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Eberhard Fromm
»... ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche«

Walther Rathenau

In einer kürzlich erschienenen Essaysammlung zu Rathenau (»Die Macht der Mythen«, Berlin 1998) meint der Autor Martin Sabrow, daß im Leben dieses Mannes vier verschiedene Biographien zusammentreffen und sich sogar widersprechen. Und auf einem Kolloquium, das vor zehn Jahren am Wissenschaftskolleg zu Berlin stattfand, wurde festgestellt, daß man bei Rathenau den Eindruck gewinnen könne, er sei in Wahrheit aus mehreren Personen zusammengesetzt. Liest man diese und ähnliche Äußerungen, dann wird eines deutlich: In Deutschland ist es so ungewöhnlich, daß ein Intellektueller zugleich Unternehmer und Politiker sein kann, daß man ihn lieber zu einer Fiktion, zu einem Mythos erhebt, als eine solche Kombination in einer Persönlichkeit anzuerkennen.

Ein ausgefülltes Leben

Von Walther Rathenau berichten Freunde und Zeitgenossen, daß er von früher Jugend

an jede Stunde des Tages präzise plante und ausnutzte. Sein Leben kannte keinen Leerlauf; aber es war auch nicht durch Hektik geprägt. Er lebte intensiv bis zur letzten Minute. Nur so sind die unzähligen Aktivitäten, die vielfältigen Verbindungen, die ungeheuren Leistungen dieses Mannes zu erklären.
     Und er war eine Persönlichkeit tiefer Widersprüche. Sein langjähriger Freund, der Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942), umschrieb das in seinen Erinnerungen »Die Welt von gestern« so: »Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hoch geehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden ...« Robert Musil (1880–1942) setzte ihm in seinem »Mann ohne Eigenschaften« mit der Figur des Paul Arnheim ein literarisches Denkmal, allerdings aus einer mehr als ablehnenden Sicht, denn Musil mochte Rathenau nicht.
     Geboren wurde Walther Rathenau am 29. September 1867 in Berlin. Sein Vater Emil Rathenau (1838–1915) hatte zwei Jahre zuvor in der Chausseestraße eine kleine Maschinenfabrik gegründet. In den achtziger Jahren entstand unter seiner Führung die »Allgemeine Elektricitätsgesellschaft« (AEG),
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die sich zu einem der Berliner Großunternehmen entwickelte.
     Sohn Walther genoß eine erstklassige Ausbildung. Er studierte in Berlin und Straßburg Mathematik, Physik, Chemie, aber auch Philosophie und schloß sein Studium 1889 mit der Promotion zum Thema »Die Lichtabsorption der Metalle« ab. Bis 1890 vervollständigte er seine Kenntnisse an der Technischen Hochschule in München. Danach war er in verschiedenen Betrieben der AEG in leitenden Stellungen tätig, so in einer Schweizer Aluminiumfabrik und ab 1893 in den Elektrochemischen Werken in Bitterfeld. In dieser Zeit meldete er auch mehrere Patente an. Von 1899 bis 1902 gehörte er dem AEG-Direktorium an. In den darauffolgenden zwei Jahren erwarb er sich Führungsqualitäten bei der Berliner Handels-Gesellschaft, der Hausbank der AEG. Danach wirkte er im AEG-Aufsichtsrat, einige Jahre als dessen Präsident. In den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts saß er darüber hinaus in Dutzenden von Aufsichtsräten.
     Für Rathenau ist charakteristisch, daß er alle seine verschiedenen Tätigkeiten analysierte, seine Ideen formulierte und sich so einen eigenen Standpunkt erarbeitete. Als er 1914 zum Chef der Abteilung Kriegsrohstoffversorgung im preußischen Kriegsministerium berufen wurde, immerhin eine Stellung im Generalsrang, war er sich schnell klar darüber, daß er – wie er in einem Brief vom
14. August 1914 schrieb – »tief in das Gefüge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eingreifen« mußte. »Wenn ich tief in mich hineinhöre, meine ich, daß ich mich selbst damit zum Werkzeug einer Entwicklung mache, durch die ich dazu beitrage, die Götter zu stürzen, welche die Welt vor dem August 1914 anbetete, eine Welt, der ich angehöre und durch die ich wurde, was ich bin: ein Individualist.« Schon im Frühjahr 1915 schied er aus dieser Funktion wieder aus. Ein Grund wird sicher darin zu suchen sein, daß er dem Krieg äußerst distanziert gegenüberstand. Bereits 1914 sah er voraus: »Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser als Sieger der Welt mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Nein! Nicht einer der Großen, die in diesen Krieg ziehen, wird diesen Krieg überdauern.«
     Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nutzte Rathenau seine vielfältigen persönlichen Kontakte, um Beziehungen herzustellen, Verbindungen zu knüpfen und aktiv in die notwendige Neugestaltung Deutschlands einzugreifen. Bereits während des Krieges war die »Deutsche Gesellschaft« entstanden, in der sich Vertreter von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft trafen. Hier hatte Rathenau im Dezember 1915 seinen Vortrag über die deutsche Rohstoffversorgung gehalten, der auch publiziert wurde. Seit 1920 gehörte er der Führung der Deutschen
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Demokratischen Partei an, der er nach dem Kriege beigetreten war. Seitens der Regierung wurde er in den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat und auch in die Sozialisierungskommission berufen. Im Mai 1921 übernahm er im Kabinett von Reichskanzler Joseph Wirth (1879–1956) das Ministerium für Wiederaufbau, doch schied er wegen Querelen im Herbst wieder aus dem Amt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle des Großindustriellen Hugo Stinnes (1870–1924), der als Gegner Rathenaus die Auffassung vertrat, daß kein prominenter Industrieller in die Regierung gehöre, schon gar nicht in die von Joesph Wirth. Denn die von ihr betriebene Politik setzte auf ein Arrangement mit den Siegermächten und unternahm Versuche, die Reparationsverpflichtungen des Versailler Vertrages zu erfüllen. Diese Politik, die auch Rathenau vertrat, wurde von ihren Gegnern als »Erfüllungspolitik« attackiert.
     Seit Febuar 1922 zum Außenminister berufen, unterzeichnete Rathenau in dieser Funktion im April 1922 den Rapallo-Vertrag, der die Beziehungen zwischen Deutschland und der jungen Sowjetunion normalisierte. Bei Stefan Zweig findet man den Hinweis, daß Rathenau sehr wohl wußte, daß er damit eine vorläufig noch unlösbare Aufgabe übernommen hatte. »Er war sich vollkommen bewußt der doppelten Verantwortlichkeit durch die Belastung, daß er Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein

Walther Rathenau

 
Mann mit so viel Skepsis und so voller Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr.« Im Ergebnis der verstärkten Anfeindungen rechter und antisemitischer Kräfte verübten Angehörige der terroristischen Gruppe »Organisation Consul« am 24. Juni 1922 ein Attentat auf Rathenau.

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Sie erschossen den Außenminister, der in einem offenen Wagen von seiner Wohnung in der Koenigsallee 65 (Wilmersdorf) unterwegs war, an der Ecke Koenigsallee/Wallotstraße. Kurz vorher hatte es durch die »Organisation Consul« bereits ein Blausäure-Attentat auf den prominenten SPD-Politiker und Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheidemann (1865–1939) gegeben, das allerdings mißlang. Da auch für Rathenau Warnungen vorlagen, trug er seither eine Waffe und erhielt auch Polizeischutz. An diesem 24. Juni, einem Sonnabend, hatte er darauf jedoch verzichtet.
     Der Tod Rathenaus rief Massenproteste in ganz Deutschland hervor. Unmißverständlich erklärte Reichskanzler Wirth vor dem Reichstag: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt.– Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!«

Der einsame Denker

Die führende Rolle, die Rathenau als Industrieller und – vor allem nach dem Ersten Weltkrieg – als Politiker gespielt hat, ist unumstritten. Seine theoretischen Arbeiten jedoch sind heute kaum noch bekannt, werden höchstens hin und wieder als Titel zitiert. Dabei war Rathenau nicht nur im quantitativen Sinne äußerst produktiv, wovon die bereits in den 20er Jahren erschienenen Gesammelten Schriften in fünf Bänden und die seit den 70er Jahren

erschienene Walther-Rathenau- Gesamtausgabe, herausgegeben von Ernst Schulin, Zeugnis ablegen. Seine wichtigsten Schriften wie »Zur Kritik der Zeit«, »Zur Mechanik des Geistes« und »Von kommenden Dingen«, aber auch viele kleinere Arbeiten wie »Der neue Staat« und »Die neue Wirtschaft« sowie seine Aphorismen und der Briefwechsel zeigen einen Vor- und Querdenker, den man auch heute noch mit Gewinn lesen kann. Das betrifft sowohl Fragen der gesellschaftlichen Umgestaltung, einer gesamteuropäischen Entwicklung und nicht zuletzt ethische Überlegungen.
     Unerhört scharf ist seine Analyse und Kritik der Zeitumstände. Er polemisierte mit anderen Auffassungen und setzte sich konsequent mit Positionen eines »dogmatischen Sozialismus« auseinander. Gegenüber sozialistischen Ideen wandte er vor allem ein, daß die Frage nach der inneren Triebkraft einer solchen Gesellschaft ungelöst sei. Wer die Welt umgestalten will, darf sie nicht von außen pressen, sondern muß sie von innen fassen, war eine seiner Ausgangsüberlegungen. Frühzeitig befaßte er sich mit dem Problem der Überbevölkerung und der Vergeudung von Arbeitskraft und Ressourcen. Dabei spielte die »Mechanisierung« der Welt als Lösung künftiger Entwicklungen eine zentrale Rolle. Darunter verstand er eine Ordnung der Welt, eine »Zusammenfassung der Welt zu einer unbewußten Zwangsassoziation, zu einer lückenlosen Gemeinschaft
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der Produktion und Wirtschaft«, wie er 1917 in »Von kommenden Dingen« (S. 30 f.) schrieb. Niemand dürfe Arbeit, Arbeitszeit und Arbeitsmittel vergeuden, Verbrauch sei keine Privatsache. Deshalb auch attackierte er Luxus als überflüssige Produktion. Freiheit als politische und geistige Forderung, mittlerer und gesicherter Wohlstand für alle, Auslese der Befähigten zur Führung des Volkes – das waren Ziele einer künftigen gesellschaftlichen Entwicklung, um die die Gedanken Rathenaus immer wieder kreisten.
     Vor allem in »Zur Mechanik des Geistes« suchte Rathenau nach der Verbindung zwischen der gesellschaftlichen Welt der Mechanisierung und dem menschlichen Reich der Seele. Hier wird deutlich, daß er sich intensiv mit Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), den »beiden letzten freien Denkern«, wie er sie nannte, befaßt hat. Schon in dem frühen Artikel »Ignorabismus« von 1898 spürt man Anklänge an den weltanschaulichen Pessimismus eines Schopenhauer. »Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist«, heißt es da. »Wir ersticken in technischen Lebensannehmlichkeiten, und es ist nachgerade schwerer geworden, ein Bedürfnis zu finden, als es zu befriedigen. Ziehen wir die geistige Bilanz, so sehen wir uns dem Bankrott gegenüber.«
     Nach dem Ersten Weltkrieg formulierte
Rathenau seine theoretischen Ziele zumeist in Verbindung mit den dramatischen Entwicklungen der jungen Weimarer Demokratie. »Das neue Deutschland ist ein unbekanntes Land, am meisten denen, die darüber geschichtlich philosophieren«, rief er den Intellektuellen 1919 in der kleinen Schrift »Der neue Staat« zu. Und geradezu seherisch klingt seine Warnung: »Die nackte Wahrhheit ist: Wir treiben der Diktatur entgegen, der proletarischen oder der prätorianischen.«
     Vieles in den Veröffentlichungen nach 1918 klingt bitter, enttäuscht, sarkastisch. Wenn man bedenkt, was Rathenau in dieser Zeit politisch umzusetzen hatte, dann wird deutlich, daß er wohl oft mit sich und seinen Ansichten allein stand. Stefan Zweig spricht immer wieder über seinen Freund Rathenau als einen tief vereinsamten Menschen. Und auch Rathenau selbst war sich darüber klar, wie wenige Freunde er besaß, als er in einem Brief vom Dezember 1918 schreibt, daß ihn einerseits das satte Bürgertum wegen angeblicher »Geschäftsstörung« mit Haß verfolge, andererseits die Repräsentanten der Revolution in ihm den »angeblichen Kapitalisten« und den »tatsächlichen Industriellen« sähen: »Die Menschen, die mir vertrauen, sind gering an Zahl und im Lande verstreut.«
     Der vielbeschäftigte Unternehmer, der immer aktive Staatsmann, der gesuchte Weltmann, der künstlerisch begabte Privatmann – Rathenau malte und schrieb als junger
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Mann Theaterstücke – war immer auch der einsame Denker. Zwar wurden seine theoretischen Arbeiten viel gelesen und provozierten geistige Auseinandersetzungen; doch Rathenau wollte mit seinen Ideen in der Praxis etwas bewegen und stieß dort stets auf mehr Widerstand als auf Zustimmung. Über ihn und seine Leistung sagte Gerhart Hauptmann (1862–1946) anläßlich des 50. Geburtstages von Rathenau in der »Neuen Freien Presse« vom 29. September 1917: »Es gibt Männer, die einmalig sind und für das Wohl eines Volkes mehr bedeuten können als tausend andere. Zu diesen zähle ich Walther Rathenau.« Und Stefan Zweig gab wohl die knappste und doch treffendste Charakteristik seines Freundes: »Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche.«

Denkanstöße

Der Wert des geschichtlich Gewordenen liegt darin, daß es ein geschichtlich Vergängliches und Vergehendes ist; es entstand als revolutionäre Neuerung, es vergeht als überholte Veraltung, und es hält sich, solange es einigermaßen brauchbar und erträglich ist.
Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 75

Nicht einen Tag lang wird eine Nation anders regiert, als sie regiert zu werden wünscht und somit verdient.
Ebenda, S. 107

Blicken dereinst unsere Nachkommen zurück auf unsre Epoche, so werden sie mit erschreckter Bewunderung rühmen, wie in den wenigen Jahrhunderten der europäischen Schichtenverschmelzung das intellektuelle Denken zum Gipfel stieg und als ein Wahrzeichen die Mechanisierung der Welt hinterließ...
     Wie gemeinhin die Zeiten aufbrechender Leibeigenschaften und Urschichten, die Alter des verkommenden Griechentums, des späten Römerreichs, so wird unsre Epoche als ein Ende und als ein Anfang gelten ...
Ebenda, S. 215 f.

Nationalismus und Imperialismus sind Zeittendenzen. Aber sie beherrschen das politische Denken, mehr noch das Empfinden der Epoche vollkommen, sie haben als inneres Moment den gegenwärtigen Krieg vorbereitet und heraufgeführt, sie haben als Rüstungsgedanken die Staaten in Spannung gehalten, als Konkurrenzgedanken jeden herrschenden Gegensatz zwischen Ebenbürtigen vertieft, und sie werden nach dem Kriege erst zu ihrem Höhepunkt aufsteigen.
Ebenda, S. 241 f.

Getötet wird alles starke Schaffen durch den Hinweis auf den Tag. Wer kurzatmig rasche Erfolge sucht, wer seiner Zeit und seinen Gehilfen Schauspiele der Größe gibt und in historischen Momenten schwelgt, wer jeden Tag die reifenden Früchte betastet, statt zu

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graben und zu pflanzen, wer mißgelaunt jedes neue Ereignis als zeitraubende Störung betrachtet, statt ihm seine stärkste Seite abzugewinnen, wer mühsam Tagespensen abarbeitet, Widerständen ausweicht, und statt zu erfinden erledigt: Der kann bestenfalls eine Stellung verteidigen und den Zusammenbruch aufhalten; Leben und Wachstum schaffen kann er nicht, denn alles Natürliche stirbt ab, wenn es in die Defensive gedrängt ist.
Ebenda, S. 316 f.

Kein künstliches Organ kann auf die Dauer dem Staate Richtung geben, weder Ämter, Kommissionen, Senate noch Parlamente; auch die Dynastie kann es nicht. Am wenigsten kann es der Stand der beamteten Gelehrten, der nicht existierte, wenn seine Glieder zum Handeln statt zum Betrachten geboren wären. Richtung geben kann nur das Volk; nicht als herrschender Pöbel noch als Masse, sondern als Schoß des Geistes, dem die Zeiten seine Saat entlocken; das politisierte, denkfähige Volk, vergeistigt in Parteien; die Parteien vertreten durch ihre Organisationen, vor allem durch ihre Führer, Staatsmänner und Denker.
Ebenda, S. 316 f.

Die fünfzigjährige Weltmacht des zweiten deutschen Kaisertums ist dahin und wird sich niemals erneuern. Was sich als deutsches Wesen aufspielte, woran nach der

Biertischflegelei seiner Vertreter die Welt genesen sollte: Kommiß und Assessorismus, philisterhafte, gehässige Kraftmeierei von Junkern, Fabrikanten, Oberlehrern und Kanzlisten, dieses undeutsche Unwesen hat sich selbst vernichtet ...
Der neue Staat, Berlin 1919, S. 9

In Deutschland entscheiden über einen Menschen nicht die Vorzüge, sondern die Einwände. »Einwandfrei« muß der Mensch sein, und die Sache »tadellos«. Einwandfrei aber ist nur die klare, runde, tadellose Null.
Ebenda, S. 18

Wir, Volk der Dichter und Denker, sind im Nebenberuf Spießbürger. Das merkten wir nicht, solange wir im Joch unserer scharfen, durchaus nicht spießbürgerlichen Herren gingen; da waren wir organisiert und diszipliniert, aufgemuntert, straff, ordentlich und adrett. Im Rausch der Freiheit, der Andere feurig und elastisch macht, werden wir schlampig und spießig.
Ebenda, S. 29 f

Sind wir noch eine Nation? Was wir mit tausend Eiden geschworen, ist vergessen. Gleichmütiger hat sich noch kein Volk erniedrigen und zerstücken lassen. Weimar redet, Kommissionen reisen, das Land feiert, Spartakus putscht, Berlin tanzt.
Ebenda, S. 48

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