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Kurt Wernicke
Parlamentsfrühling vor 150 Jahren

Die Zweite Kammer von Februar bis April 1849

Mit der am 5. Dezember 1848 einseitig verkündeten (»oktroyierten«) Verfassung hatte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König 1840–1858), auf den Rat seiner gemäßigtkonservativen Regierung hörend, den Turbulenzen des Jahres 1848 um den Übergang Preußens zu einem Verfassungsstaat anscheinend ein Ende gemacht: Die Verfassung hielt sich in weiten Teilen an den Entwurf, den die Anfang Mai gewählte und seit Ende Mai tagende Konstituierende Versammlung erarbeitet und zu erheblichen Teilen schon beschlossen hatte. Da das Verfassungswerk nun als abgeschlossen gelten konnte, war dieses Parlament überflüssig geworden und wurde daher vom König »geschlossen« – sprich: nach Hause geschickt. Das liberale Bildungs- und Besitzbürgertum war mit der »oktroyierten« Verfassung mehr als glücklich, und die auf Volkssouveränität setzenden Demokraten erblickten in ihr wenigstens einen akzeptablen Kampfboden für die Erstreitung weitergehender Volksrechte – sah doch das neue

Staatsgrundgesetz für die Gesetzgebungs- und Staatshaushalt-Kompetenz ein aus allgemeinem, wenn auch indirektem Wahlrecht (d. h., daß die Urwähler Wahlmänner wählten, die dann ihrerseits die Abgeordneten wählten) hervorgegangenes Parlament vor. Das gliederte sich in eine Erste und eine Zweite Kammer, die beide gewählt wurden: die Zweite Kammer (350 Abgeordnete) von allen männlichen Preußen ab dem 25. Lebensjahr, sofern sie keine Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen und mindestens ein halbes Jahr an ihrem Wohnort lebten. Die Erste Kammer, als Bremse für eine eventuell allzu ungestüme Zweite gedacht, sollte mehr den Besitz repräsentieren: 180 Abgeordnete waren von den Preußen über 30 Jahre zu wählen, die wenigstens acht Taler Klassensteuer im Jahr bezahlten oder Grundbesitz im Werte von mindestens 5 000 Talern besaßen oder ein Jahreseinkommem von wenigstens 500 Talern nachweisen konnten – angesichts der schmalen Einkommensverhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung eine ziemlich fühlbare Schranke für die Masse des Wahlvolks. Durch die am 6. Dezember erlassenen Wahlgesetze für beide Kammern wurde für die Zweite Kammer der 22. Januar zum Tag der Urwahlen (Wahl der Wahlmänner) und der 5. Februar zum Tag der Abgeordnetenwahlen bestimmt, für die Erste Kammer analog der 29. Januar und der 12. Februar.
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Der Wahlkampagne in Berlin stand der am 12. November 1848 verhängte Belagerungszustand entgegen, der Versammlungen im Freien und politische Versammlungen überhaupt verbot. Um die Wahl in Berlin nicht zur Farce werden zu lassen und damit bei den außerpreußischen deutschen Liberalen Sympathie zu verspielen, wurde der Belagerungszustand erheblich gelockert. Das gab den seit November 1848 zurückgedrängten demokratischen Kräften der Stadt endlich wieder die Möglichkeit öffentlichen Auftretens, der Ablegung politischer Glaubensbekenntnisse und der Rechenschaftslegung über das, was sie 1848 parlamentarisch und außerparlamentarisch geleistet hatten.
     Die Berliner honorierten deren Bekenntnis zu Märzrevolution und Volksrechten mit einem klaren Bekenntnis zu solchen Politikern, die sich 1848 als Demokraten ausgewiesen hatten. Die in Berlin zu wählenden neun Abgeordneten gehörten sämtlich jenem politischen Flügel an, der in der Konstituierenden Versammlung die Linke bzw. das linke Zentrum gebildet hatten: der Buchdruckereibesitzer Julius Berends (1817–1901), der Königsberger Arzt Johann Jacoby (1805–1877), der Ökonom und kurzzeitige 48er Minister Karl Rodbertus (1805–1875), der Obertribunalsrat Benedikt Waldeck (1802–1870), der westfälische Gerichtspräsident Jodocus Temme (1798–1881). Waldeck, Rodbertus und Jacoby wurden sogar jeweils in zwei Berliner Wahlkreisen
gewählt. Friedrich Wilhelm IV. schäumte über dieses dreistnostalgische Wahlverhalten in seiner Residenz und kommentierte in seiner pietistisch-verinnerlichten Art, Berlin habe gewählt wie ein Rabenstein – nämlich lauter Galgenvögel.
     Als die Berliner Wahlergebnisse für die Erste Kammer einliefen, hellten sich des Königs Mienen wieder etwas auf, denn die fünf Abgeordneten der betuchteren Berliner Wähler gefielen ihm schon besser: der Fabrikbesitzer Johann Friedrich Dannenberger (1786–1873), Kaufmann und Stadtältester Carl Friedrich Knoblauch (1793–1859), Oberregierungsrat Wilhelm Dieterici (1790–1859), General-Steuerdirektor Ludwig Samuel Kühne (1786–1864) und Stadtsyndicus Carl Eduard Möwes (1799–1851); nichtsdestoweniger konnte man auch diese Fünf (Möwes vielleicht ausgenommen) nicht gerade zu den ausgewiesenen Konservativen rechnen. Aus königlicher Sicht waren die durch die Doppelwahlen (und den Verzicht von Temme auf seinen in Berlin errungenen Sitz zugunsten seiner Wahl in Tilsit) nötigen Nachwahlen für vier Abgeordnete der Zweiten Kammer eine neue Katastrophe. Aus den Nachwahlen am 1. März gingen als weitere Berliner Abgeordnete der Jurist und Publizist Heinrich Simon (1805–1860), der Gerichtsassessor Georg Jung (1814–1886), der Brandenburger Oberbürgermeister Franz Ziegler (1803–1876) und der ostpreußische Landrat Robert Reuter (1816–1864) hervor –
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alles ausgewiesene Linke, von denen Jung 1848 als Präsident des »Demokratischen Klubs« in Berlin sogar eine herausragende Rolle gespielt hatte. Von Simon hatten seine Wähler in der Zweiten Kammer allerdings sehr wenig, denn er trat erst am 10. März in das Parlament ein, ließ sich aber schon fünf Tage danach beurlauben, um sein im Mai 1848 errungenes Mandat in der Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main wahrzunehmen; als er sich am 5. April wieder meldete, geschah das nur, um sich wegen Krankheit für weitere sechs Wochen Urlaub zu erbitten.
     Gleich nach der Eröffnung beider Häuser des Landtags am 23. Februar zeigte sich, daß die Zweite Kammer nicht daran dachte, vor der Regierung zu katzbuckeln. Die Kräfteverteilung zwischen Links und Rechts war in etwa ausgeglichen, und die Linke dachte nicht daran, eine immer wieder versuchte Delegitimierung der Märzrevolution hinzunehmen.

     Abgeordnete der Zweiten Kammer:
     oben: Ziegler, Berends, Jung
     mitte: Simon, Rodbertus, Jacoby
     unten: Phillips, Waldeck, Reuter
Eine ministerielle Vorlage für ein Gesetz über Verkauf, Verteilen und Anheften von Plakaten, das der Polizei die Zensur über diese sogenannte Straßenliteratur zuschanzte, wurde z. B. nur in entschärfter Form und selbst dann nur mit der hauchdünnen Mehrheit von 167 zu 163 angenommen.
Auch mit dem Belagerungszustand in Berlin wollte sich die Zweite Kammer nicht abfinden, und schon am 6. März brachten die sieben zu diesem Zeitpunkt Berlin vertretenden Abgeordneten Waldeck, Berends, Jacoby, Jung, Phillips,
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Rodbertus und Ziegler einen Antrag ein, der dessen Aufhebung verlangte. Der Antrag gelangte zwei Tage später ins Plenum, verschwand aber erst einmal im Lenkungsausschuß. Dem präsentierten Waldeck und seine Mitstreiter am 12. März ein von ihnen bestelltes Gutachten des Berliner »Lokalvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen« (der von ministerieller Seite im allgemeinen nicht ohne Grund als ziemlich linkslastig eingeschätzt wurde) zu der Frage, ob der Belagerungszustand auf die Lage der Gewerbetreibenden und Handarbeiter wohl nachteilig wirke – was der Lokalverein erwartungsgemäß eindeutig und faktenuntersetzt bejahte. Schließlich empfahl der Ausschuß dem Plenum in einer Stellungnahme vom 5. April, per Abstimmung die Staatsregierung zur Aufhebung aufzufordern. Der Antrag »Waldeck und Mitunterzeichner« ging nun in die Tagesordnung ein, deren Abarbeitung wegen des ständigen Hickhacks über das parlamentarische Verfahren sich immer wieder verzögerte.
     Inzwischen war die Kaiserdeputation der Deutschen Nationalversammlung am 3. April von Friedrich Wilhelm IV., dem sie die erbliche Kaiserkrone für ein Deutsches Reich anbot, mit kaum verklausulierter Absage bedacht worden, wodurch das ganze Einigungswerk der Paulskirchen-Nationalversammlung (und damit die eigentliche Frucht der Deutschen Revolution von 1848) in Frage gestellt war. Daraufhin hatte Rodbertus
mit 43 anderen Abgeordneten am 12. April beantragt, die Zweite Kammer solle erklären, daß die gegenwärtige preußische Politik in der »deutschen Frage« falsch sei und sie – als preußische Volksvertretung – die von der Deutschen Nationalversammlung verabschiedete Reichsverfassung (die aus Deutschland einen parlamentarisch-demokratischen Bundesstaat machte) als rechtsgültig anerkenne. Vom zuständigen Ausschuß wurde der Antrag mit 11 zu 9 Stimmen zur Ablehnung empfohlen, aber bei der Debatte im Plenum am Vormittag des 21. April wurde er mit 175 zu 159 Stimmen angenommen! Und dabei hatte der preußische Ministerpräsident Graf von Brandenburg (1792–1850) in der Aussprache doch den Standpunkt von Regierung und Königshof mehr als deutlich gemacht, als er davon sprach, daß man sich einer noch so breiten öffentlichen Meinung nicht beugen werde, denn es habe keinen Sinn, den Elementen sich einfach auszuliefern: dann (erhobene Stimme) werde man keine Rettung finden – (und fast schreiend, mit der Faust aufs Rednerpult schlagend): »Niemals! Niemals! Niemals!« Wer Ohren hatte zu hören, konnte da das unverhüllte Mißfallen an der widerspenstigen Zweiten Kammer ungefiltert heraushören.
     Nichtsdestoweniger erdreistete sich die Kammer, ihrer Tagesordnung entsprechend, am 26. April den Antrag von Waldeck und seinen Mitunterzeichnern hinsichtlich der
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Aufhebung des Berliner Belagerungszustandes im Plenum zu behandeln. Den Abgeordneten lag eine Empfehlung des damit befaßten Ausschusses vom 5. April vor, per Abstimmung die Staatsregierung aufzufordern, den Belagerungszustand aufzuheben. Ein Zusatzantrag präzisierte, daß die Kammer feststellen solle, daß die Fortdauer des Belagerungszustandes in Berlin ohne Zustimmung des Parlaments ungesetzlich sei, die Kammer aber diese Zustimmung nicht erteile; diese Formulierung wurde trotz des engagierten Auftretens des Innenministers Otto v. Manteuffel (1805–1882), der Schreckensbilder vom Potential des möglichen politischen Verbrechens in Berlin malte, mit 184 zu 139 Stimmen angenommen. Die anschließende Abstimmung über die sofortige Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin passierte mit 177 zu 153 Stimmen – immer noch eine deutliche Mehrheit!
     Regierung und König reagierten prompt auf diese Unverschämtheit: Am Vormittag des folgenden Tages erschien der Ministerpräsident im Sitzungssaal, nahm den wieder äußerst knappen Ausgang der Abstimmung über die Einrichtung einer Bannmeile um das Parlament für die Dauer seiner Sitzungsperiode (nur mit einer Stimme Mehrheit angenommen!) zur Kenntnis, verlangte das Wort und verlas dann eine vom selben Tag – dem 27. April – datierte Königliche, von den Ministern gegengezeichnete Verordnung, mit der die Zweite Kammer aufgelöst und
die Erste Kammer vertagt wurde. Das bedeutete das unverhüllte Bekenntnis der Konterrevolution zum Schlußstrich unter die betont liberalisierende Phase in dem Prozeß, den März 1848 auszulöschen und die Stellung der Krone im preußischen Staatsgetriebe wieder unantastbar zu machen.
     Die Nachricht von der dekretierten Auflösung der Volksvertretung, die gerade einmal zwei Monate getagt hatte, durchflog Berlin in wenigen Stunden. Gegen Abend, nach Arbeitsschluß, sammelten sich mehrere hundert Demonstranten auf dem Dönhoffplatz, an dessen Rand sich das Domizil der Zweiten Kammer – das einstige Palais Hardenberg – befand. Ansammlungen von mehr als 20 Personen unter freiem Himmel waren durch den Belagerungszustand jedoch verboten, und die auf Proteste vorbereitete Schutzmannschaft war mit einem großen Aufgebot eifrig bemüht, durch Mißhandlungen und Verhaftungen die Geltung des Belagerungszustandes in Erinnerung zu bringen, auch wenn ihr aus der Mitte der Demonstranten die Argumentation entgegengesetzt wurde, die aufgelöste Volksvertretung habe ja den Belagerungszustand als illegal befunden; die Berufung auf verfassungsmäßig garantierte Versammlungsfreiheit fand ebensowenig Akzeptanz. Mitten auf dem Platz befand sich zu der Zeit gerade eine geräumige Bretterbude zur Lagerung von Baumaterial, und diese benutzte die Polizei nun als provisorisches Arrestlokal. Von seiten der
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Demonstranten gab es Versuche, Verhaftete zu befreien, und dabei wurde auch der eine oder andere Schutzmann unsanft angefaßt.
     Jedenfalls klappte das polizeiliche Krisenmanagement nicht, und so wurde – was ja durch die Gründung der Schutzmannschaft im Juni/Juli 1848 eigentlich hatte vermieden werden sollen – von der Obrigkeit doch wieder nach Militär gerufen. Aus der benachbarten Kommandantenstraße erschienen etliche Kompanien des dort kasernierten Kaiser-Franz- Gardegrenadierregiments Nr. 2 (»Franzer«). Deren Offiziere wurden von den Tumultanten jedoch auch nicht gerade mit zarten Worten überschüttet, und als einer von ihnen den Degen zog, wurde er niedergestoßen und mit Tritten traktiert. Daraufhin ließ der kommandierende Offizier die durch das Allgemeine Landrecht vorgeschriebenen drei Trommelwirbel, die den Gebrauch der Schußwaffe ankündigten, ganz kurz hintereinander intonieren und sofort danach in die Menge feuern: drei Menschen stürzten tot zu Boden. Als der Berliner Abgeordnete der Zweiten Kammer, Julius Berends, aus dem unmittelbar benachbarten, auch am Dönhoffplatz gelegenen Restaurant »Konversationshalle« herauseilte, wurde er von Soldaten mit dem Bajonett traktiert, wobei allerdings nur seine Kleidung aufgeschlitzt wurde. Da Berends eine stadtbekannte Person und überall als Demokrat bekannt war, liegt es nahe, daß einer der Offiziere ihn als Zielscheibe für einen Denk-
zettel angegeben hatte. Weil die Tumulte sich nach der Salve auf dem Dönhoffplatz nach Osten auf den Spittelmarkt, in die Gertraudenstraße und bis auf den Köllnischen Fischmarkt, nach Westen in die Leipziger und Krausenstraße verlagerten, drang das Militär auch dorthin vor und gab Schüsse ab – wahrscheinlich aber nun in die Luft.
     Am nächsten Tag, einem Sonnabend, fanden sich ungeachtet des blutigen Vorfalls vom vorangegangenen Abend schon am Vormittag wieder Menschen auf dem Dönhoffplatz und dem benachbarten Spittelmarkt ein und rangelten mit der Polizei, die einige Verhaftungen vornahm – 34 meist jugendliche Arrestanten wurden auf der Stadtvogtei am Molkenmarkt eingeliefert. Abends marschierte wiederum Militär auf und machte an der Gertraudenbrücke von der Schußwaffe Gebrauch. Der Tischlermeister Loback und seine Frau, die unterwegs waren, um Stühle zu liefern, fanden so in der Gertraudenstraße den Tod. Auf polizeiliche Anweisung hin hatten alle Cafés und Lesehallen am Dönhoffplatz zu schließen. Der 29. April sah in etlichen Teilen der Stadt Angriffe auf Schutzmänner und eine erste polizeiliche Bilanz an Toten – acht an der Zahl, natürlich alles Zivilisten aus dem arbeitenden Stand, z. B. eine Handelsfrau, ein Buchbinder, ein Instrumentenmacher, ein Bäckergeselle, ein Schuhmacher. Ein Handlungsgehilfe hatte den Tod gefunden, weil er in der Kommandantenstraße ein Detachement »Franzer«
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beschimpft hatte, von einem Offizier zu Boden geschlagen worden, aber wieder aufgestanden war und weitergeschimpft hatte, woraufhin der Offizier dem Flügelmann der Truppe den Befehl »Feuer!« gegeben und der prompt den Jungen erschossen hatte ... Am 30. April hatte der Unmut über die königliche Willkür sich vom Tagungsort der aufgelösten Zweiten Kammer verlagert in das Stralauer Viertel, eine ausgesprochene Arbeitergegend, und dort ertönte aus einer etwa hundert Köpfe umfassenden Zusammenrottung hinter der Andeutung einer Barrikade an der Ecke Große Frankfurter Straße/ Weberstraße auch der Ruf »Es lebe die Republik!« Dagegen ging das requirierte Militär naturgemäß mit der entsprechenden Wut vor, und Opfer dieses monarchistischen


Tumult auf dem Dönhoffplatz, 27. April 1849. (Der Zeichner-Korrespondent der »Illustrated London News« dramatisiert jedoch: Kavallerie war nicht im Einsatz.)
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Engagements wurde ein Malergehilfe, der auf der Flucht vor den Soldaten von einem derselben eingeholt und von hinten mit dem Bajonett erstochen wurde. 18 Verhaftete kamen wenigstens mit dem Leben davon, obwohl ihnen drakonische Strafen drohten: Ein 16jähriger Weberlehrling, der am 1. Mai – dem letzten Tag der Unruhen – aus einem Auflauf in der Landsberger, Gollnow und Weberstraße heraus auf Schutzmänner und Soldaten mit Steinen geworfen hatte, wurde am 1. Oktober d. J. zu drei Jahren, sein Mittäter, ein 19jähriger Seidenwirkerlehrling, wegen seines höheren Alters gar zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Mildere Richter hatte dagegen der 30 Jahre alte Schneidermeister Christian Friedrich Bendler gefunden, der am 24. Juli vor Gericht gestanden hatte, weil er am 27. April einen Arrestanten abführenden Schutzmann am Ärmel festgehalten und angeschnauzt hatte: »Was – Sie wollen hier arretieren? Loslassen! Loslassen!« Der Staatsanwalt hatte darin Widerstand gegen die Staatsgewalt gesehen und auf zwei Monate Gefängnis plädiert – aber die Geschworenen (seit 1. April 1849 gab es in Preußen Schwurgerichte) hatten im Anfassen eines Ärmels keinen Widerstand gesehen und auf »nicht schuldig« befunden.
     Die Berliner Unruhen vom 27. April bis zum 1. Mai erreichten nicht einmal die Intensität der Straßenunruhen in den Tagen vor dem 18. März 1848, obgleich der Anlaß bei beiden Bewegungen nahe beiein-
ander lag. Damals war es der Drang nach politischen Veränderungen gewesen, jetzt war es der Eifer, einmal errungene politische Positionen nicht sang- und klanglos wieder aufzugeben. Trotz des beschränkten Umfangs, den die Berliner Straßenproteste im Zusammenhang mit der brutalen Verabschiedung der Volksvertretung Ende April 1849 nur erreichten, ließen sie doch bei Hof und Regierung die Alarmglocken klingen: Am 10. Mai 1849 wurde ein Gesetz über den Belagerungszustand verabschiedet, das das härteste Zugreifen gegen Störer der Ordnung legalisierte und – unerhört für Friedenszeiten selbst in Preußen – für deren Verfolgung sogar Kriegsgerichte gegen die eigene Bevölkerung schuf. Grundlage bildete der Artikel 105 der »oktroyierten« Verfassung von 1848, der den einseitigen Erlaß von Gesetzen durch König und Regierung in solchen Zeiten erlaubte, in denen die beiden Kammern des Landtags nicht fungierten. Das erste dieser schandbaren Gerichte wurde nicht zufällig gerade in Berlin installiert. Auch das aus dem Druck der Märzrevolution entsprungene allgemeine Wahlrecht wurde nun zu den Akten gelegt: Als am 30. Mai die Neuwahlen für die Zweite Kammer auf den 27. Juli festgelegt wurden, wurde gleichzeitig das Drei-Klassen-Wahlrecht verkündet.

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