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Hainer Weißpflug
Die Silberweide ist Baum des Jahres

Stellvertretend für alle Weidenarten, die in Feuchtgebieten und besonders in periodisch überfluteten Au- und Bruchwäldern zu finden sind, wählte das »Kuratorium Baum des Jahres« für 1999 die Silberweide (Salix alba). Weiden sind durch Flußbegradigungen, Uferbebauungen, Trockenlegung von Feuchtgebieten, Pfuhlen und Teichen, Grundwasserabsenkungen usw. stark gefährdet, ihre Bestände gehen überall in Deutschland zurück.
     Die Silberweide ist ein bis zu dreißig Meter hoher Baum, ihr Stammdurchmesser beträgt rund ein Meter. Durch ihre bis zu 10 Zentimeter langen, lanzettförmigen Blätter, die auf beiden Seiten silbrig seidig behaart sind, kann sie auch der ungeübte Beobachter schon von weitem gut erkennen. Häufig wird sie als Kopfweide gehalten. Die Hänge-Dotterweide (Salix tristis) ist eine Trauer-Silberweide.
     Die Silberweide gehört zu den im Berliner Raum heimischen Baumarten. Die Flußufer von Spree und Havel, Panke, Wuhle, Bäke und vieler Gräben und Fließe, die Ufer der Seen, Teiche und Pfuhle und zahlreiche Feuchtwiesen waren und sind ideale Standorte

orte dieser Baumart. Au- und Bruchwälder waren vor Jahrhunderten typisch für die Landschaft, in der Berlin entstand.
     Mit der Entwicklung der Stadt und ihrer Ausdehnung auf ihr heutiges Territorium ging ein ständiger Prozeß der Eindämmung und Kanalisation von Flüssen und anderen Fließgewässern einher. Ursprünglich vorhandene Spreearme wurden abgesperrt, trockengelegt und bebaut. Mäandrierende Flüßchen wie die Panke wurden im Laufe der Zeit begradigt, die Flußufer vermauert und im Innenstadtbereich sogar unter Tage verbannt. Die Bäke verschwand mit dem Bau des Teltowkanals vollständig, Feuchtgebiete wie die Bäkewiesen wurden in künstlich gestaltete Parkanlagen verwandelt.
     Ähnlich das Schicksal der Pfuhle und anderer Feuchtgebiete: Sie mußten der raschen Stadtentwicklung vor allem um die Jahrhundertwende Tribut zollen. Von ursprünglich 200 Pfuhlen im Bezirk Neukölln existieren heute noch 30, 72 waren es einmal im Bezirk Weißensee, heute können wir sie an unseren Fingern abzählen. Ob in Tegel, Wittenau, Lübars oder Hellersdorf, Marzahn und Pankow – überall gab es zahlreiche dieser Eiszeitzeugen, an deren Ufern Silberweiden und andere Bäume vorhanden waren. Mit der systematischen Einschränkung ihrer Lebensräume verschwanden mehr und mehr diese Baumarten.
     Trotzdem ist Berlin noch immer reich an Silberweiden. In vielen Parkanlagen stehen
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sie, an den Ufern von Spree und Havel, an den wieder begrünten Pankeufern, den Seeufern und den wenigen noch existierenden Pfuhlen: so zum Beispiel im Erlenbruch am Faulen See in Weißensee und im Weißenseepark, am Röthepfuhl und am Türkenpfuhl in Neukölln, im Weidenbruch am Bullengraben und auf der Immenweide in Spandau. Auf letzterer sind besonders auffällige und dominante Exemplare dieser Art vertreten. Aber auch am Pfuhl im Schwarzen Grund, am Krummen Fenn und am Tränkepfuhl sowie am Pappelteich im Düppeler Forst im Bezirk Zehlendorf wachsen sie.
     Neun besonders schöne und alte Exemplare der Spezies Silberweide wurden in die Liste der Berliner Denkmale der Natur aufgenommen: Dazu gehört ein Baum im Weißenseer Ortsteil Karow, Straße 57, der an der Brücke über den Klappgraben steht, ein weiterer befindet sich an der Wuhlebrücke/ Eisenacher Straße in Biesdorf Nord (Marzahn). Im Bezirk Lichtenberg sind als Naturdenkmale ausgewiesen die Silberweiden in der Straße Am Stadtpark, zwei am Rande eines Sportplatzes in der Kynaststraße, je ein Baum in der Lehndorffstraße und in der Treskowallee in Karlshorst und eine Silberweide am Ufer des Rummelsburger Sees am Rande einer Kleingartenanlage.

Die Silberweide

 
Schließlich sei die Heilandsweide in Neukölln erwähnt, die als Naturdenkmal geschützt war. Der Stadtarchitekt Kuno Becker, ein Mitstreiter des ersten Naturschutzkommissars in Preußen, Hugo Conwentz (1885–1922), veröffentlichte 1932 eine kleine Broschüre mit dem Titel »Berliner Naturschutzgebiete«. Darin gibt es auch einen Abschnitt »Geschützte Bäume«, in dem Becker von einer riesigen Silberweide,

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genannt »Heilandsweide«, am Königsgraben in Berlin-Marienfelde berichtet. Friedrich Wilhelm der Große (1620–1688, Kurfürst ab 1640) ließ diesen Entwässerungsgraben anlegen, von dem heute, an der Stelle wo die Weide stand, nichts mehr zu sehen ist. Nach Becker hatte die Weide damals schon das für eine Silberweide auffallend hohe Alter von etwa 200 Jahren. Sie stand an der »Straße 37« in Marienfelde, etwa 60 Meter östlich der Marienfelder Allee. Seit 1927 war die Weide als Naturdenkmal geschützt. Die Baumhöhe betrug 25 Meter, der Stammdurchmesser zwei Meter und der Stammumfang sechseinhalb Meter. Vier Erwachsene waren notwendig, um den Baum mit ausgestreckten Armen zu umspannen.
     In den fünfziger Jahren wurde der Stamm immer morscher, Äste brachen ab. Von seiten der Verantwortlichen im Bezirksamt und der Naturschützer wurde alles Mögliche unternommen, um den Baum zu retten. Man füllte die entstandenen Höhlungen mit Ziegelsteinen, Mörtel und Beton aus und versuchte, mit Eisenbänder den Stamm zusammenzuhalten. Er wurde zusätzlich mit Wasser versorgt, Bordsteine und Straßenpflaster wurden weiträumig um den Baum herumgeführt, damit Wasser und Luft an die Wurzeln gelangen konnten – aber all dies konnte nicht verhindern, daß der Baum 1956 gefällt werden mußte. An seiner Stelle wurde eine junge Silberweide gepflanzt, die nun auch schon 40 Jahre alt ist. Sie und die
in »An der Heilandsweide« umbenannte Straße erinnern an den mächtigen Baum.
     Selten konnte über so viele stattliche und auch als Naturdenkmale geschützte Vertreter einer als Baum des Jahres ausgewählten Art in Berlin berichtet werden. Oft waren es nur kümmerliche Reste ehemals reicher Vorkommen. Damit der Bestand der Silberweiden erhalten bleibt, ja noch wächst, müßte darauf verzichtet werden, weitere Feuchtgebiete trocken zulegen.
     Verkehrsprojekte wie der Ausbau der Berliner Wasserstraßen für den Verkehr der großen Euro-Schubverbände mit einer Länge von 110 bis 185 Meter und 11,5 Meter Breite sowie 2,85 Meter Tiefgang müßten verhindert oder doch nachhaltig beeinflußt werden im Interesse bestehender Biotope. Allein beim Ausbau der Havel würden nach Aussage von Berliner und Brandenburger Umweltexperten bedeutende Teile der Mäander, Inseln und Altarme der Havel verschwinden. Uferbefestigungen, Brückenneubau und andere Maßnahmen führten ebenso wie obengenannte Flußbegradigungen zur Einschränkung der Lebensräume für Arten wie die Silberweide. Wenn der Gesamtprozeß ihres Rückganges nicht aufgehalten werden kann, dann werden wir schon bald die Silberweide auf der Roten Liste der bedrohten Arten wiederfinden. Einsicht und Vernunft sollten das zu verhindern wissen.

Foto: Detlef Christel/ LBV

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© Edition Luisenstadt, 1999
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