche nicht an den Häusern gelegen, nur mir (falsches Spiel !). Sie hätten mir ein Schreiben gesandt, daß ich abgesetzt sei, – dieses, sage ich, hat nie ein amtliches Siegel gehabt. Der Bürgermeister war ganz unorientiert, hat auch das Schreiben von Hagen nicht erhalten, als ich mein Mitteilungsschreiben darüber vorlese – allgemeines Entsetzen. Bürgermeister besteht darauf, daß ich als Oberin am 1. 8. das Heim zu verlassen hätte. Wie es mit meiner Mietzahlung wäre! (ich, die ich die Häuser erbettelte, ehrenamtlich arbeitete ...) Der Bürgermeister wiederholt immerzu, daß diese Heime nicht kirchlich wären, sondern staatlich, dem Bezirk gehörten, auch von ihm Unterstützung erhalten hätten. Ich erwidere oder will erwidern, was alles nicht wahr ist, was sie behaupten ... Man läßt mich nicht zu Wort kommen. Nur wirft mir der Bürgermeister zuletzt an den Kopf, das ich die faschistischste Person bin, die es auf der Welt gibt (toller ausgedrückt), daß ich dem Kaiser Treue hielt, der soviel verbrochen hätte, mindestens soviel wie der faschistische Staat. Ich bitte ihn, mir das schriftlich zu geben, er weigert sich wiederholt, das zu tun; er würde es mir noch schreiben ... Der Bürgermeister behauptet, er hätte noch zu bestimmen, wenn er auch schon abgesetzt sein sollte.
     Wer war diese Frau nun wirklich, die sich gegen diese massiven Anklagen mit den Sätzen zur Wehr setzte:

Ausschnitt aus einem ihrer Protokolle

 
Ich habe immer nur nach sozialen Gründen und nach sozialen Zielen in meiner Arbeit gehandelt ... Ich habe mich nie politisch betätigt ... Von meinem Vater habe ich die Toleranz ererbt.
     Mathilde Kirschner wurde am 10. Mai 1875 in Breslau geboren, wo ihr Vater Martin Kirschner (1842–1912; siehe BM 6/98) seit

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Die Dienstzeit Kirschners war äußerst erfolgreich. Er setzte sich für die Einführung der achtklassigen Gemeindeschulen 1902 ein, unterstützte die Arbeit seines Stadtbaurates Ludwig Hoffmann (1852–1932) und engagierte sich für die Entwicklung des Verkehrswesens der Stadt. Unter dem von ihm geführten Magistrat entstanden der Osthafen und das Klinikum in Buch, das Stadthaus in Mitte, das Märkische Museum u. a. heute noch vorhandene repräsentative Bauten.
     Besonders setzte er sich für die Entstehung von Groß-Berlin
Möbliertes Zimmer
1873 als Stadtrat tätig war. Wie ihr Bruder Martin, der später Mediziner wurde, und ihre drei Schwestern erhielt sie eine gute Schulbildung und wurde als Lehrerin ausgebildet. Später erlernte sie auch noch in München und London den Beruf einer Krankenschwester. 1893 übersiedelte die Familie nach Berlin. Hier war Martin Kirschner Bürgermeister unter Oberbürgermeister Robert Zelle (1829–1901), bevor er im Juni 1898 zum Oberbürgermeister der Stadt gewählt wurde. Allerdings dauerte es bis zum 23. Dezember 1899, ehe die damals erforderliche Bestätigung im Amt durch Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) einging. Kirschners Amtssitz hatte der Berliner Volksmund deshalb schon in »Wartburg« umgetauft. und die damit verbundenen Eingemeindungen ein. Schon 1903 hatte der Magistrat umfassendes statistisches Material in einer Denkschrift über die Beziehungen zwischen Berlin und seinen Nachbarorten zusammentragen lassen, und 1906 formulierte Kirschner in einem Bericht an den preußischen Innenminister, daß ein Groß-Berlin als eine wirtschaftliche Einheit eine unabänderliche Tatsache sei, daß für die Verwaltung dieses großen Körpers in irgendeiner Weise eine rechtliche Form geschaffen werde müsse. Mit dem »Zweckverband Groß-Berlin« konnte er sich allerdings nicht anfreunden, sondern blieb bei seiner Vorstellung einer Einheitsgemeinde – ein Ziel, dessen Verwirklichung im Jahre 1920 er selbst nicht mehr erlebte. Im Mai 1912 aus gesundheitlichen Gründen
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Das Heim Alt-Moabit 38/39
zum Rücktritt gezwungen, starb er am 13. September 1912 in Ehrwald/Tirol und wurde auf dem Lichtenberger Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt.
     Noch im Mai hatte ihm die Stadt die Ehrenbürgerwürde verliehen, und die Universität hatte ihn mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Im Nachruf von Leo Mugdan, dem Wortführer der Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung, hieß es:
Wir haben den Verstorbenen stets hoch geschätzt als charaktervollen Mann von unantastbarem Gerechtigkeitsgefühl, dessen Ja Ja
und dessen Nein Nein gewesen ist ... Diese Wertschätzung zählt um so mehr, als Kirschner – Angehöriger der Freisinnigen Partei – stets ein entschiedener Gegner der Sozialdemokratie war, sich aber nicht scheute, 1887 im Breslauer Geheimbundprozeß aus Rechtsgründen zwei Sozialdemokraten, also politische Gegner, zu verteidigen.
     Übrigens: In Berlin erinnert nur noch der Kirschnerweg in Neukölln an diesen langjährigen und für die Stadt so erfolgreichen Oberbürgermeister!
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Von ihrem Vater hatte Mathilde viel gelernt, vor allem, wie sie betonte, ein stets tolerantes Verhalten gegenüber anderen Menschen, ganz gleich welcher politischer, religiöser oder nationaler Gesinnung oder Herkunft sie waren. Von ihrer Mutter übernahm sie dazu das soziale Engagement.
     Margarethe Kirschner, geborene Kahlbeck (1853–1923), gehörte zu den aktiven Mitgliedern der bürgerlichen Frauenbewegung in Berlin, die sich um den 1888 von Minna Cauer (1841–1922) als Frauenbildungsverein gegründeten Verein »Frauenwohl« gruppierten. Sie war Mitbegründerin der »Frauen- und Mädchengruppen für soziale Hilfsarbeit«, leitete zeitweilig den Verein »Hauspflege« und gehörte anderen Vereinen wie dem für häusliche Gesundheitspflege und für Volkserziehung an.
     So ist es nicht verwunderlich, daß Mathilde ihrer Mutter in diesem Engagement folgte, sie mit ihrer Zielstrebigkeit und Zähigkeit bei der Durchsetzung ihrer sozialen Pläne sogar übertraf.

Im Mittelpunkt: junge Arbeiterinnen

Mathilde Kirschner erkannte schon sehr früh, daß ein besonders dringliches Problem die allgemeine Notlage junger Arbeiterinnen, insbesondere deren Wohnungsnot, darstellte. Gerade unter den Fabrikarbeiterinnen im industriellen Kerngebiet von Moabit zeigte sich das deutlich: Die Frauen

und Mädchen hatten meist nur eine Schlafstelle, eine sanitäre Ausstattung fehlte völlig; etwa 26 000 Frauen waren um die Jahrhundertwende in Berlin obdachlos. Sie beschrieb die Lage dieser Frauen so:
     Frauen, die unverheiratet, nicht in der Familie wohnen, leben kümmerlich, einsam in möblierten Zimmern, Schlafstellen, ohne ein eigenes Zimmer zu besitzen. Die Frau wird nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in seelischer Beziehung in ihren Lebenskräften gehemmt.
     Daher setzte sich Mathilde Kirschner das Ziel, nicht irgendeine soziale Hilfe zu leisten, sondern stellte sich die Aufgabe – die schließlich zu ihrem Lebensinhalt wurde –, für junge Arbeiterinnen solche Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen, die die Entwicklung ihrer »Lebenskräfte« unterstützen sollten. Dazu mußte sie Geldgeber gewinnen, dafür brauchte sie Grundstücke, alles mußte gut organisiert und abgesichert werden. Mathilde Kirschner wollte nicht einfach bessere Schlafstellen schaffen, ihr ging es um das ganze Umfeld der Frauen. Deshalb plante sie Wohnheime mit einer ganz spezifischen Ausstattung, die keinerlei Anstaltsgeist aufkommen ließ. Ein Heim also, in dem man sein eigenes Zuhause sah – ohne Beschränkungen, außer denen der gegenseitigen Rücksichtnahme, mit Möglichkeiten, sich weiterzubilden, Abendkurse zu besuchen oder sich sportlich zu betätigen.
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Mathilde Kirschner mit Wilhelm II. im Kaiser-Wilhelm- Kinderheim Ahlbeck

Um ihre Ziele durchzusetzen, nutzte Mathilde Kirschner all ihre Beziehungen – auch die über ihre Eltern –, um an Geld, Genehmigungen, Grundstücke usw. heranzukommen. Selbst von der Kaiserfamilie bekam sie Unterstützung. Als sie in einem Ahlbecker Kinderheim auf Drängen des Kaisers als Oberin eingesetzt werden sollte, machte sie ihre Zusage von einer Unterstützung für ihre Berliner Frauen abhängig. Daraufhin erhielt sie Grundstücke im Friedrichsthaler Forst bei Ahlbeck auf Usedom, wo in der Folgezeit die Erholungssiedlung »Sonnendorf« für die Berliner Arbeiterinnen aus Mathilde Kirschners Wirkungskreis und deren Kinder entstand.
     Wichtig war natürlich auch ein Organisationsrahmen. Dazu gründete sie den Frauen-
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Oberin Mathilde Kirchner, 1951

 
verein »Arbeiterinnenwohl«, der 1904 aus dem bisherigen Verein »Abendheim« hervorging, und 1928 entstand der deutschlandweit agierende »Reichsverband Deutscher Heimleiterinnen«. Schließlich engagierte sich Mathilde Kirschner auch auf kommunaler Ebene. Auf der Liste der 1918 gegrün-

deten Deutschen Volkspartei (DVP) wurde sie mit der Schaffung von Groß-Berlin 1920 Bezirksverordnete im neuen Stadtbezirk Tiergarten und arbeitete von 1920 bis 1924 als unbesoldete Stadträtin.

Ihr Lebenswerk: die Heime

Bei der Durchsetzung ihrer Pläne für ein Frauenheim begann sie mit ganz kleinen Schritten. Nach Anfängen in der elterlichen Wohnung mietete sie im Oktober 1899 in der Turmstraße 52 im Quergebäude eine Wohnung mit drei Zimmern und einer Küche, wo die ersten Abendkurse abgehalten werden konnten. Ab Mai 1900 gab es dort einen Mittagstisch, und im Oktober standen sechs Schlafstellen zur Verfügung. Danach folgten mehrere Umgezüge: So in eine Wohnung des Vorderhauses Alt-Moabit 89 und in die Kaiserin-Augusta-Allee 23, wo es 1905 bereits 38 Schlafstellen gab. 1907 konnte dann das Grundstück Alt-Moabit 39 gekauft werden. Am 5. Mai 1908 feierte man Richtfest für den vom Architekten Schweitzer entwickelten Bau, der Platz für 100 Betten bieten sollte. Am 1. Dezember erfolgte der Ein- und Umzug. Schon im Januar 1909 wurde der Brunnen, den Hugo Lederer (1871–1940) dem Heim geschenkt hatte, aufgestellt. Durch Zukauf entstand dann 1912 im Gartenhof Alt-Moabit 38 ein Heim mit 50 Betten. In den dreißiger Jahren kam es zu Erneuerungen und

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Anbauten, so daß schließlich ein stattlicher Wohnkomplex zur Verfügung stand. Hier sah Mathilde Kirschner ihre Vorstellungen verwirklicht, hier lebte sie seither gemäß ihrem Lebensziel.
     Während des Ersten Weltkrieges sah sie eine Aufgabe darin, die Wohnungsnot der Berliner Munitionsarbeiterinnen zu lindern – und damit »für den Sieg« zu arbeiten. Mit Unterstützung des Kriegsministeriums schuf sie mehrere solcher Heime, so in Spandau und in Tiergarten. Einige dieser Heime hatten eine Kapazität von über 200 Plätzen. Alle diese Einrichtungen konnten jedoch nach Kriegsende nicht weitergeführt werden, so daß sich die Arbeit von Mathilde Kirschner auf zwei Bereiche konzentrierte: auf das Heim in Alt-Moabit und auf das »Sonnendorf« auf Usedom.
     In der NS-Zeit wurden Verein und Heim dem Amt für Volkswohlfahrt unterstellt, aus der Oberin Kirschner machte man die Führerin.
     Bei Kriegsende war der Wohnkomplex in Alt-Moabit relativ unbeschädigt; im Februar 1946 wohnten 152 Menschen im Heim.
     Mathilde Kirschner hielt allen Attacken der frühen Nachkriegsjahre stand. Selbst eine vom Bezirksamt ausgesprochene Entlassung brachte sie nicht aus der Fassung; sie mußte bald als unrechtmäßig zurückgenommen werden, da sie nie Angestellte der Stadt gewesen war. So konnte sie bis zu ihrem Tod am 30. April 1951 ihrem Verein und
ihrem Heim treu bleiben. Wenn auch gerade die letzten Jahre des zielstrebigen und rastlosen Lebens der Mathilde Kirschner voller Schwierigkeiten und persönlicher Querelen waren, so hat sie diese stets im Interesse ihrer Arbeit durchgestanden. Auch nach ihrem Tode kam es noch zu erheblichen Widrigkeiten, die im Ringen um ihr Erbe entstanden.
     Mathilde Kirschners Lebensansichten waren sicher eher konservativ. Dabei spielten der Einfluß ihrer Eltern und ihre Bindung an national- konservative Kreise wohl eine Rolle. Auch ihre eindeutig monarchistische Haltung ist unbestritten – immerhin wurde sie von Wilhelm II. sogar in seinem Testament bedacht. Ebenso unbestritten ist aber auch ihr Engagement in der Jugend- und Sozialarbeit im Bezirksamt Tiergarten während der Weimarer Republik. Und: Trotz ihrer Stellung im Verein und im Heim während der NS-Zeit war sie kein Mitglied der NSDAP geworden. Statt dessen hat sie in ihrem ganzen Leben die von ihr betonte Toleranz gegenüber allen Menschen gepflegt. Und sie hat mit ihrer engagierten Arbeit ein Lebenswerk geschaffen, das allein den sozial schwachen Frauen ihrer Zeit zugute kam.

Bildquelle:
Archiv H.-P. Doege

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