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Bernhard Meyer
14. September 1846:
Erstes katholisches Krankenhaus in Berlin

Es war an diesem Montag im evangelischen Berlin mit seinen fast 400 000 Einwohnern sofort Stadtgespräch: Vier katholische Ordensschwestern in Begleitung der Generaloberin Ludovine Barre wurden von Fürst Boguslaw Radziwill (1809–1873), dem Dezernenten für Armenpflege im Magistrat, auf dem Potsdamer Bahnhof empfangen. Die Berliner bestaunten die schwarze Tracht und die Flügelhauben der zum Orden »Barmherzige Schwestern des Heiligen Karl Borromäus« gehörenden Xavaria Rudler (1811–1886), Angelika Eschweiler (1820–1896), Alexis Peters (1819–1852) und Eleonore Rentenbach. So gekleidete Frauen hatte man im Stadtbild der preußischen Residenzstadt noch nicht gesehen. Ihr Eintreffen am 14. September 1846, dem katholischen Fest der Kreuzerhöhung, gilt als der Gründungstag des St. Hedwig- Krankenhauses, der ersten katholischen stationären Einrichtung in Berlin.
     Obwohl es in Berlin nur etwa 14 000 Katholiken gab (1817 waren es 6 157), reifte in der St. Hedwig-Gemeinde seit den 30er Jahren die Absicht, für die armen Gläubigen

eine angemessene Unterbringung im Falle dauerhafter und akuter Krankheit zu gewährleisten. Befördert wurde die caritative Denkweise durch den Ausbau der Charité (»Neue Charité« 1834), die 1837 erfolgte Inbetriebnahme des ersten evangelischen Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhauses in der Lützowstraße sowie die Grundsteinlegung zum Bethanien- Krankenhaus 1845. Die jüdische und die französisch- reformierte Gemeinde verfügten bereits seit langem über eigene Krankenhäuser. Zwar unterhielten die Katholiken schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein Hospital als Altenpflegeheim in der Gipsstraße 3, doch das erwies sich für die Behandlung Kranker als unzureichend.
     Der neunte Propst der Berliner Katholiken, Anton Brinkmann (1796–1856), und Fürst Radziwill, eifriger Förderer des Anliegens, leisteten die Vorarbeiten für die Entscheidung König Friedrich Wilhelms IV. vom 14. März 1844, der Berliner katholischen St. Hedwig-Gemeinde ein eigenes Krankenhaus unter Einbeziehung der Barmherzigen Schwestern zu gestatten. Deshalb wurde das Haus Kaiserstraße 29 (Nähe Alexanderplatz, Straßenzug heute nicht mehr vorhanden) erworben. Im Statut vom 28. Dezember 1846 wurde die Aufgabe so festgeschrieben: »Das Krankenhaus hat den Zweck, Kranke beiderlei Geschlechts zur Heilung und zur Pflege aufzunehmen.« Pflegerinnen sollten vom Mutterhaus der Borromäerinnen im franzö-
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sischen Nancy delegiert werden. Dort hatte sich 1652 ein Orden mit dem Ziel gegründet, im Sinne der Barmherzigkeit krankenpflegerisch tätig zu werden. Der Ordensgründer Emanuel Chauvenel wählte den Heiligen Karl Borromäus (1538–1584), Bischof von Mailand, als Namenspatron. Der Hedwig-Gemeinde gelang per Vertrag, geschulte und erfahrene, aus dem Elsaß und aus Lothringen stammende Angehörige des französischen Ordens an die Spree zu holen, die auf Traditionen einer 200jährigen konfessionellen Krankenpflege blicken konnten. Eine Tochter-Kongregation des Mutterhauses entstand 1849 in Trier, die 1872 notgedrungen im Gefolge der Säkularisierung von Staat und Gesellschaft im Rahmen des »Kulturkampfes«, eines von Rudolf Virchow (1821–1902) im Preußischen Landtag gebrauchten Begriffes, in die Selbständigkeit gedrängt wurde. Von dort sind seither viele der Ordensschwestern nach Berlin gekommen.
     Das St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin zählt seit seiner Gründung zu den bedeutendsten Niederlassungen der Borromäerinnen in Deutschland. Damals wie heute sehen sich die Borromäerinnen, wie es die Generaloberin der Kongragation Trier 1996 formulierte, als Menschen, »die aus einer echt christlichen Grundhaltung heraus das Leben in all seinen Höhen und Tiefen akzeptieren und ihm dienen«.
     Es gelang, die Armenfürsorge für Katholiken auf die stationäre Unterbringung auszu-
dehnen, wobei gleichzeitig seelsorgerische Erfordernisse (Pastoralmedizin) integriert wurden. Das ausgewogene Zusammenwirken von Arzt, Priester und Ordensschwester bei der Behandlung von Krankheiten, die Verknüpfung von medizinischer Leib- und pastoraler Seelsorge, Gottes- und Nächstenliebe, geriet zu einem Markenzeichen der Berliner Einrichtung. Zur Unterstützung dieses Anliegens nahm 1854 der erste hauptamtliche Krankenseelsorger, Kuratus Eduard Heinisch (1823–1895), seinen Dienst auf.
     Vom ersten Tage an offen für Patienten aller Stände und Glaubensrichtungen – wie auch die anderen konfessionellen Häuser in Berlin –, erwarb sich das Krankenhaus bald das Vertrauen der Einwohner. Kennzeichnend dafür die Episode vom 18./19. März 1848, dem Höhepunkt der Barrikadenkämpfe während der Märzrevolution, als Bewaffnete im Krankenhaus erschienen und die inzwischen als Oberin eingesetzte Xaveria Rudler fragten, mit wem das Krankenhaus es wohl halten würde. Ihre Antwort: »Wir pflegen Eure Brüder und Schwestern, wir halten es mit unseren Armen und Kranken.« 35 verletzte Kämpfer wurden aufgenommen. Zum 100jährigen Bestehen 1946 vermeldete man die Behandlung von insgesamt 480 000 Kranken, von denen 302 000 Protestanten, 156 000 Katholiken, 12 600 Juden und 13 400 Andersgläubige bzw. Konfessionslose waren.
     Vor der Eröffnung 1846 mußten einige Umbauten in der Kaiserstraße vorgenommen werden.
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Am 3. Dezember fand der erste Patient Aufnahme, dem Weber, Tuchmacher, Näherinnen, Tagelöhner, Dienstmädchen und Arbeitsmänner folgten. Sie erhielten ärztliche Hilfe vom Chefarzt Anton Ernst Schupke (praktischer Arzt, Wundarzt und Augenarzt) und dem Chirurgen und Wundarzt I. Klasse Johann Georg Fieber. Als Gastoperateur erschien gelegentlich der Charité- Ordinarius Bernhard von Langenbeck (1810–1887), der zur Anwendung der gerade entwickelten Narkose beigetragen haben wird. Bereits im Februar 1847 versorgte eine eigene Apotheke die Kranken, der die Ordensschwester Angelika Eschweiler vorstand, die ab 1854 für 30 Jahre das Amt der Oberin versah. Der anfängliche Pflegesatz wurde auf 7 ½ Silbergroschen pro Tag festgesetzt, der allerdings nur von Bemittelten zu entrichten war.
     Der Etat des Krankenhauses wurde von Mäzenen und der preußischen Staatskasse getragen, die anfangs 1 500 Mark jährlich zur Verfügung stellte.
     Bald schon war in der Kaiserstraße die Enge zu spüren, da es sich dort um ein umgebautes Wohnhaus handelte. So reiften Pläne für einen komfortablen Neubau, die vom Dompropst Freiherr Wilhelm Emanuel von Ketteler (1811–1871) zügig vorangetrieben wurden. Die Gemeinde sammelte 60 000 Taler, kaufte fünf Morgen Land und verpflichtete den Kölner Dombaumeister Vincenz Statz (1819–1898) als Architekten.
So konnte bereits am 20. Oktober 1851 Propst Leopold Pelldram (1811–1867) den Grundstein für den Neubau in der Großen Hamburger Straße 10 legen. Der neue Standort, seit fast 150 Jahren unverändert, befand sich in unmittelbarer Nähe zur Charité (Ziegelstraße), zum jüdischen Krankenhaus und der späteren Synagoge, beide in der Oranienburger Straße, dem jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße sowie zur evangelischen Sophienkirche gegenüber – Spiegelbild konfessioneller Toleranz im Zentrum Berlins. Die Eröffnung des dreigeschossigen, aus dunkelroten Klinkersteinen gebauten 250-Betten- Hauses mit dem Grundriß des lateinischen Kreuzes erfolgte am 28. August 1854. Gedacht waren die Betten zunächst für 60 Kranke, 100 Hospitaliten (Altersheimbewohner) und 40 Waisenkinder, die von inzwischen acht Borromäerinnen betreut wurden.
     Bestandteil des Neubaus war auch die am 11. September 1854 eingeweihte Marien-Kapelle.
     Nachdem 1887 die Trennung von der Hedwig-Gemeinde vollzogen und die Form einer »selbständigen Wohltätigkeitsanstalt« gewählt wurde, verfügte die Einrichtung 1898 über etwa 500 Betten. Zwölf Ärzte waren tätig, 48 Borromäerinnen, 16 weltliche Schwestern, 13 Krankenpfleger, ein Seelsorger und 60 weitere Mitarbeiter. Von 1846 bis 1896 erhielten 147 108 Patienten medizinische Hilfe. Anläßlich des 75jährigen
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Bestehens 1921 konnten 620 Betten gezählt werden, für die 214 Mitarbeiter, darunter 60 Ordensschwestern, zur Verfügung standen. In den Jahren der Inflation erwarb man 1924 den ehemaligen Gutshof auf dem Falkenberg bei Berlin-Grünau. Unter dem Namen »Hedwigshöhe« diente es zunächst Mitarbeitern als Erholungsstätte und Patienten zur Rekonvaleszenz. Wie durch ein Wunder blieb das Hedwig- Krankenhaus im Zweiten Weltkrieg fast unzerstört, so daß es als einziges der Krankenhäuser im Zentrum der Stadt funktionstüchtig war und in der schweren Nachkriegszeit wertvolle medizinische Arbeit leisten konnte. Rückgrat der weiterhin katholischen Einrichtung waren die 57 Ordensschwestern, die 1946 hier ihren aufopferungsvollen Dienst versahen.
     Inzwischen kann das St. Hedwig-Krankenhaus in der Großen Hamburger Straße 5–11 auf eine 152jährige Geschichte zurückblicken. Mit etwa 850 Mitarbeitern (1996), unter ihnen 21 Borromäerinnen, ist das Haus der größte Arbeitgeber in der Spandauer Vorstadt. Die insgesamt 513 Betten (1996), davon 405 in Mitte und 108 im Haus »Hedwigshöhe«, verteilen sich auf die Fachgebiete Chirurgie, Innere Medizin, Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten, Intensivmedizin und Urologie. Die Einrichtung wurde 1992 »Akademisches Lehrkrankenhaus der Humboldt- Universität«. Dem Trend verstärkter marktwirtschaftlicher Zwänge im Gesundheitswesen
Rechnung tragend, mußte eine wirtschaftlich rentable Struktur gefunden werden, die mit der am 1. Januar 1995 erfolgten Umwandlung in eine St. Hedwig-Kliniken Berlin GmbH Gestalt annahm. Vorstandsvorsitzender ist seit Januar 1993 Prälat Johannes Tobei. Zum 150jährigen Bestehen bescheinigte der Erzbischof von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky, dem Hedwig-Krankenhaus, die »Stein gewordene Mitteilung der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu sein«. Das alles verhinderte nicht die Absicht, das Krankenhaus im Rahmen der Sparnotwendigkeiten im Gesundheitswesen auf die Streichliste zu setzen. Anfang 1999 kam es zu einer Protestdemonstration aller Beschäftigten einschließlich des Erzbischofs und der Ordensschwestern, die zu einer weiteren Bestandsgarantie führte. Nach wie vor in ausgezeichnetem Ruf stehend, kann das Hedwig- Krankenhaus für sich in Anspruch nehmen, eines der ältesten konfessionellen Häuser auf deutschem Boden zu sein, das heute noch am gleichen Standort existiert.
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© Edition Luisenstadt, 1999
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