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Jakob Zollmann
Drei Brüder für Thron und Altar

Leopold, Ernst Ludwig und Otto von Gerlach in der Revolutionszeit 1848

»Damals lagen wir alle auf dem Bauche.« So charakterisierte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) nach der überstandenen Revolution die Märztage 1848. Und auch die Berliner Hofgesellschaft empfand das Verhalten des Königs als »Schande«. Die Berufung eines liberalen Ministeriums unter Graf Arnim-Boitzenburg (1803–1868), der Abzug der Truppen aus Berlin und vor allem die Verneigung Friedrich Wilhelms vor den gefallenen Barrikadenkämpfern auf dem Schloßplatz am 19. März waren aus ihrer Sicht wenig geeignete Schritte, in Berlin und Preußen Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Als dann der König »von Gottes Gnaden« am 21. März mit den deutschen Farben durch Berlin ritt und in der anschließenden Proklamation »An Mein Volk« eine »wahre constitutionelle Verfassung« einzuführen versprach, kam sogar die Vermutung auf, »der König sei wahnsinnig« geworden.1) Daß Friedrich Wilhelm IV. weitere zehn Jahre an der Spitze des preußischen Staates stehen würde, war im März 1848 nicht abzu-

sehen. In seinem engeren Beraterkreis, der sogenannten Kamarilla, waren es besonders zwei Männer, denen der Monarch diesen für ihn letztlich erfolgreichen Verlauf des Revolutionsjahres zu verdanken hatte: Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach, die mit ihrem Bruder Otto zum engsten Freundeskreis des Königs gehörten. (Das Wirken Otto von Gerlachs wird im nächsten Heft dargestellt.)

Die Familie Gerlach

Der Vater Leopold (1757–1813), kurmärkischer Kammerpräsident und 1809 zum ersten Berliner Oberbürgermeister gewählt, hatte die fünf Kinder, Sophie (1787–1807), Wilhelm (1789–1834), Leopold (1790–1861), Ernst Ludwig (1795–1877) und Otto (1801–1849) im Geiste des Pietismus erzogen. Er war ein profunder Kenner der römischen Geschichte. Die Übertragung des römischen Erbes auf die deutsche Nation machte den hohen preußischen Beamten kritisch gegenüber dem aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II. (1712–1786) und dessen zentralistischen Tendenzen: » ... das Deutsche Reich läge ihm mehr am Herzen als der preußische Staat«, erzählte er seinem Sohn Leopold.2)
     In der »Heiligen Allianz«, dem Bündnis der europäischen Herrscher zur Wahrung eines christlich geprägten Absolutismus, sahen die konservativen jungen Männer die konkrete

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politische Kraft, die auf die Einheit der christlichen Völker hinzielte. Leopold war bereits 1803 Soldat geworden und mußte 1806 die preußische Niederlage bei Jena miterleben. Er studierte, der Familientradition folgend, ab 1807 in Heidelberg Staatswissenschaften, wohin ihm 1810 Ernst Ludwig folgte. Nach dem Abschluß des Studiums 1811 schlug Leopold endgültig die militärische Laufbahn ein und wurde in den Befreiungskriegen, wo er zuletzt im Stab Blüchers (1742–1819) diente, zum Leutnant befördert. Auch Ernst Ludwig wurde 1813 Soldat, beide erhielten das Eiserne Kreuz. Ihnen war der Sieg über Napoleon ein Beweis für die Unmöglichkeit sowohl absolutistischer wie republikanischer Diktaturen.
     In den Schriften Edmund Burkes (1729–1797), Joseph Marie de Maistres (1753–1821) und Carl Ludwig Hallers (1768–1854) fanden die beiden Brüder die staatswissenschaftliche Rechtfertigung für die anschließende Epoche der preußischen Reaktion. Sie schlossen sich 1815 in Berlin, gemeinsam mit dem literarisch begabten Bruder Wilhelm, einem konservativromantischen Kreis um Clemens Brentano (1778–1842), der sogenannten Maikäferei (nach dem Wirt Mai, bei dem die Treffen stattfanden), an.3) Ernst Ludwig ließ es sich auch nicht nehmen, an den Turnübungen Friedrich Ludwig Jahns (1778–1852) in der Hasenheide teilzunehmen.
Damals gewann er die Überzeugung, daß das Christentum das grundlegende Prinzip des Staates sei. Das Reich Gottes bleibt nach Gerlach ein politisches Ziel.
     Leopold, der sich auf seine militärische Laufbahn konzentrierte und 1819 Johanna von Redel (1796–1857) geheiratet hatte, blieb seit dieser Zeit in Berlin, während Ernst Ludwig 1820 in Naumburg in den Justizdienst eintrat. Die Verbindung zu seiner

 

Friedrich Wilhelm IV.

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Leopold von Gerlach

 

Heimatstadt Berlin hielt Ernst Ludwig allerdings immer aufrecht. Waren es in den vorhergehenden Jahren politische Fragen, die ihn in ihren Bann zogen, so bestimmten nun die religiösen sein Interesse (auch wenn sich bald beides für ihn nicht mehr trennen ließ). Über seinen Freund Adolf von Thadden (1796–1882) kam er mit der pommerschen Erweckungsbewegung in Kontakt; hier lernte er seine erste Frau Auguste von Oertzen (1802–1826) kennen, die jedoch nach nur viermonatiger Ehe starb. 1826 kehrte Ernst

Ludwig nach Berlin zurück, wo Leopold seit 1824 Generaladjutant des Prinzen Wilhelm (1797–1888) war. Durch die große persönliche Nähe des Bruders zur Spitze des preußischen Staates gelangten auch Ernst Ludwig und später der Theologe Otto in die Umgebung des Hofes und der königlichen Familie.
     Aus der Bekanntschaft mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dessen christlich- ständisches Staatsverständnis dem der Gerlach-Brüder entsprach, entwickelte sich im Bewußtsein der gegenseitigen geistigen Nähe zwischen Leopold und dem späteren König eine enge Freundschaft, die sich für den Monarchen 1848 im Moment der schärfsten Krise bewährte. Dabei neigte Ernst Ludwig stets zu einer kritischeren Sicht des »Romantikers auf dem Thron«; diese Einschätzung verstärkte sich seit 1848.4) Leopold hatte kein Verständnis für diese Distanz. Er lebte in einer »durch jahrzehntelangen täglichen Kaffeevortrag« gewachsenen Freundschaft.5) Ernst Ludwig schloß sich auch in Berlin den »Erweckten« an und beteiligte sich seit 1827 maßgeblich an der Evangelischen Kirchenzeitung, die Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) herausgab und die in den 30er Jahren zu den bestimmenden Kirchenblättern Deutschlands gehörte.6)
     Während Leopold in Berlin Stabsoffizier blieb, wurde Ernst Ludwig 1829 an das Landgericht nach Halle versetzt. Kurz vorher hatte er Louise von Blankenburg (1805–1858), eine Cousine seiner ersten Frau
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und Schwester der zukünftigen Frau seines Bruders Otto, geheiratet. In Halle wurde das Haus der Gerlachs bald ein Zentrum der Erweckungsbewegung, und der von Ernst Ludwig 1830 angestiftete »Hallische Kirchenstreit« gegen die rationalistische Bibelauslegung machte ihn weit über Halle hinaus bekannt. Der von seinen Gegnern als Mystiker Geschmähte sah sich tätlichen Angriffen ausgesetzt und stand kurz davor, seinen Abschied aus dem Staatsdienst zu nehmen, hätten ihm nicht der Kronprinz und Leopold davon abgeraten. Dem »Berliner Politischen Wochenblatt«, 1830 als konservative Reaktion auf die französische Julirevolution gegründet, gehörten Wilhelm und Leopold als Gründungsredakteure an.

Friedrich Wilhelm IV. wird König

Zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. 1840 war Ernst Ludwig Oberlandesgerichts- Präsident in Frankfurt an der Oder. In den neuen König setzten er und seine Brüder große Hoffnungen, war doch bekannt, daß dieser den absolutistisch- zentralistischen Bestrebungen seines Vaters kritisch gegenüberstand. Und so erscheint es nur konsequent, den durch seine Publizistik bekannten konservativen Theoretiker Ernst Ludwig von Gerlach in den Staatsrat und die Savignysche Gesetzgebungskommission zu berufen, in der von 1842 bis 1844 daran gearbeitet wurde, das preußische Recht im

Ernst Ludwig von Gerlach  

Sinne einer Politik umzugestalten, der die Religion Ausgangspunkt war. Doch schon damals erkannte Ernst Ludwig, daß dem schwachen König die Umsetzung seiner weitreichenden Pläne in Richtung einer konservativen Staats- und Gesellschaftsumgestaltung nicht gelingen würde. Die Distanz zum König verstärkte sich, und auch diesem scheint Ernst Ludwigs Entwicklung nicht entgangen zu sein, als er sein Verhältnis zu den Gerlach-Brüdern charakterisierte: Otto ehre er, Ludwig fürchte er, Leopold

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liebe er.7) 1844 wurde Ernst Ludwig zum Oberpräsidenten des Oberlandes- und Appellationsgerichts in Magdeburg ernannt, während Leopold, im selben Jahr zum Generalmajor befördert, in Berlin stets im Zentrum der Macht blieb und so auch im Sinne seines Bruders auf Friedrich Wilhelm IV. Einfluß nehmen konnte.

Die soziale Frage in konservativer Sicht

Die soziale Frage hatten die Gerlach-Brüder als Problem ihrer Zeit erkannt, so erhielt Otto durch die Vermittlung Leopolds eine Pfarrstelle in dem als sozialen Brennpunkt bekannten Vogtland, in der Oranienburger Vorstadt vor dem Oranienburger- und Rosenthaler Tor, wo die berüchtigten Wülknitzschen Familienhäuser, die ersten Berliner Mietskasernen, standen. Die Brüder sahen in den Stein-Hardenbergschen Reformen und der Frühindustrialisierung die Ursache des Pauperismus, der strukturell begründeten Verarmung weiter gesellschaftlicher Schichten. Durch die Zerstörung der patriarchalischen Strukturen auf dem Land habe sich das alte Ständesystem der christlich-väterlichen Verantwortung des Gutsherrn für seine Bauern auf ein unpersönliches Handelsverhältnis reduziert, in der der befreite Bauer von einem beliebigen Abnehmer entlohnt wird. Die Wiederherstellung der alten patrimonialen Verhältnisse in der Wirtschaft wie im gesamten Staat war das

Ziel der Gerlach-Brüder und ihres Königs. Das Revolutionsjahr 1848 offenbarte jedoch den Anachronismus dieser Pläne: Die soziale Entwicklung hatte längst einen anderen Verlauf genommen.

Gegen die Revolution

Die ersten Wochen und Monate nach den Märzunruhen waren für die Konservativen geprägt durch Unsicherheit. Auf Leopold von Gerlach wirkte eine Rede des Königs in Potsdam am 28. März »wie ein Gemisch von Resignation, Schwäche, Apathie«. Einen Tag später wurde der bekannte Liberale Ludolf Camphausen (1803–1890) zum Ministerpräsidenten berufen. Für die Gerlach-Brüder und die anderen Berater des Königs hatte die Revolution damit einen Grad an Radikalität erreicht, der einer augenblicklichen Reaktion bedurfte. Leopold notierte später: »Erster Versuch zur Gründung eines ministere occulte (Schattenministerium), 30. 3.« Vom König erwarteten seine Berater, daß er aus seiner defensiven Grundhaltung heraus in die Offensive treten sollte. Doch noch war es nicht möglich, die antirevolutionären Kräfte zusammenzufassen: Ein Staatsstreichversuch des jungen Bismarck (1815–1898), der bereits seine Bauern und Gutsarbeiter aufrüstete,8) scheiterte ebenso wie der Versuch Ernst Ludwig von Gerlachs, die Konservativen durch ein Manifest zu einem gemeinsamen Vorgehen zu sammeln

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Karikatur aus dem »Kladderadatsch« auf die »Neue Preußische Zeitung«, 1849
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– es fanden sich keine Unterzeichner, selbst Bismarck war der Aufruf zu provozierend.
     Auch in der parlamentarischen Öffentlichkeit hatten die Konservativen Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Der Redner Adolf von Thadden wurde im April im Zweiten Vereinigten Landtag niedergeschrien. Erfolgversprechender war Ernst Ludwig von Gerlachs Entschluß, dem Konservatismus zu einer den neuen Zeiten (der König hatte die Presse für frei erklärt) entsprechenden Öffentlichkeit zu verhelfen. Er setzte alle Energie für eine Zeitung ein, setzte sich über die Bedenken seiner Freunde hinweg, und vom 1. Juli 1848 an konnte die »Neue Preußische Zeitung« (Kreuzzeitung genannt, weil sie das Eiserne Kreuz im Titel führte) täglich erscheinen.9) Da Friedrich Wilhelm in den Augen seiner Berater jedoch nicht entschieden genug gegen die Revolution vorging (die Preußische Nationalversammlung diskutierte immerhin die Volkssouveränität!), sahen einige von ihnen, darunter auch Ernst Ludwig, zeitweise in der Abdankung des Königs zugunsten seines Bruders Wilhelm die einzige Möglichkeit, eine Hohenzollernmonarchie »von Gottes Gnaden« zu retten. Auch die Möglichkeit eines Staatsstreichs von oben war von den Konservativen erwogen worden. Ernst Ludwig von Gerlach hatte darum am 17. Juni ein Schattenkabinett vorgeschlagen, dem u. a. der General Graf von Brandenburg, ein Onkel des Königs und späterer Ministerpräsident, angehören sollte.
Konservative Strategie: Öffentlichkeit und Ministerium

Mit der Gründung von konservativen Vereinen in Preußen, die bis zum Ende des Jahres auf ca. 20 000 Mitglieder angewachsen waren, erhielt die Gegenrevolution in der zweiten Hälfte des Jahres 1848 erheblichen Auftrieb.10) Doch indem sich die Konservativen die Errungenschaften der Revolution zu eigen machten, um sie gegen diese zu nutzen, wurden sie selbst Teil dessen, was sie zu verhindern suchten: als Partei Teil einer sich entwickelnden Volkssouveränität.
     Durch den konserativen Versuch, die altständischen Mitspracherechte wieder einzuführen, erschien die Gegenrevolution vielen Preußen sozial attraktiv. Am 21. August konnte Ernst Ludwig von Gerlach geradezu fröhlich in seinem Tagebuch vermerken: »Die Versammlung und die Revolution sinken – König und Armee stehen.« (Der König plante zu diesem Zeitpunkt bereits die Auflösung der Nationalversammlung und die Oktroyierung einer Verfassung von oben.) Doch noch war der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten nicht gefunden, dem es zuzutrauen gewesen wäre, der Gegenrevolution zum Sieg zu verhelfen: »Man will Heldentaten tun, aber es fehlt der Held.« Auch keiner der Gerlach-Brüder wollte dieser Held sein und den Posten des Regierungschefs übernehmen; ihre Berufung an die Spitze eines antirevolutionären Ministeriums

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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Die Gerlachs im Revolutionsjahr 1848  Vorige SeiteNächste Seite
wäre eine zu große Provokation gewesen.
     Die Wahl des Königs und seiner Berater fiel auf den Grafen von Brandenburg. Leopold von Gerlach übermittelte ihm in Breslau den Auftrag zur Regierungsbildung. Doch Brandenburg zögerte. Auf Ernst Ludwig wirkte der General »nicht so, daß man ihm Heldentaten zutrauen kann«. Er »bat, flehte, predigte«. Brandenburg wich nach Breslau aus, zweimal mußte ihn Leopold zurück nach Berlin holen. Nachdem die Lage (aus der Sicht der Reaktion) fast verzweifelt war, konnte sich Brandenburg nicht mehr verweigern. Am 9. November trat er vor die Preußische Nationalversammlung und gab seine Ernennung zum Ministerpräsidenten bekannt. Diese reagierte mit einem Aufruf zur Steuerverweigerung und wurde daraufhin nach Brandenburg verlegt, was einem ersten Schritt zu ihrer Auflösung gleichkam.
     General Wrangel (1784–1877) marschierte mit 13 000 Mann in Berlin ein. Ernst Ludwig von Gerlach notierte lapidar: »Die Kamarilla verblich vor dem präsidierenden Minister« ; sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Hatte der König anläßlich seiner Eröffnungsrede vor dem Preußischen Vereinigten Landtag (1847) verkündet, »daß es keiner Macht der Erde gelingen werde, Mich zu bewegen, das natürliche ... Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konventionelles, konstitutionelles zu wandeln«,11) so oktroyierte er am 5. Dezember eine Verfassung, die dem in der
Preußischen Nationalversammlung diskutierten Entwurf erstaunlich nahekam. Friedrich Wilhelm IV. erfüllte so in einem wichtigen Punkt die Proklamation »An Mein Volk« vom 21. März 48. Preußen war trotz der siegreichen Gegenrevolution und den bald folgenden reaktionären Revisionen der Verfassung eine konstitutionelle Monarchie geworden.

Die Zeit der Reaktion

Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach blieben Freunde und Berater des Königs. Nach der Revolution wurden sie vehemente Gegner des von ihnen ins Amt gedrängten Grafen von Brandenburg, der versuchte, der preußischen Bundespolitik in Deutschland mehr Gewicht zu verleihen.12) Leopold wurde trotz seines offensichtlichen militärischen Unvermögens zum Generalleutnant befördert – Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) beschreibt in einem Tagebucheintrag vom 5. Mai 1847, wie der Generalmajor Leopold von Gerlach bei den »Kartoffelunruhen« in aller Öffentlichkeit und vor der Front seiner Soldaten von seinem Vorgesetzten der Unfähigkeit geziehen wurde13) – und nach dem Tod des königlichen Generaladjutanten von Rauch 1850 dessen Nachfolger. 1851 setzten sich die Gerlach-Brüder mit Nachdruck für die Berufung Bismarcks zum preußischen Bundestagsgesandten ein. Ernst Ludwig blieb Oberpräsident des Oberlandes-

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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Die Gerlachs im Revolutionsjahr 1848  Vorige SeiteNächste Seite
und Appellationsgerichts in Magdeburg und wurde 1852 in den Preußischen Landtag gewählt, wo er sich zum Fraktionsführer der äußersten Rechten profilierte.

Kampf gegen Bismarcks Politik

Als Ernst Ludwig von Gerlach 1858 nach der großen Wahlniederlage der Konservativen Partei sein Mandat verlor und Friedrich Wilhelm IV. krankheitshalber die Regentschaft an seinen Bruder Wilhelm abtreten mußte, bediente er sich wieder der politischen Publizistik, um seine religiös- politischen Anschauungen zu verbreiten. Den Einfluß am preußischen Hof hatten die Gerlach-Brüder mit Beginn der Neuen Ära verloren; zu sehr hatte dieser auf der persönlichen Verbindung Leopolds zum König basiert.
     Die Berufung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 forderte noch einmal die ganze politische Schärfe des bald 70jährigen Ernst Ludwig heraus: Er bekämpfte die Politik des einstigen Weggefährten, der aus Machtwillen und wirtschaftlichen Erwägungen heraus Krieg gegen christliche Bruderstaaten führen wollte. Interessenpolitik unter Preisgabe christlicher Prinzipien empfand Ernst Ludwig als Verrat. An der Auseinandersetzung mit Bismarck konnte Leopold nicht mehr teilnehmen. Er starb 1861 nach der Totenwache für seinen König Friedrich Wilhelm IV. »an den

Folgen einer Kopfrose, deren Entstehung unter dem festen Druck des Helms während der Wache am königlichen Sarge von Gerlach trotz der Warnungen der Ärzte nicht beachten wollte«.14)
     Ernst Ludwig mußte, von immer mehr Anhängern verlassen, mit ansehen, wie die von ihm mitbegründete Konservative Partei sich dem Jubel über den preußischen Sieg über Dänemark bei den Düppeler Schanzen von 1864 ebenso anschloß wie 1866 während des Krieges gegen Österreich. In der Annektion nichtpreußischer Gebiete sah er einen Verstoß gegen die zehn Gebote, und er empfand es als unhistorisch, die Habsburger, das einstige Kaisergeschlecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, aus Deutschland herauszudrängen. Gerlach setzte auch nach der Reichsgründung seinen Kampf gegen die ihm gesinnungslos und areligiös erscheinende Politik Bismarcks fort.15)
     1871 wurde er Ehrenmitglied der (katholischen) Zentrumspartei und verwirklichte so das Ideal »evangelischer Katholizität« seiner Jugend. 1873 wurde er, nach 15 Jahren, wieder Abgeordneter des Preußischen Landtages, wo er es sich nicht nehmen ließ, den Reichskanzler direkt und persönlich anzugreifen. Im »Kulturkampf« standen sich die beiden unversöhnlich gegenüber: Bismarck wollte die Kirche unter den neuen Staat zwingen, Gerlach stellte die Kirche immer über den Staat. Als Bismarck sich durch eine
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Broschüre Gerlachs beleidigt fühlte und ihn verklagte, nahm dieser nach über 50 Jahren seinen Abschied aus dem Staatsdienst. Das Abgeordnetenmandat behielt der jetzt 80jährige, und wie ein Denkmal erschien er den übrigen Abgeordneten, wenn er auf den Wiener Kongreß Bezug nahm. Sein letzter großer Erfolg war – sehr zum Ärger Bismarcks – seine Wahl in den Reichstag 1877. Aber es war ihm nicht vergönnt, auch die folgende Legislaturperiode mitzugestalten. Am Abend des 16. Februar geriet er beim Überqueren der Schöneberger Brücke unter die Räder einer vorbeifahrenden Kutsche und starb an den Folgen dieses Unfalls am 18. Februar 1877. Der Reichskanzler Bismarck besaß nicht die Größe, dem einstigen Weggefährten die letzte Ehre zu erweisen.

Quellen:
1     Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach, hrsgg. von Hellmut Diwald, Göttingen 1970, Tagebucheintragung vom 23. 3. 1848 (im Folgenden: TB)
2     Zitiert in: Aus den Jahren preußischer Not. Die Tagebücher der Brüder Gerlach, hrsgg. von Hans-Joachim Schoeps; vgl. Jakob Gerlach, Leopold von Gerlach, Berlin 1986
3     Vgl. Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach, 2 Bde, Göttingen 1994, S. 74 (Im Folgenden: Kraus, Gerlach)

4     Malve Gräfin von Rothkirch, Der Romantiker auf dem Thron. Portrait König Friedrich Wilhelm IV., Düsseldorf 1990
5     Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelm IV., Göttingen 1952, S. 17 (im Folgenden Preußen)
6     Vgl. Hans-Christof Kraus, a. a. O., S. 105
7     Hans-Joachim Schoeps, Preußen, S. 17
8     Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. I, Berlin 1905, S. 38 ff.
9     Hellmut Diwald, TB ( Einleitung), S. 23
10     Ebenda und Hellmut Diwald, Die Konstituierung des Konservatismus als Partei, Düsseldorf 1998
11     Zitiert in Manfred Görtemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, Bonn 1996, S. 97
12     K. Canis, Die preußische Gegenrevolution. Richtung und Hauptelemente der Regierungspolitik von Ende 1848 bis 1850, in: Die Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, hrsgg. von W. Hardwig, Göttingen 1998, S. 161 ff.
13     Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, Eintragung vom 5. 5. 1847, Berlin 1905
14     Hartmann, Leopold von Gerlach, in: Allgemeine deutsche Biographie, Leipzig 1897
15     Hans-Christof Kraus, a. a. O., S. 858

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