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Mit Musik und Sport durchs Jahrhundert

Gerhard Kücken und sein Leben in Berlin

Wenn sich das 20. Jahrhundert von uns verabschieden wird, können Sie mit Fug und Recht behaupten, fast von Anfang an dabeigewesen zu sein. Sie wurden am 8. Oktober 1902 in der Müllerstraße im Wedding geboren. Es war ein ereignisreiches Jahr für Berlin. Die letzte Pferdebahnlinie war soeben auf elektrischen Betrieb umgestellt worden, zwischen Stralauer Tor und Potsdamer Platz nahm die erste Hoch- und Untergrundbahn ihren Betrieb auf, an der Kreuzung Friedrichstraße/ Unter den Linden wurde, erstmalig in Deutschland, der Verkehr per Hand geregelt. Seitdem sind 97 Jahre vergangen, schwere Jahre, Kriegsjahre, aber auch persönlich erfüllte Jahre. Wie fühlt man sich, wenn man Geschichte wie im Brennglas erlebt hat?
     Gerhard Kücken: Ich fühle mich noch ganz fit, und Sie haben Glück, mich zu Hause angetroffen zu haben, denn heute ist mein Probentag. Ich spiele in zwei Orchestern Gitarre und gehörte über 50 Jahre dem Mandolinenorchester »Napoli« an.

     Geboren im Hinterhaus, parterre, und das im Wedding – das klingt nicht gerade nach Wohlstand.


Der stolze Vater Kücken mit seinem vierjährigen Sohn Gerhard

 


     Gerhard Kücken: Mein Vater war Gärtner in der Charité, meine Mutter kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Ich hatte zwei Schwestern und drei Brüder und war ein Nachkömmling. Meine Mutter war schon 42 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Ich glaube nicht, daß ich ein Wunschkind war. Da der Abstand zu meinen Geschwistern mindestens 10 Jahre betrug, hatte ich den Vorteil, nicht in die abgetragenen Kleidungsstücke

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meiner Brüder schlüpfen zu müssen. Alles mußte neu angeschafft werden, obwohl das schwerfiel. Auch ein Kinderwagen. Mein Vater baute ein hölzernes, drolliges, bunt angemaltes Vehikel, mit dem mein Bruder Paul mit mir über Stock und Stein stolperte. Von den Eltern geliebt und von den Geschwistern verwöhnt – da war es selbst in einer Hinterhofwohnung auszuhalten. Außerdem hatte mein Vater einen winzigen verwilderten Garten hinter dem Haus gepachtet, aus dem er mit Hilfe meiner Mutter ein blühendes Schmuckkästchen machte. Das Lernen fiel mir nicht schwer, und ich gehörte eigentlich immer zu den Besten. Turnen und Gesang lagen mir allerdings nicht besonders, obwohl gerade der Sport und die Musik später zu meinen Hobbies wurden. Im April 1917 wurde ich konfirmiert. Inzwischen war die anfängliche Kriegsbegeisterung längst verflogen, und den Leuten ging es im dritten Kriegsjahr schlecht. Als Konfirmationsgeschenk bekam ich einen blauen Anzug auf Bezugsschein, unser Bäcker spendierte ein Weißbrot ohne Marken, mein Bruder lieh
Gleichzeitig war das eine Entlastung für den Familienhaushalt, denn dort wuchsen auch Gemüse, Kräuter und sogar Birnen und Beeren.

     Sie wurden 1909 eingeschult. Wie war das damals in der Schule?
     Gerhard Kücken: Ich besuchte die 305. Gemeindeschule für Jungen, wir waren über 30 in der Klasse. Nicht wenige Lehrer verschafften sich ihren Respekt vor allem durch den Rohrstock, aufmucken wie heute gab es nicht. Zu den Hauptfächern gehörten Deutsch, Rechnen, Religion, Turnen, Erdkunde und Gesang. Ich war ziemlich ehrgeizig.


Im Kriegsjahr 1917 die Konfirmations-Urkunde für Gerhard Kücken
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mir seine Schuhe, und meine Mutter zauberte aus Kakao und Zucker einen Brotaufstrich.

     Für den Besuch einer höheren Schule war kein Geld da, welchen Berufswunsch hatten Sie?
     Gerhard Kücken: Ich wollte technischer Zeichner werden, aber das scheiterte am Mangel an Lehrstellen. Durch einen Bekannten meines Vaters fand ich eine Anstellung bei der Deutschen Bank, aber leider nicht als Direktor, sondern als Bürobursche. Wir waren 125 Boys, wurden für damalige Verhältnisse nicht schlecht bezahlt, bekamen freies Mittagessen und als Dienstkleidung einen schwarzen Anzug. Ich fühlte mich wie Hans im Glück. Aber dann trat ein Ereignis ein, das alles überschatten sollte. Meine über alles geliebte Mutter wurde in der Seestraße von einem Auto überfahren und starb am nächsten Tag. Am schwersten traf es wohl meinen Vater und mich, knapp 15 Jahre alt.
     Drei meiner Geschwister waren verheiratet, mein Bruder Paul saß kriegsverletzt zu Hause. Meine Schwester Elisabeth mußte ihre Stellung aufgeben und den Haushalt übernehmen. Und ich mußte an meine berufliche Zukunft denken und eine Lehrstelle finden.

     Am 1. August 1918 begannen Sie eine kaufmännische Lehre bei der Expedition Rudolf Mosse mit 24 Mark Salär im Monat. Im November dieses Jahres kam es auch in Berlin zu

Massendemonstrationen. Wie haben Sie diese unruhige Zeit erlebt?
     Gerhard Kücken: Zu Hause war das kein Gesprächsthema, mein Vater war deutsch-national und fühlte sich als Gärtner der Charité seinem kaiserlichen Dienstherrn zur Treue verpflichtet. Außerdem war die Familie fromm, die Eltern gehörten einem christlichen Verein an und gingen mit uns regelmäßig zur Kirche. Unter uns Lehrlingen in der Firma wurden die politischen Ereignisse natürlich heftig diskutiert. Es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, der Kaiser dankte ab, und am 9. November rief Scheidemann die Republik aus.
     In unserem Verlag wurden Extrablätter mit der Mitteilung »Der Kaiser hat abgedankt!« gedruckt, und wir Lehrlinge sollten sie in der Stadt an gut sichtbaren Stellen ankleben. Man riß sie uns fast aus der Hand, und da wir Berliner Jungs nicht auf den Kopf gefallen waren, verkauften wir sie für 10 Pfennig und mehr.

     Wie viele junge Leute zog es Sie zum Radsport. War diese Sportart damals in Berlin besonders populär?
     Gerhard Kücken: Ja, genauso wie der Fußball. Aber zum Fahrrad fand ich eine besondere Beziehung. Die Begeisterung wurde in der Kriegszeit allerdings dadurch gedämpft, daß nicht mit luftbereiften Rädern gefahren werden durfte, da alle Luftreifen für die Front requiriert wurden. Das Geklappere der Hartgummireifen, und das

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noch auf dem Berliner Katzenkopfpflaster, habe ich jetzt noch im Ohr. Es gab damals etliche Radstadien in Berlin, z. B. den Sportpalast in der Potsdamer und den »Nudeltopp« in Treptow, und wir bewunderten Radsportidole wie Ruett, Lorenz, die Gebrüder Huschke oder die Gebrüder Bauer. 1919 trat ich dem Klub »Endspurt 1911« bei und nahm auch an Rennen teil. Nach mehreren Stürzen und einem Schlüsselbeinbruch verlegte ich mich lieber auf den Saalsport. Wir fuhren in vielen Berliner Sälen in Sechser- und Achterteams Schmuckreigen und
Das Musikquartett 1926
betrieben auch Radball.

     Wie kamen Sie zu Ihrem zweiten Hobby, der Musik?
     Gerhard Kücken: Wir waren eine musikalische Familie, und dann hatte ich einen Radsportkameraden, der wunderbar Gitarre spielen konnte. Das weckte in mir den Wunsch, auch ein Instrument zu beherrschen. Und was ich mir einmal vorgenommen hatte, habe ich immer mit Ehrgeiz realisiert. Da ich Talent hatte, täglich übte und außerdem Gleichinteressierte fand, konnten wir schon bald als Mitglieder der Finkeschen Mandolinenchöre bei Konzerten auftreten. Später habe ich mit meinem Instrument sogar in Opernaufführungen mitgewirkt, z. B. im »Othello« und in »Carmina burana«. Der Musik habe ich mein ganzes Leben lang die Treue gehalten. Anderen

Freude machen und dabei selbst Freude haben – was will man denn mehr?

     Sie gingen dann als Buchhalter zurück zur Deutschen Bank und verdienten ganz gutes Geld. Auf dem Höhepunkt der Inflation, landeten auch Sie, wie Tausende andere, als Arbeitsloser auf der Straße.
     Gerhard Kücken: Und das mit leeren Taschen. Wegen der fortschreitenden Inflation hatte es wenig Sinn, Geld zu sparen. Man kaufte für das täglich ausgezahlte Gehalt die wichtigsten Lebensmittel, möglichst unmittelbar nach der Dienstzeit, und brachte den Rest mit Freunden oder Kollegen irgendwie und irgendwo durch. Ich hatte Glück und fand einen Job als Archivbeamter bei der Handelsauskunftei Schimmelpfennig. Außerdem

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frönte ich meinen beiden Hobbies. Zum Radfahren kam der Wassersport. Mit Freunden paddelten wir durch den Spreewald und über die brandenburgischen und mecklenburgischen Seen. Wir musizierten abends am Lagerfeuer, übernachteten im Freien oder in einer Scheune. Diese Touren ohne jeden Komfort gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.

     Wer als Arbeiterjunge aus dem Wedding etwas werden wollte, mußte an seine Weiterbildung denken. Nach einer Qualifizierung wurden Sie 1927 im Bezirksamt Steglitz als Techniker beim Vermessungsamt angestellt. Trotzdem besuchten Sie weiter Abendkurse, warum?
     Gerhard Kücken: Die Zeichnungen, die wir im Vermessungsamt zu bearbeiten hatten, waren häufig so unleserlich beschriftet, daß Fehler auftreten konnten, von dem schlechten Eindruck mal ganz abgesehen. Ich belegte von 1932 bis 1938 in Abendkursen an der Städtischen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule die Fächer Freies Zeichnen, Anatomisches Zeichnen und Aktzeichnen und ließ mich an der Humboldt-Hochschule in den Fächern »Schriftzeichnen« und »Moderne Reklame« ausbilden, was mir später sehr zugute kam. Ich beherrsche noch heute mehrere Alphabete.

     1933 kam Hitler an die Macht. Obwohl Sie eigentlich kein politischer Mensch waren, traten Sie 1937 in die NSDAP ein.

     Gerhard Kücken: Und das sogar freiwillig. Ich erlebte, daß die Arbeitslosigkeit beseitigt wurde, hatte selbst eine gute Stellung und erhielt sogar das Angebot, beim Autobahnbau mitzuwirken. Als in Steglitz ein großes Heimatfest stattfand, wurde ich in die Vorbereitung einbezogen. Ich entwarf die Plakette und die Plakate und fertigte für die Ausstellung im Sitzungssaal des Steglitzer Rathauses die Wandbeschriftungen an. Diese Arbeit, die mir Freude machte und mich häufig bis abends 23 Uhr beschäftigte, brachte mir ein großes Lob des Bürgermeisters und der Festleitung ein, und ich wurde mit einer #187;Kraft-durch-Freude- Schiffsreise« ausgezeichnet. Der Vorschlag meines Chefs, mich in die NSDAP aufzunehmen, wurde mir wie eine Anerkennung nahegebracht. So kam ich mit gemischten Gefühlen in die Partei. Ich war ohne Zwang beigetreten, hielt mich aber zurück und beschränkte mich auf meine Tätigkeit als Kassierer der Arbeitsfront-Beiträge. Und daß ich wegen meiner Weiterbildungskurse nicht an NSDAP-Veranstaltungen teilnehmen konnte, kam mir sehr entgegen.

     1936 fand in Berlin die Olympiade statt, was bedeutete das für Sie als Sportler?
     Gerhard Kücken: Das war natürlich etwas ganz Besonderes. Ich war zwar nicht gut genug, um als Aktiver zu starten, wurde aber anderweitig eingesetzt. Und die politischen Absichten, die die Nazis mit den Spielen bezweckten, durchschaute ich nicht.

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     Am 1. September 1939 eröffneten Hitlers Truppen um 4.45 Uhr den Angriff auf Polen, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
     Gerhard Kücken: Wir waren mit Vermessungsarbeiten im Gelände beschäftigt, als die Nachricht von der deutschen Kriegserklärung kam. Ein bedrückender Moment für mich, denn ich hatte mit wachsender Besorgnis die politische Entwicklung und die Aufrüstung verfolgt. Außerdem waren mir die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse des Ersten Weltkrieges noch gegenwärtig. Die Katastrophe, die der Krieg auslösen würde, konnte ich allerdings nicht vorausahnen. Dann kamen die Luftangriffe, ich war beim Katastrophenschutz eingesetzt. Was ich da im brennenden Berlin erlebt und an menschlichem Leid gesehen habe, läßt sich kaum mit Worten beschreiben.
     Im September 1944 bin ich dann noch eingezogen worden. Ich kam nach Polen, Gefechte, Einkesselung, Flucht, Verwundungen, wieder an die Front. Ich sah Kameraden neben mir sterben, erlebte am eigenen Leibe Hunger und Erfrierungen und mußte mit ansehen, was die Zivilbevölkerung durchzustehen hatte. Schließlich geriet ich in amerikanische Gefangenschaft und kam dann in ein riesiges Lager, in dem deutsche Offiziere mit Duldung der Amis das Sagen hatten. Sie residierten in größeren Zelten und hatten ihre Burschen, so, als ob nichts geschehen wäre.
Nach der amerikanischen Gefangenschaft kam ich in die englische, von dort in die russische. Schließlich wurden wir nach Berlin entlassen. Ein Zug sollte uns zum Alex bringen. Als er unerwartet in Charlottenburg hielt, stiegen die meisten aus und rannten über den Bahnsteig in Richtung S-Bahn. Wenn jetzt jemand »Halt!« gerufen hätte, wären wir alle stehengeblieben, so waren wir abgerichtet.

     Erinnern Sie sich noch an die ersten Eindrücke?
     Gerhard Kücken: Als ob es gestern gewesen wäre. Daß mein Vater unweit unserer Wohnung durch Schüsse umgekommen war, hatte mir meine Schwester geschrieben. Ich lief, ausgehungert und abgerissen, über die Kreuzung SeeEcke Müllerstraße, sah mein Elternhaus und das Haus von Uhren-Wenig, mit dessen Sohn ich befreundet war. Da traf ich meinen Neffen Jupp. Ich freute mich und wollte ihm von einer Zigarette, die ich noch bei mir hatte, die Hälfte abgeben. Aber er lachte nur und erzählte, daß er mit Zigaretten handelte. Und als ich nach Hause zu meiner Schwester kam und hörte, wie ihr die eigene Tochter Süßstoff verkaufte, verstand ich die Welt nicht mehr.
     Aber das war noch nicht alles: Die Wohnung, in der ich mit meinem Vater gelebt hatte, war von meinem Bruder besetzt, und er zeigte wenig Bereitschaft, mich bei sich aufzunehmen. Es kam dann zu einem Rechtsstreit, auf den ich nicht näher eingehen will.

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Ich fühlte mich jedenfalls unrecht behandelt und war sehr enttäuscht.
     Der Krieg hatte mir also nicht nur Familienmitglieder genommen, er hatte auch Zerstörungen in den Köpfen der Überlebenden angerichtet.

     Wie haben Sie sich im zerstörten Berlin durchgeschlagen?
     Gerhard Kücken: Als Rückkehrer mußte ich mich auf dem Arbeitsamt melden, und als ehemaligem NSDAP-Mitglied blieb mir in bezug auf Arbeitsstellen keine Wahl. So habe ich dies und das gemacht, bis ich bei meinem Freund Max Gericke in Weißensee anfing. Er hatte das Grabdenkmalgeschäft seiner Eltern übernommen, und ich wurde Steinmetz-Anlernling. Mit Mitte 40. Ich hatte mir fest vorgenommen, auch dieses Handwerk zu erlernen. Bei dem Bildhauer Wenke bekam ich einen Ausbildungsvertrag für ein Jahr, und ich mußte zweimal wöchentlich dort erscheinen. Dann kam 1948 die Teilung Berlins. Damals gab es zwar noch keine Mauer, aber das Hin und Her zwischen West und Ost war doch mit einigen Unliebsamkeiten verbunden. Ich beendete meine Tätigkeit bei meinem Freund Gericke, konzentrierte mich auf die Ausbildung und setzte beim Magistrat einen ordentlichen Lehrvertrag über insgesamt dreieinhalb Jahre durch. Wir arbeiteten dann im ehemaligen Atelier des Bildhauers Arno Breker.
     Anfang der 50er Jahre wurde im Auftrag des Senats im Atelier eine Ausstellung der

Entwürfe für die Stadtautobahn durchgeführt. Ich kam mit einem Verantwortlichen ins Gespräch und erzählte ihm, daß ich eigentlich gar kein Bildhauer sei und früher beim Vermessungsamt gearbeitet hätte. Eines Tages wurde ich aufgefordert, mich beim Senator für Inneres zu bewerben. Und es klappte mit einer Anstellung. Bis zu meiner Pensionierung im Jahre 1967 war ich dann beim Autobahn-Entwurfsbüro des Senats angestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich an vielen Entwürfen und Konzeptionen für die Berliner Stadtautobahn mitgewirkt.

     Und wo haben Sie in Berlin ihre Spuren als Steinmetz hinterlassen?
     Gerhard Kücken: Ich habe Grabsteine für bekannte Berliner Künstler gehauen, so für die Sängerin Olga Rinnebach. Für die Schauspielerin Rotraut Richter habe ich die Inschrift entworfen und in die Vase auf der Grabplatte gemeißelt. Mitgearbeitet habe ich am Denkmal für den 17. Juni, und das Schildhorndenkmal wurde unter meiner Leitung wiederaufgebaut. Das große steinerne Kreuz auf der Denkmalsspitze habe ich neu angefertigt und mit einem Lehrling mit Hilfe eines 12 Meter hohen Gerüstes wieder auf dem Denkmal angebracht.

     Und was haben Sie empfunden, als nach fast 30 Jahren die Mauer fiel?
     Gerhard Kücken: Als die Mauer über Nacht gebaut wurde, war es für mich als Urberliner und Straßenplaner einfach unfaßbar,

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daß eine historisch gewachsene, über 700jährige Stadt aus politischen Gründen auseinandergerissen wurde. Ich war geschockt und gehörte zu denen, die voller Empörung und Mitgefühl an der Bernauer Straße standen und den Leuten auf der anderen Seite zuwinkten. Hinzu kam, daß ich mich auch als Wasser- und Radsportler betrogen und vom brandenburgischen Umland abgeschnitten fühlte. Und als nach fast 30 Jahren die Mauern, ebenfalls über Nacht, wieder fielen, war das einer der
Der vitale Gerhard Kücken heute mit seiner Frau Anneliese
glücklichsten Tage meines Lebens.

     Nach dem Tod Ihrer Frau haben Sie mehrere Jahre allein gelebt, dann mit 94 Jahren nochmals den Schritt in die Ehe gewagt.
     Gerhard Kücken: Die Ehe ist für mich keine Frage des Alters, sondern der Zuneigung, der Lebensauffassung, gemeinsamer Interessen und der Achtung vor dem Partner. Und eine bessere Frau als meine Anneliese, eine Magdeburgerin, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wir verreisen dreibis viermal jährlich und pendeln außerdem häufig zwischen Magdeburg und Berlin hin und her.

     Berlin schickt sich an, auch äußerlich Hauptstadt zu werden. Wie empfinden Sie das?
     Gerhard Kücken: Trotz oder sogar wegen der vielen Baustellen – vor allem Genugtuung.

Das Gespräch führte Wolfgang Helfritsch

Bildquellen: privat

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