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Hans Aschenbrenner
16. Juli 1949:
Der Mehringdamm gehört erstmals den Seifenkisten

Auf eine langjährige Tradition kann das Berliner Seifenkisten-Derby zurückblicken. Am 4. Juli 1999 unter der Schirmherrschaft des Bezirksamtes Kreuzberg und des ADAC Berlin zum 40. Male ausgetragen, ist es inzwischen nicht erst 40 Jahre, sondern sogar ein halbes Jahrhundert alt. Die Erklärung dafür ist einfach, hatte man doch mangels der für solche Veranstaltungen unentbehrlichen Sponsoren in der Zeit von 1972 bis 1981 eine Zwangspause einlegen müssen. Seitdem aber findet der populäre sportliche Wettkampf für Kinder und Jugendliche mit den lautweil benzinlosen Seifenkisten auf dem Mehringdamm wieder alljährlich statt.
     Am 16. Juli 1949 gibt es erstmals grünes Licht für dieses Seifenkisten-Rennen, ausgeschrieben für Jungen im Alter von zehn bis 15 Jahren. An jenem Sonnabend herrscht schon früh reges Treiben auf dem Mehringdamm, dessen eine Hälfte in wenigen Stunden Rennstrecke sein wird. In vollem Gange sind die Vorbereitungen für diesen aus

Amerika stammenden (»Soap Box Derby«) und in Westdeutschland schon mit Begeisterung betriebenen Jungensport. Oben auf dem »Berg«, der am höchsten gelegenen Stelle des Mehringdamms, ist eine hölzerne automatische Startvorrichtung aufgebaut. Für die Rennleitung steht eine rasch gezimmerte Kommandobrücke bereit. Ordner geben letzte Anweisungen. Polizisten sichern die Rennstrecke ab. Inzwischen säumen dichte Spaliere von Zuschauern die Straße, bereit, die jungen Akteure so richtig anzufeuern.
     Schon seit Wochen brüten die Rennfahrer in spe mit heißen Köpfen über ihren Konstruktionsplänen, basteln, hämmern und nageln an ihren Seifenkisten. Die komplizierten Renn- und Konstruktionsvorschriften sind auf 20 Seiten bis in kleinste Details festgelegt. Jeder Teilnehmer ist angehalten, sein Fahrzeug in der vorgeschriebenen Größe möglichst selbst zu bauen nur in bestimmtem Maße dürfen Eltern, Lehrer, Freunde Hilfestellung leisten. Unerlaubte Tricks würden die Mitglieder der Abnahmekommission ganz gewiß bemerken und mit Rennausschluß ahnden.
     Schließlich haben etwa 120 Rennaspiranten alle Hürden genommen, das mit Spannung erwartete Rennen kann beginnen. Auf dem hohen Holzpodium am Platz der Luftbrücke steht mit einer großen roten Startflagge Hanne Berndt, zu jener Zeit (und für Kenner noch heute) Berliner Fußballidol, bereit, die abenteuerlich bemalten Maschinen
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auf die Reise zu schicken. Auf eine geglückte Konstruktion und eigenes körperliches Geschick vertrauend, sausen die Fahrer – in Vierergruppen kurz hintereinander startend – in den dünnwandigen Kisten, vom Gefälle der Straße »angetrieben«, die Rennstrecke entlang. Das Motorengeräusch, das den antriebslosen Rennautos fehlt, ersetzen die Flugzeuge der Luftbrücke, die auf dem Flughafen Tempelhof starten und landen. Der »Telegraf« hat tags darauf das Renngeschehen sehr anschaulich beschrieben: »Die Lenkstrippen müssen bei einigen doch recht lose am Steuerrad gesessen haben, sonst hätte es gleich hinter dem Start wohl kaum so viele Zusammenstöße geben können. Das grausame Publikum schüttelte sich dann vor Lachen, aber den kleinen Caracciolas standen ob des Zeitverlustes die Tränen in den Augen. Wer unterwegs liegen blieb – es waren immerhin 320 m zu durchfahren –, der stieg fix aus und stieß sich und seinen Wagen ein paarmal kräftig ab. Das reichte dann meistens bis zum Ende. Von Protesten der Rennleitung war nichts zu hören. Unten am Ziel war die Polizei damit beschäftigt, Neugierige und Rennfahrermütter von der Fahrbahn zu vertreiben. Für 26 Stundenkilometer, die einige Kisten mehrere Male erreichten, war der Auslauf hinter dem Ziel reichlich kurz. Es gab dauernd Kollisionen. Blut ist zum Glück nicht geflossen, die Sanitäter konnten die ganze Zeit auf dem Bordstein hocken bleiben. Wer schnell einmal

Nostalgisches Plakat von 1999

 

zum Start rauffahren wollte, brauchte nur in die im Schneckentempo vorbeischleichende Straßenbahn zu springen. Die märchenhaft dichte Zugfolge überraschte allgemein. Diesmal unangenehm.«
     Gewinner des ersten Seifenkisten-Derbys auf dem Mehringdamm wird schließlich der mit Nummer 96 gestartete fünfzehnjährige Heinz Schlingloff aus Schöneberg, der sich mit seiner rostroten, vom RIAS gesponserten Maschine im Endlauf der vier Besten durch-

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setzen kann. Sein Siegerpreis: ein neues Fahrrad. Er und die beiden Nächstplazierten, die »Privatfahrer« Joachim Liepe und Lothar Eggert, qualifizieren sich für die nur wenig später, am 24. Juli, in München anberaumten trizonalen Seifenkisten- Meisterschaften. Wer bei diesem Seifenkistl-Rennen siegt, auf den wartet ein kostenloser Aufenthalt in den USA inklusive dortiger Rennbeteiligung.
     Seit diesem ersten Seifenkisten-Derby am 16. Juli 1949 auf dem Mehringdamm hat sich an diesem Wettkampf kaum Wesentliches geändert. Natürlich sind noch immer alle Hilfsmittel zum Antreiben der Räder (mechanisch, elektromechanisch, pneumatisch usw.) verboten. Heute fahren alle Teilnehmer mit neutralen, ausgelosten Radsätzen, die vom Veranstalter gestellt werden. Der Gummi der Räder, die Laufflächen, dürfen nicht verändert oder mit irgendwelchen Mitteln behandelt, auch nicht geschliffen oder anderweitig bearbeitet werden. Die Seifenkisten müssen während der Veranstaltungen auf Rädern stehen. Schmier- und Reinigungsmittel dürfen gar nicht erst ins Fahrerlager gebracht werden. Seit 1985 geht es nach jedem Lauf im Schlepp bzw. an Seilen gezogen wieder den Berg hinauf zum nächsten Start. Verändert hat sich der Austragungsmodus. Inzwischen treten zwei Klassen an: eine Juniorklasse (8 bis 12 Jahre), in der die kantigen Seifenkisten mit Fahrer höchstens 90 Kilo wiegen dürfen; und eine Senior-Klasse (10 bis 16 Jahre), bei der
die Jugendlichen in windschnittigeren Wagen, im Liegen fahrend, Geschwindigkeiten bis zu 50 Stundenkilometern erreichen. Ein Doppelstart in der Junior- und der Seniorklasse ist nicht möglich, wie auch jede Seifenkiste nur von einem Teilnehmer der Veranstaltung gefahren werden darf. Um ehemaligen Seifenkisten-Piloten, die altersbedingt nicht mehr an den Rennen teilnehmen können, Gelegenheit zu geben, nochmals den Mehringdamm hinunterzufahren, wird neuerdings sogar noch eine »Super-Klasse« ausgeschrieben. In dieser Klasse sind bei Existenz einiger Bauvorschriften und Sicherheitskontrollen der Phantasie keine Grenzen gesetzt, kann auch die übergroße Junior-Kiste wie selbst die windschlüpfigste »Zigarre« an den Start gehen. Sieger in der Super-Klasse wird nicht die schnellste Kiste, sondern gewertet wird die Zeitdifferenz zwischen erstem und zweitem Lauf, und der Teilnehmer mit der geringsten Zeitdifferenz ist der Sieger.
     So ist nun doch manches, wie sollte es sonst sein, anders als beim ersten Seifenkisten-Derby auf der Rennstrecke Mehringdamm Mitte Juli 1949. Ein Unterschied zur damaligen Premiere aber wird vielen, die heute dabei sind, möglicherweise gar nicht mehr auffallen: Durften 1949 ausschließlich Jungen teilnehmen, so sind längst unter den inzwischen obligatorischen Helmen nicht wenige Mädchengesichter zu entdecken.
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