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Johann Friedrich Geist
Die Kaisergalerie

Biographie der Berliner Passage

Prestel-Verlag, München/ New York 1997

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist ein Bauwerk, von dem nichts mehr geblieben ist als Erinnerungen und Fotos. Im Auftrag einer Aktiengesellschaft von 1869 bis 1873 zwischen den Linden und der Ecke Friedrichstraße/ Behrenstraße errichtet, war die Berliner Passage am 22. März 1873 – zum Geburtstag des Kaisers – eröffnet worden (BM 3/98). Der Monarch hatte dem Verwaltungsrat erlaubt, sie Kaisergalerie zu nennen. Mit ihrer beiderseits von Läden gesäumten glasüberdachten Promenade und den vermietbaren Restaurations- und Festsälen sowie Büros in den Obergeschossen war das Geschäfts- und Vergnügungszentrum sieben Jahrzehnte lang – obwohl von Beginn an problembehaftet – ein magischer Anziehungspunkt. Beim ersten schweren Luftangriff auf die Stadt am 1. März 1943 wurde der Bau durch Brandbomben fast gänzlich zerstört, ein verbliebener kleiner Rest ist später auch noch in Flammen aufgegangen. Von der 130 Meter langen Passage sind nicht einmal die amtlichen Unterlagen erhalten geblieben; sie sind wie andere Bauakten des Bezirkes Mitte im Zweiten Weltkrieg verbrannt.
     Der Autor will in einer Art Biographie diese Passage, offenbar die erste in Berlin, die diesen Namen wirklich verdient hatte, der Vergessenheit entreißen und wieder zum Leben erwecken. Aus unterschiedlichsten Quellen wird, fast wie im Baukastenverfahren, ein Bild des Hauses zusammengesetzt, das vor allem dessen ökonomische Geschichte als Aktiengesellschaft und jene der Mieter widerspiegelt, die hier im Laufe der Zeit ansässig waren. Dabei kann

Johann Friedrich Geist an sein erstmals 1969 erschienenes Buch Passagen, ein Bautyp des 19. Jahrhunderts anknüpfen, in dem er dem Thema weltweit (an 300 Beispielen) nachgegangen ist. Die darin bereits skizzierte Baugeschichte der Kaisergalerie ist nun in der Zusammenführung der über Jahre hinweg gesammelten Zeugnisse zu dem vorliegenden repräsentativen, reich illustrierten Band gereift, dessen Anliegen durchaus nicht nur vergangenheitsbezogen ist, wie der Autor betont. Auch heute wird die Passage als Erschließungssystem zur Strukturierung der großen Baublöcke gewählt, mit denen an die frühere Bebauung der Friedrichstraße angeknüpft werden soll. Die Gemeinsamkeit der zeitgenössischen Bebauung und der >Kaisergalerie< als historisches Beispiel liegen zudem in der Mischung von Büro- und Geschäftsflächen sowie in dem Versuch, den öffentlichen Raum zu erweitern. Um so aufschlußreicher ist es, sich in einer Biographie der Passage, der früheren Verhältnisse, Nutzungen, und Milieus zu erinnern. (S. 6)
     Die Kaisergalerie, deren Vorbild die große Passage in Mailand oder die Passage St. Hubert in Brüssel war, wird der Gründerzeit zugeordnet und als eines der vielen spekulativen Unternehmen charakterisiert, die nach dem Sieg und der Gründung des Deutschen Reichs mit Berlin als Hauptstadt aus dem Boden schossen. Diese Problematik wird mit Auszügen aus einer Artikelfolge von Otto Glagau belegt, die 1876 in Leipzig auch in Buchform unter dem Titel Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der Gartenlaube erschienen ist. Gerade dazu wünschte man sich aber mehr eigene Kommentierung durch den Autor wie auch die Einbeziehung anderer Projekte in der sich herausbildenden City während der sogenannten Gründerjahre, die sich größtenteils in unmittelbarer Nachbarschaft der Passage befanden. Viel Sorgfalt hat der Autor auf die Erarbeitung einer Chronik der Berliner Passage verwandt. In ihr fin-
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det der Leser wohl die wichtigsten Eckdaten und viele überraschende und gerade deshalb interessante Details. Das Material dafür lieferten Zeitungen wie der Kladderadatsch und die Vossische Zeitung sowie Salings Börsenhandbuch (das jährlich erschien und Geschäftsberichte in Kurzfassungen von Aktiengesellschaften enthielt), Grundbucheintragungen, Anzeigen und Fotografien.
     Ein weiteres Kapitel behandelt die Fassaden der architektonisch nobel ausgestatteten Passage – die äußeren wie die des Passageinnenraumes –, bevor dann, getrennt nach Erd- und Obergeschoß, auf die Mieter eingegangen wird. Da keine Akten erhalten blieben, waren hierfür die Berliner Adressbücher wichtigste Quelle. Auf ihnen basiert die Aufstellung der über 50 Läden im Erdgeschoß beiderseits der Promenade, ihrer Besitzer bzw. Mieter sowie der Dauer der Mietverhältnisse. Interviewt wurden auch einstige Ladenbesitzer, um mehr über das innere Leben der Passage zu erfahren. Aus Fotografien, Postkarten, Plakaten, Reklamen konnten ebenfalls Rückschlüsse gezogen werden. Der Passageraum (7,85 Meter breit, 13,50 Meter bis zur Oberkante des Hauptgesimses und 16 Meter bis zum Scheitel des Glasdaches hoch) war für Fußgänger bemessen; nur in der Rotunde war er so geräumig, daß Sitzgelegenheiten vor den Cafés Platz fanden. Das vielseitige Warenangebot, das vom Modeaccessoire bis zum Andenken reichte, zielte auf ein flanierendes Publikum.
     Dieser Abwechslungsreichtum und das Angebot im Obergeschoß verwandelten die Passage bald in eine Touristenattraktion. Oben befanden sich die Einrichtungen zur Unterhaltung, zum Vergnügen und ein wenig auch zur Belehrung. Sie werden dem Leser quasi in einem Rundgang vorgestellt: Castan's Wachsfigurenkabinett und das Passage-Panoptikum; die Abnormitätenvorführung; ein Anatomisches Museum, das nach Angaben in den Adressbüchern von 1927 bis 1933 existierte (nicht zu
verwechseln mit der Sammlung von anatomischen Präparaten in der Charité). Zu kurz kommt das Passage-Theater, das immerhin von 1901 bis 1926 in jenem Saal, in dem in den Anfangsjahren Hofmusikdirektor Bilse konzertierte, seine Vorstellungen hatte. Das Linden-Cabaret wird für die Jahre 1915 bis 1926 in der Passage nachgewiesen. Diese beiden Etablissements zogen auch ein kultur- und kunstinteressiertes Publikum an. Künstler von Rang und Namen traten hier auf – allen voran die Sterne des Humors Prager und Claire Waldoff. In diesem Kapitel wird deutlich, daß die Gegend um die Passage in jenen Jahren ihre Blütezeit hatte. Gleichzeitig spiegeln sich in ihrer ökonomischen Geschichte die komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse gerade in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
     Am Schluß des Buches ermöglicht eine in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entstehung angeordnete Auswahl von Textzitaten – leider ohne genaue Erscheinungsdaten, die vom Leser erst aus dem Literaturverzeichnis herausgesucht werden müssen – noch einmal einen ganz besonderen Gang durch die Kaisergalerie. Man liest die Geschichte der Passage als literarische Reflexion – zu Wort kommen Theodor Fontane, Paul Lindenberg, Jules Laforgue, Karl Kraus, Walter Mehring, Louis Aragon, Egon Erwin Kisch, John Henry Mackay, Franz Hessel, Siegfried Kracauer, Hedwig Rohde. Etwas mehr sprachliche Geschmeidigkeit und Präzision hätten dem gesamten Buchtext gutgetan, weniger Wiederholungen ebenfalls. Zu bedauern ist der Mangel an kritischem Lektorat und Korrekturaufwand.
     Wenn die großformatige Publikation dennoch einen guten Gesamteindruck beim Rezensenten zu hinterlassen vermag, so ist das ihrem reichen fachlichen Gehalt, der Fülle interessanten Materials und nicht zuletzt auch der Aufmachung, einschließlich der Illustrationen, die die Aufmerksamkeit des Lesers geradezu herausfordern, zu danken. Eine an den Schluß gestellte Fotografie von Heinrich Zille
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hat der Autor mit der treffenden Unterschrift versehen: Es ist so gut wie das einzige, das ich gefunden habe, das nicht nur die Architektur, die Straße, die Ecke zeigt, sondern eine Momentaufnahme, einen atmosphärischen Blick auf den Passageeingang, bei dem Architektur, Reklame, Verkehrsmittel, Mode und Passant gleichwertig erscheinen. Dies ermöglicht den Blick auf ein Straßenleben, das verschwunden ist und wiederkehren soll ...
Hans Aschenbrenner

 

 

Zur Büste Immanuel Kants
von J. G. Schadow (BM 4/1999)

Als Schadow die für die Walhalla bestellte Marmorbüste von Kant 1808 fertigstellte, war die „Ruhmeshalle" mit Bildnisbüsten großer Deutscher erst geplant. In den Tagen, als Napoleon in Berlin einzog, soll Kronprinz Ludwig von Bayern den Gedanken eines großen Ruhmesdenkmals gefaßt haben. Nach vierzehnjähriger Vorbereitung ließ er als König den Bau nach dem Entwurf von Leo von Klenze (1784–1864) in Form eines griechischen Tempels in den Jahren 1830–1842 errichten. Von den ringsum an den Wänden der Cella in zwei Reihen übereinander auf Konsolen und Postamenten aufgestellten 163 Marmorbüsten schuf Schadow vierzehn Büsten, darunter auch eine Büste Friedrichs des Großen.
Heinrich Lange

An unsere Leser

In diesem Heft finden Sie in der Rubrik Dokumentiert nicht wie gewohnt die Datensammlung Es geschah gestern in Berlin. Aus technischen Gründen werden wir die Dokumentation der Ereignisse eines Monats erst drei Monate später veröffentlichen. In der Juli-Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift können Sie also nachlesen, was im April in Berlin geschah.

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