67   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Nächste Seite
Roland Schiffter
Der Vater der klinischen Neurologie

Der Arzt Moritz Heinrich Romberg (1795–1873)

Moritz Heinrich Romberg war der erste und wichtigste unter den Begründern der Neurologie und einer der bedeutendsten Reformatoren der Medizin. Er schuf mit seinem Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen 1840–1851 das Fundament der Neurologie und zugleich das erste moderne, naturwissenschaftlich begründete und systematisch konzipierte Lehrbuch der Medizin.
     Romberg wurde am 11. November 1795 in der thüringischen Residenzstadt Meiningen geboren. Nach dem Tode des Vaters, als der kleine Moritz vier oder fünf Jahre alt war, zog seine Mutter mit ihm und seiner Schwester nach Berlin, wo er dann sein ganzes langes Leben verbrachte. 1812, zwei Jahre nach ihrer Gründung, bezog er die Berliner Universität, wo er zunächst etwas Philosophie bei Friedrich August Wolf (1759) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), dann aber Medizin studierte und im März 1817 promovierte. Seine Vorbilder und Lehrer waren Karl Asmund Rudolphi (1778–1832),

Moritz Heinrich Romberg

 
der Anatom und Physiologe, Christian Wilhelm Hufeland (1762–1836), der Kliniker und frühe Sozialhygieniker, der das menschliche Leben verlängern wollte, Karl Ferdinand von Graefe, der Chirurg und Pionier der Augenheilkunde, und die beiden Internisten und frühen bedeutenden Psychiater Ernst Horn (1774–1848) und Johann Christian Reil (1759–1813), aber auch die väterlichen Freunde Ernst Ludwig Heim (1747–1834) und Johann Peter Frank (1745–1821) aus Wien.
     Zunächst war Moritz Heinrich Romberg

SeitenanfangNächste Seite


   68   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Vorige SeiteNächste Seite
Armenarzt in den Armendistrikten zwischen Rosenthaler Straße, Scheunenviertel und Hackeschem Markt. Er blieb dies 25 Jahre lang. Wenn er mit seinem kleinen Einspänner vorbeikam, riefen die Leute: »Da fährt unser Romberg.« Er wohnte bis 1851 in der Neuen Friedrichstraße 36.
     Schon frühzeitig hatte er sich die Erforschung der Erkrankungen des Nervensystems zur Lebensaufgabe gestellt, weshalb er zunächst 1818/19 zwei Jahre lang in der Charité Sektionen von Verstorbenen mit Hirn- und Rückenmarkserkrankungen durchführte.
     Schon ab den 20er Jahren verfaßte er klinische und neurologisch- neuropathologische Publikationen in bemerkenswerter Zahl. Dabei führte er auch eigene Tierexperimente durch, zum Teil zusammen mit seinem Freund Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847).
     1830 habilitierte er sich über Hirnblutungen. Vorher mußte er allerdings zwei schwere Hürden überwinden: Die Frau des Invaliden Piesack hatte ihn hochoffiziell beim Vorstand des Armendistrikts der Giftmischerei beschuldigt und angezeigt. Sie hatte sich mit einer eigenmächtig überhöhten Dosis Bilsenkraut intoxikiert, das Romberg ihr wegen Unterleibsspasmen, freilich korrekt dosiert, verschrieben hatte. Romberg wurde rasch freigesprochen. Dann mußte er samt Söhnchen Ernst Robert und Ehefrau Frederike Johanna, geborene von Halle,
zum christlichen Glauben übertreten, da die Fakultät nicht gewillt war, einen Juden zu habilitieren.
     Romberg wurde zu einem der beliebtesten und dann auch berühmtesten medizinischen Hochschullehrer der jungen Universität. Er lehrte innere Medizin einschließlich Nervenkrankheiten und förderte als einer der ersten die damals neu aus Frankreich eingeführten Methoden der Perkussion und Auskultation.
     1831/32 und 1837 war er jeweils Leiter eines der Berliner Cholera-Lazarette. Auch bei der Erforschung dieser schlimmen Seuche hat er an klinischen und experimentellen Arbeiten mitgewirkt und darüber vor der Medizinisch-Chirurgischen Gesellschaft berichtet.
     So hat er zum Beispiel Hunden und Katzen das Blut von Cholerakranken verfüttert oder auch injiziert. Sie sind, für ihn überraschend, gesund geblieben. Hielt er die Tiere aber in Käfigen dicht bei den Sickergruben für die Exkremente der Cholerakranken, starben alle Tiere an den typischen Symptomen dieser Seuche. Er vertrat mit dem Chirurgen Rust (1775–1840) die Ansteckungstheorie schon 50 Jahre vor Robert Koch (1843–1910).
     Sein Freund, der junge Arzt Hans Calow, hatte damals gegen Rusts und auch Rombergs Protest ein wahnwitziges, tödliches Selbstexperiment durchgeführt: Er hatte Blut von einem Cholerakranken getrunken,
SeitenanfangNächste Seite


   69   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Vorige SeiteNächste Seite
um zu beweisen, daß das Choleragift nicht im Blut ist, sondern mit der Luft übertragen wird. Er starb wenige Wochen danach gemeinsam mit zweien seiner Söhne und dem Hauswirt seiner Wohnung in der Charlottenstraße 12. Von den 1 417 Choleraopfern des Jahres 1831/32 war übrigens Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) der letzte, der in seinem Hause Am Kupfergraben 3 an der Krankheit starb. Eigentlich müßte Romberg damals auch Bettina von Arnim (1785–1859) getroffen haben, die ja eine große Geldsammlung für die Choleraopfer veranstaltet hatte. Leider habe ich bisher keine Belege dafür gefunden.
     1842 wurde Romberg zum Leiter des »Königlich

Die ehemalige Bleizuckerfabrik in der Ziegelstraße, in die Romberg 1850 mit seinem »Poliklinischen Institut« einzog
SeitenanfangNächste Seite


   70   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Vorige SeiteNächste Seite

Rombergs Lehrbuch, 2. Auflage

 
Poliklinischen Instituts« ernannt. Die Poliklinik war 1810 von Hufeland in drei Zimmern des östlichen Flügels des Universitätsgebäudes gegründet, später in den westlichen Flügel verlegt und mit einem Hörsaal versehen worden. Im Juni 1848 hat Romberg hier auch die Verletzten des Sturmes auf das Zeughaus ärztlich versorgt.
     1850 zog er mit der Poliklinik in die Ziegelstraße, wo sie bis in unsere Zeit hinein verblieb. Bis 1847 war dort sein berühmter

Freund Dieffenbach, der Begründer der plastischen Chirurgie, tätig gewesen. Hier wirkte er bis zu seiner Emeritierung im 69. Lebensjahr unermüdlich als fürsorglicher Arzt der Armen, als Lehrer seiner Studenten und als klinischer und experimenteller Erforscher der Erkrankungen des Nervensystems. Zu seinen Studenten sagte er einmal: »Während im Hospitale nur die Krankheit des Menschen den Zuhörer fesselt, lernt er hier den Menschen in der Krankheit kennen.« 1865 übergab er die Leitung der Poliklinik dem damals noch als Internisten tätigen und später als Psychiater sehr bedeutenden Wilhelm Griesinger (1817–1868).
     Romberg war ein außerordentlich beliebter und liebenswürdiger Lehrer und Vorgesetzter, er publizierte über 60 größere wissenschaftliche Arbeiten und verfaßte schließlich das erste naturwissenschaftlich begründete und nach dem »physiologischen Princip« ausgerichtete Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen, dessen Systematik noch heute imponiert. 1840 erschien die erste unvollständige, 1851 die zweite, dann vollständige Auflage beim Berliner Verlag Alexander Duncker.
     Wahrscheinlich erfand Romberg auch das Wort Neurologie und nannte als erster sich und die Vertreter dieses Fachgebietes Neurologen. Das Buch kann auch mit guten Gründen als das erste moderne, sich auf Anatomie, Physiologie, Experimente, Pathologie
SeitenanfangNächste Seite


   71   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Vorige SeiteNächste Seite

Rombergs Wohnung (Pfeil) Am Zeughaus 2, Gemälde von Enslen, 1834
und lange klinisch- praktische Erfahrung gründende und von naturphilosophischen Spekulationen freie Lehrbuch der Medizin betrachtet werden. Insofern war er ein Reformator der Medizin. Man kann das Buch noch heute mit viel Gewinn lesen und dabei neben seinem berühmten Rombergschen Versuch auf Seite 185 oder den Rombergschen Syndromen (Nervusobturatorius-Neuralgie und Nervusciliaris- Neuralgie) sowie der Rombergschen Krankheit (Hemiatrophia faciei) eine staunenswerte Fülle klinisch- neurologischer Erkenntnisse und Krankheitsbilder beschrieben finden.
     Das Buch war durchaus sensationell und sofort in Deutschland und der übrigen Welt ein Renner und Dauerbrenner par excellence. Die englische Übersetzung der zweiten Auflage erschien 1853 in Großbritannien und den USA; sie blieb hier für Jahrzehnte
SeitenanfangNächste Seite


   72   Porträt Moritz Heinrich Romberg  Vorige SeiteAnfang
das Standardwerk der Neurologie. Übersetzungen ins Holländische und Russische folgten ebenfalls rasch. Auch in diesen Ländern blieb es lange das einzige Lehrbuch.
     Am 29. März 1867 wurde in einem großen und feierlichen Universitäts- und Staatsakt in Berlin das 50. Doktorjubiläum Rombergs gefeiert. Ein Berichterstatter P. nennt in seiner Würdigung in der »Berliner Klinischen Wochenschrift« den Jubilar »unseren ehrwürdigen Romberg« und sagt, er habe die Lehre von den Nervenkrankheiten physiologisch begründet und sich um die »Neugestaltung der Medizin« verdient gemacht.
     Der Dekan der Medizinischen Fakultät, Rombergs Freund Emil du Bois-Reymond (1818-1896), nennt ihn den »Schöpfer der modernen Nervenpathologie«. 1929 bezeichnet Garrison Rombergs Buch als »the first normal traetise on nervous deseases and made an epoch ...« Viets beschreibt 1948 das Werk als »the first systemic book of neuro-logy«. Der Schweizer Medizinhistoriker Ackerknecht notiert 1959 in einem Aufsatz über Rombergs Lehrbuch: »In diesem Buch begegnen wir zum ersten Mal dem, was wir heute als Neurologie bezeichnen.« Klavans sagt 1982: »Modern neurology begins with Romberg.« Spillane hat 1981 in der Oxfort University Press geschrieben, daß Rombergs Buch »the first systemic textbook of neurology« sei und
abschließend konstatiert: »We can regard him as the first clinical neurologist.«
     Moritz Heinrich Romberg ist in seiner Wohnung Am Zeughaus 1-2, in der er über 20 Jahre lebte, am 16. Juni 1873 nach einem erfüllten und erfolgreichen Leben an einer Herzkrankheit gestorben. Sein Grab befindet sich neben dem seiner Frau Frederike auf dem Friedrichswerderschen Friedhof in der Bergmannstraße in Kreuzberg.

Unser Autor, Chefarzt der Abteilung für Neurologie des Krankenhauses Am Urban in Kreuzberg, hat zur Enthüllung der ersten Gedenktafel für Moritz Heinrich Romberg Am Zeughaus 1-2 am 4. Juni 1999 die Laudatio gehalten. Er hat auch die Herstellung, Finanzierung und Anbringung der Tafel organisiert und ihren Text formuliert.

Bildquelle: Roland Schiffter, Moritz Heinrich Romberg, MERZ-Verlag

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de