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Jürgen Wolf
Die Bockwindmühle in Marzahn

Wer vermutet schon im größten Neubaugebiet Europas, wie der Berliner Bezirk Marzahn oft bezeichnet wird, eine Mühle. Es war am 12. Mai 1994, einem wunderschönen Frühlingstag, als sich die Mühlentore zum erstenmal für die Besucher, die »Mahlgäste«, öffneten. Wie auf Bestellung blies ein kräftiger Nordostwind und drehte die Flügel, das Marzahner Mühlenbrot kam gut an, und alle waren zufrieden. Alle Mühen der vergangenen zwölf Jahre waren vergessen. Diese Zeit nämlich mußte vergehen, bevor sich am Dorfrand von Alt-Marzahn, an der Landsberger Allee Ecke Allee der Kosmonauten, wieder Mühlenflügel drehen konnten.
     Am 31. März 1982 wurde dem Ostberliner Magistrat vorgeschlagen, eine Windmühle in das Konzept der Restaurierung des Dorfkerns von Marzahn einzuordnen. Durch einen »richtungslosen dorftypischen Hochbaukörper« sollte das westliche Dorfende gestalterisch aufgewertet werden. Gedacht war an eine Holländermühle als technisches Denkmal mit gleichzeitig gastronomischen Einrichtungen. Dazu sollte aus dem Umland eine Mühle erworben und umgesetzt werden

Als Baukosten waren rund zwei Millionen DDR-Mark veranschlagt worden.
     Obwohl in Marzahn stets Bockwindmühlen, die ältesten in Mitteleuropa betriebenen Windmühlen, standen, sollte es damals eine Holländermühle sein, weil sie für den gastronomischen Betrieb geeigneter schien. (Während sich bei den Holländermühlen nur die die Flügel tragende Kappe in den Wind dreht, bewegt sich bei der Bockwindmühle

Die Marzahner Bockwindmühle 1995

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der ganze aus Holz bestehende Mühlenkasten.) Nur vier Jahre zuvor, also 1978, war die alte Marzahner Bockwindmühle am östlichen Dorfende abgerissen worden, weil sie nicht im Bereich des alten Dorfkerns stand. Zudem war sie damals schon seit achtzehn Jahren außer Betrieb, ausgeräumt, und sie sah auch nicht mehr wie eine klassische Bockwindmühle aus. Es war nur noch ein großer unverputzter gemauerter Turm mit einem davorgestellten, mittlerweile flügellosen Stahlmast von etwa 25 Meter Höhe zu sehen.

Zwei Windmühlenarten, die um 1800 in dieser Region bevorzugt gebaut wurden

Das dazugehörige Grundstück am Riversweg 26 machte einen verlassenen Eindruck. Und doch ist selbst auf den wenigen Aufnahmen aus der Zeit vor dem Abriß im Turm dieselbe eigenwillige, eckige Kontur zu erkennen, die unsere heutige Bockwindmühle als die vierte Mühle in Marzahn aufweist.
     Nach der Bestätigung des Mühlenbaus durch den damaligen Oberbürgermeister machten sich Mühlenfreunde aus dem DDR-Kulturbund auf die Suche nach einem geeigneten Objekt. Sie suchten sehr lange, wurden fündig und mußten doch unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil niemand aus dem Umland seine Mühle nach Berlin abgeben wollte. Teilweise wurden schon geschlossene Verträge durch örtliche staatliche Stellen mit dem Argument »Denkmalschutz«
wieder aufgehoben. Der größte Teil der damals ins Visier genommenen 22 Mühlen ist inzwischen weiter verfallen bzw. existiert nicht mehr. Die Umsetzung der letzten, schon gekauften Mühle aus dem Brandenburgischen Luckow wurde 1992 mit Polizeigewalt verhindert.
     Inzwischen besann man sich auch der alten Marzahner Mühle wieder als historischen Bezug, vor allem wohl, weil eine Bockwindmühle nur etwa ein Drittel der Aufwendungen für eine Holländermühle erfordert. So begann 1993 der Neubau unserer Bockwindmühle durch den holländischen Mühlenbauer Bejk, im März 1994 war sie fertig. Der Müller wurde durch eine Stellenausschreibung, auf die sich zehn Bewerber meldeten, gefunden und betreut sie seitdem. Bei Wind drehen sich die Flügel, vermahlen die
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Die Mühle 1927<7I>
So ist sie der alten Marzahner Mühle immer ähnlicher geworden. Wir haben sie jedoch als produzierendes Museum und als Lehr- und Versuchsmühle für Berlin und Brandenburg eingerichtet.
     Die alte Marzahner Mühle war von ihrer Ausstattung her schon eine moderne Motormühle in einer alten Windmühle. Das modernste an ihr aber war ihr Windkraftwerk, das erste in Deutschland wird oft gesagt, ohne daß man weiß, wie es genau beschaffen war.
beiden Mahlwerke Getreide zu mittlerweile 25 Sorten Mehl, Grieß und Schrot. So vermittelt die Mühle viel davon, wie es einst war in Marzahn und anderenorts. Besucher aus nah und fern haben die Mühle inzwischen besucht, den Neubau der Müllereitechnik miterlebt und einiges über die Traditionen des »zweitältesten«, stadt- und siedlungsmitbegründenden Handwerks erfahren. Die Wiege Berlins liegt nicht ohne Grund am Mühlendamm. Daher sind in der Marzahner Mühle auch Maschinenteile der letzten alten Großmühle am Osthafen (stillgelegt 1995), der letzten alten Bockwindmühle aus Bohnsdorf (seit Kriegsende Ruine, 1983 abgetragen und im Deutschen Technikmuseum wiederaufgebaut) und eine vor 100 Jahren am Alexanderplatz produzierte original Berliner Getreidequetsche eingebaut worden. Windkraftwerke gab es in Deutschland damals schon mehrere, jedoch keines mit einer derartig langen und erfolgreichen Betriebsdauer und einer so wirkungsvollen, vorbildhaften Konstruktion. Warum aber gab es eine solche Anlage gerade in Marzahn? Der Grund ist ganz einfach: Zu wenig Wind. Die Anfang des Jahrhunderts gebauten Siedlungshäuser nahmen der Mühle den Wind, gleichzeitig wurde aber infolge erhöhter Qualitätsanforderungen an das Mehl mehr Antriebskraft benötigt. Andere Müller in Berlin gaben auf, verlegten ihre Mühlen ins Umland oder stellten auf den einfacheren elektrischen Antrieb um. Doch beginnen wir die Rückschau ins Marzahner Mühlenzeitalter von vorn.
     Die ersten Bestrebungen zum Bau einer Mühle sind ab 1765 nachweisbar. Am 17. September
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1765 wurde offiziell um die Erlaubnis zum Bau einer Windmühle und die Bereitstellung des dazu notwendigen Bauholzes gebeten. Zu diesem Zeitpunkt mußten die Marzahner Bauern ihr Getreide in der Ahrensfelder Mühle mahlen lassen. Doch der Weg dorthin war beschwerlich und die Mühle offenkundig überfordert mit den vielen Mahlkunden.
     Die hiesige Gegend auf der Hochfläche des Barnim war damals eine reine Windmühlenlandschaft. Von Lichtenberg bis Hönow, von Mahlsdorf bis Pankow gab es über zwanzig Mühlen. Das kleine Dorf Marzahn mit seinen vergleichsweise ertragsarmen Böden war durch die Ansiedlung von Pfälzer Kolonisten unter Friedrich II. (1712–1786, König ab 1740) erheblich gewachsen. Aus diesem Kreis stammte dann auch der erste Marzahner Müller Friedrich Scholz, der ab 1805 seine Mühle unweit des Dorfangers am östlichen Dorfende betrieb. Die zweite Mühle wurde am selben Platz von Mühlenmeister Groh im Jahre 1873 erbaut. Sie war bis etwa 1908 in Betrieb. An dieser Mühle wurden, wie anderenorts auch, Lehrlinge ausgebildet. Einer von ihnen ist mit seinem Lehrbrief von 1874 nachweisbar, Ferdinand August Hirschel. Ein Hirschel wird in späteren Marzahner Gemeinderatsprotokollen als Mühlenbesitzer genannt. 1895 holte Windmüller Maximilian Triller eine bereits 1791 bei Bernau erbaute Bockwindmühle nach Marzahn und stellte sie 1908 etwa 150 Meter
südlich (also vom Dorf etwas entfernter) der alten Mühle auf.
     1912 errichtete Triller auf seinem Grundstück eine etwa 15 Meter hohe Windturbine nach amerikanischem Muster (Vielflügler) für die Stromversorgung seines Haushaltes. Die Anlage wurde von den Vereinigten Windturbinenwerken Meißen aus ihrer Serienproduktion geliefert und kostete 1 500 RM.

Alte Marzahner Bockwindmühle von Triller und die erste Windkraftanlage mit aufmontierten Flugzeugflügeln

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Bockwindmühle in Niederschönhausen um 1900 Die elektrische Leistung betrug drei bis vier Kilowatt.
     1926 wurden an der alten Mühle die Flügel abgebaut, die Mühle wurde mit einem Sauggasmotor angetrieben. Als dann im Krieg 1940 der Treibstoff knapp wurde, nahm Richard Triller, der Sohn von Maximilian Triller, Verbindung mit der Reichsarbeitsgemeinschaft »Windkraft« auf, die 1939 aus der Windkrafttechnischen Gesellschaft hervorgegangen war. Sie stand damals unter dem Vorsitz von Hans Witte, Berlin.
Triller hat sie selbst montiert. Der Windraddurchmesser betrug etwa sechs Meter. 1913 wurde unter der Windmühle ein Reservedieselmotor aufgestellt. Dazu wurde der Bock mitsamt der Mühle angehoben und auf einen massiven Unterbau gesetzt. 1922 wurde dann die Windturbine nach der Konstruktion von Major Bilau auf ein vierflügeliges System umgebaut. Diese Art der Flügel berücksichtigte damals modernste Erkenntnisse der Aerodynamik und war in Anlehnung an die Tragflächen von Flugzeugen konstruiert. Die »Windkraft« verfolgte mehrere Projekte mit dem Ziel, die ungleichmäßige Kraft des Windes für die Erzeugung von Strom auf technisch möglichst einfachem Wege nutzbar zu machen. Alle bisherigen Versuche waren nicht befriedigend verlaufen. 1943 errichtete Richard Triller an der Mühle einen etwa 26 Meter hohen eisernen Turm mit einem Drehflügelkreuz, Durchmesser 13 Meter. Dieses relativ kleine Flügelkreuz erbrachte dieselbe Antriebsleistung wie das ursprüngliche 18-Meter- Jalousieflügelkreuz konventioneller Bauart, das vorher vorhanden war. Die Anlage war so konstruiert, daß
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Berlin vom Mühlenberg (Prenzlauer Berg) aus gesehen, um 1780
bei niedriger Windgeschwindigkeit Strom erzeugt und in einer großen Batterie gespeichert wurde. Bei stärkerem Wind wurden die Müllereimaschinen eingekuppelt und arbeiteten mit dem Generator parallel. War zuviel Wind, konnte die überschüssige Kraft ebenfalls in der Batterie gespeichert werden. War zuwenig Wind für den Mahlbetrieb vorhanden, wirkte der Generator als Motor und entnahm seinen Strom der Batterie. Bei Sturmstärke sprachen die mechanischen Schutz- und Regeleinrichtungen des Flügelkreuzes an und drehten die Flügel mit Windfahne und Windrose aus dem Wind. Das geradezu Revolutionäre an diesem »System Triller« war der erstmals möglich gewordene zuverlässige Betrieb von gegen Geschwindigkeitsänderungen empfindlichen Arbeitsmaschinen auch bei wechselnden Windverhältnissen. Diese Anlage war mit einer kurzen kriegsbedingten Unterbrechung um 1945 bis 1960, bis zum Tode des Müllers, in Betrieb. Die Anlage gilt zugleich als die erste ihrer Art, an der in einem soge-
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Windmühlen in Lichtenberg, wie Heinrich Zille sie sah
nannten Bodenwindkraftwerk der Einsatz von Asynchronmaschinen in Verbindung mit einem Drehstromnetz mit vollem Erfolg getestet worden ist. Nach dem Modell Triller entstand auf der Nordseeinsel Neuwerk eine 20-Kilowatt- Anlage zur Stromversorgung für die Bewohner.
     Die interessante Marzahner Mühlengeschichte stößt bei vielen Besuchern auf reges Interesse. Mehr als 100 000 waren es seit der Eröffnung 1994. Unter ihnen viele Schulklassen aus Berlin und der Umgebung. Rund 20 Brautpaare im Jahr lassen sich in der Mühle trauen. Nach mittelalterlichem Brauch spricht der Müller ein Hochzeitsgeleit, reicht Brot und Wein zur ersten gemeinsamen Mahlzeit.
Mühlenbrot kann man auch beim Marzahner Bäcker Engel kaufen, der seit Jahren mit Mehl aus der Mühle beliefert wird.

Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag 10 – 12 Uhr, 13 – 16 Uhr;
von April bis Oktober Sonnabend/ Sonntag 15 – 17 Uhr.
Während der Schulferien im Sommer geschlossen.
Führungen nach Voranmeldung unter 030/5 45 89 95

Bildquellen: Archiv Autor, Foto Bickel, Foto Breitenborn, Heimatmuseum Marzahn

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© Edition Luisenstadt, 1999
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