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Bernhard Meyer
Forderung und Ziel:
Gesundheit für alle

Zur Geschichte des Berliner Gesundheitspflegevereins

Kurz bevor sich im Juli 1849 die endgültige Niederlage der Revolution abzeichnete und konservativmonarchistische Kräfte das Ruder wieder fester in die Hand bekamen, gründete sich am 1. Mai 1849 der »Gesundheitspflegeverein der Berliner Arbeiterverbrüderung« (GVBA). Das scheint ein Widerspruch zu sein, denn Anzeichen für die Konsolidierung der althergebrachten Verhältnisse waren auch im Gesundheitswesen unübersehbar. Als Symptom dafür kann die Relegierung des Prosektors Rudolf Virchow (1821–1902) von der Charité gelten. Trotz seines zu großen Hoffnungen berechtigenden medizinischen und theoretischen Talents wurde er Ende März 1849 wegen seiner republikanischen und demokratischen Gesinnung aus Preußens Metropole vertrieben. In jenen Wochen mußte die – im Gefolge der Märzereignisse entstandene – Zeitschrift »Die Medicinische Reform« ihr Erscheinen einstellen, ihre letzte Ausgabe erschien am 29. Juni 1849. Die Vereinsgründung muß deshalb als mutiger Versuch des Berliner

»Bezirkskomitees der deutschen Arbeiterverbrüderung« angesehen werden, einige der 48er Ideale zu retten.
     In Berlin praktizierende und gesundheitspolitisch agierende Ärzte wie Salomon Neumann (1819–1908), Rudolf Virchow und Rudolf Leubuscher (1821–1861) hatten sich in der Medicinal-Reformbewegung unmißverständlich für eine staatliche Verantwortung und das Recht von Handwerkern und Arbeitern ausgesprochen, unabhängig von der entwürdigenden Armenfürsorge medizinisch versorgt zu werden (vgl. BM 4/98). Jetzt ging es prinzipiell darum, im Rahmen von Vereinigungen dem gesundheitspolitischen Anliegen weiterhin Gehör zu verschaffen und gleichzeitig praktische soziale und medizinische Hilfe zu leisten.

Bedeutendster Verein der Arbeiterbewegung

Maschinenbauer, Tischler und andere Gesellen- und Arbeitergruppen, die etwa 20 Prozent der Berliner Gesellenschaft ausmachten, verlangten ein »volkstümliches Gesundheitswesen, selbstverwaltete Krankenkassen, Arbeiterinvalidenhäuser«. Diese Ansichten ähnelten denen des Ärztekreises um Virchow, so daß als »organisatorisches Ergebnis der politischen Verwandtschaft zwischen den demokratischen Ärzten und der frühen Arbeiterbewegung« der Gesundheitspflegeverein entstand.1) Er entwickelte

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sich während seiner vierjährigen Existenz zum bedeutendsten Verein innerhalb der Arbeiterverbrüderung. Der GVBA war eine Selbsthilfeorganisation der Arbeiter, die nach demokratischen Regeln geführt wurde und gesundheitspolitische Ziele des Vormärz verfolgte.
     Zum Vorsitzenden der Berliner Arbeiterverbrüderung und damit des GVBA wurde der Goldarbeiter Friedrich Ludwig Bisky (1817–1863) gewählt, dem eine zunächst nicht näher von ihm bestimmte »gesellschaftliche Gesundheitspflege« vorschwebte. Klar schien jedoch zu sein, daß eine bisher nicht übliche Herangehensweise an Gesundheit und Krankheit durch den Verein verwirklicht werden sollte. Das hieß vor allem, die therapeutische Betreuung mit prophylaktischen Maßnahmen zu verbinden.
     Detailliertere Auskunft gab der 20 Paragraphen umfassende Statutenentwurf vom 5. April 1849 (nach weiteren Vorschlägen am 30. September 1849 endgültig bestätigt), der vom Berliner Bezirkskomitee mit Sitz Alexanderstraße 37 a herausgegeben wurde. So definierte der § 2 den wesentlichen Zweck des Vereins, nach dem »Vereinsärzte gleich Hausärzten den Mitgliedern mit Rath und That zur Seite stehen« und ihnen »möglichst kräftigen Schutz zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Beistand in Erkrankungsfällen« gewähren sollten.2) Die Präambel verdeutlicht die enge geistige Verwandtschaft mit den Gesundheitsreformern: »Die
Gesundheit, für alle Menschen, ohne Unterschied des Standes und des Ranges, in gleicher Weise ein unschätzbares und unveräußerliches Gut, ist für Denjenigen, welcher in Gesundheit sein einziges und vorzügliches Eigenthum besitzt, von doppelt hoher Bedeutung.«3) Aus diesem Grunde wurde eine Vereinskasse zur Finanzierung der ärztlichen Leistungen geschaffen.

Für anderthalb Silbergroschen unentgeltliche Behandlung

Der monatliche Beitrag betrug eineinhalb bis zwei Silbergroschen und diente ausschließlich der Gesundheitspflege. Das Finanzierungsprinzip beruhte auf der Solidargemeinschaft der Mitglieder, Zuschüsse der preußischen Regierung oder des Magistrats von Berlin gab es nicht. Ende 1849 gründete sich zur finanziellen Stabilisierung innerhalb der Verbrüderung noch ein Kreditund Sparverein. Am 27. Dezember 1849 trafen sich »etwa 20 Personen im Bierlokal Palm in der Stralauer Straße 37 und tagten dort mehrere Stunden«.4) Gegenstand der Zusammenkunft war die vom Verein gegründete Sterbekasse.
     Die selbst aufzubringenden finanziellen Mittel zwangen, äußerst rationell mit den Geldern umzugehen, auf jegliche Verwaltung zu verzichten, eine ökonomisch bestimmte Verordnungsweise anzuwenden und auf ehrenamtliche Mitwirkung zu hoffen.

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Um so bedeutungsvoller waren die Rechte der Mitglieder: unentgeltliche ärztliche und wundärztliche Behandlung, einschließlich kleinerer chirurgischer Eingriffe durch Vereinsärzte; Anspruch auf konsiliarische Hinzuziehung weiterer Ärzte bei schweren und langwierigen Erkrankungen, Erteilung der Arbeitsunfähigkeit, Bezahlung von Heilmitteln, Bruchbändern und Brillen. Die Apotheker Berlins erklärten sich bereit, Rezepte der Vereinsärzte zu akzeptieren, und waren sogar verpflichtet, einen Rabatt von 25 Prozent zu gewähren, wenn der monatlich durch den Verein verordnete Umfang an Medikamenten und Heilmitteln die Summe von 50 Reichstalern überschritt. Zum Leistungskatalog gehörte auch die Behandlung der Syphilis, was nicht von vornherein als selbstverständlich galt. Ferner wurde ein Krankengeld von 10 Silbergroschen pro Tag gezahlt.
     Die Kosten für die Aufnahme in ein Krankenhaus konnten allerdings vom Verein nicht übernommen werden, so daß die Betroffenen entweder selbst dafür aufzukommen hatten oder die Armenfürsorge für sie einspringen mußte. Ab Februar 1850 wurden auch Arbeiterinnen ab dem 18. Lebensjahr als Vereinsmitglieder aufgenommen. Ihr Beitrag wurde ohne Angabe von Gründen auf zweieinhalb Silbergroschen pro Monat festgelegt, die Leistungen entsprachen denen der männlichen Mitglieder. »Hülfsleistungen bei Entbindungen« gehörten nicht dazu,
bezahlt wurden hingegen notwendige Behandlungen durch den Arzt und Medikamente für Wöchnerinnen. Die Apotheker sahen in der Einbeziehung von Arbeiterinnen einen willkommenen Anlaß, dem Verein ihren Rabatt zu kündigen. Als weitreichende soziale Leistung muß die Aufnahme von Familienangehörigen der Mitglieder angesehen werden. Mit seinem Leistungsspektrum ging der GVBA beträchtlich über die der üblichen, an den Magistrat gebundenen Gewerkskrankenkassen hinaus. Der GVBA hatte durchschnittlich 5 976 Mitglieder, von denen knapp 10 Prozent während ihrer Erkrankung Vereinshilfe beanspruchten. Bestimmte Berufsgruppen (z. B. Maschinenbauer) waren nicht im Verein vertreten, da sie durch betriebseigene Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskassen (z. B. Borsig und die Eisengießerei der Preußischen Seehandlung), denen sie obligatorisch angehörten, versorgt wurden.

Ziel: Nichtkommerzielles Verhältnis Arzt–Patient

Die Erfüllung der im Statut festgelegten Ziele erforderte das Mitwirken von Ärzten, denen die Einheit von Therapie und Prophylaxe ebenso wichtig war wie die sozialen Anliegen der Arbeiterverbrüderung. Sie betrachteten ihre Mitarbeit als Beginn der praktischen Verwirklichung ihrer Ideale vom Arztsein und eines entkommerzialisierten

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Verhältnisses zu ihren Patienten, den Arbeiterbrüdern. Zwar waren die Ärzte im Verein angestellt, aber ihre Tätigkeit war mit einem formalen Dienstverhältnis nicht vergleichbar. Innerhalb des GVBA bildeten sie gemäß Statut ein Ärztekomitee. Am 19. Mai 1849 beschlossen sie ein »Reglement für die Ärzte des Gesundheitsvereins«.5) Im § 3 einigten sie sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise; neben der komplexen Betrachtung von Prophylaxe und Therapie gehörte dazu vor allem die Sammlung von Daten für eine von Salomon Neumann angestrebte Gesundheitsstatistik. Die Ärzte verpflichteten sich, die Interessen des Vereins und der Mitglieder ihrem Handeln zugrunde zu legen. Dazu gehörte das Honorar, das auf 9 Pfennig pro Behandlung festgeschrieben wurde, wobei aus dem Etat des Vereins nicht mehr als die Hälfte für Arzthonorare vorgesehen war. Jeder der Ärzte übernahm einen bestimmten Bezirk in Berlin. Unverändert festgeschrieben war die seinerzeit übliche Behandlung des Erkrankten in dessen Wohnung.
     Typischer Vertreter dieser vom GVBA entwickelten Methode war Salomon Neumann, der zugleich mit der Übersiedlung Virchows nach Würzburg zum Ideengeber des Vereins wurde. Statut und Organisation boten ihm Voraussetzungen, eine soziale Medizinalstatistik aufzubauen und für seine gesundheitspolitische Arbeit zu nutzen. Die von ihm gemäß Statut verfaßten medizinisch- statistischen
Quartalsberichte finden sich in dieser Form bis dahin nirgends im preußischen Gesundheitswesen. Neumann übernahm durch Wahl während der gesamten Existenz des Vereins den Vorsitz des Ärztekomitees, dem acht Ärzte angehörten, die von weiteren neun, nur zeitweilig mitwirkenden Ärzten unterstützt wurden. Der Verein beschäftigte zehn angestellte Ärzte.
     Gemeinsam mit Neumann gehörte Adolf Abarbanell (1825–1889) zu den Initiatoren des Vereins. Weitere bekannte Ärzte im Verein waren Julius Meyer (1820–1896), der die »Pharmacopoea oeconomica« (aus heutiger Sicht die Positivliste) verfaßte, und der schon erwähnte Rudolf Leubuscher, der im Januar 1851 nach Übernahme des Berliner Arbeitshauses ausscheiden mußte.
     Die Mitgliederzahlen des GVBA schwankten: So zählte man 3 440 Personen im Juli 1849 und 7 259 Personen im Juni 1850. Dem Verein traten im Normalfall die in den einzelnen Gewerken bestehenden Krankenkassen geschlossen bei. Aufgrund dieser starken Hinwendung der Gewerke zum GVBA und seiner ausschließlich den Mitgliedern verpflichteten Leistungen sah sich der Verein zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. Diese kamen in erster Linie vom Magistrat, der seine bisher für diesen Personenkreis verantwortlichen Gewerksärzte in ihrem Einkommen gefährdet sah. Während die Gewerksärzte 80 bis 90 Taler für die ärztliche Versorgung der etwa 10 000 Berliner Gesellen
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erhielten, bezogen die Ärzte des Vereins ungefähr 150 Taler bei etwa 6 000 Mitgliedern.
     Darüber hinaus befand sich die Arbeiterverbrüderung als Kind der Märzrevolution ohnehin im Visier der Berliner Polizeibehörden, die seit November 1848 vom Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich Freiherr von Hinckeldey (1805–1856) befehligt wurden. Er berichtete seinem Innenminister Otto Theodor Freiherr von Manteuffel (1805–1882) am 1. Mai 1850, »daß die große arbeitende Bevölkerung hier, so weit sie sich dem demokratischen Vereinswesen angeschlossen hat, nur von dem einen Gedanken der Notwendigkeit der socialen Umgestaltung erfüllt ist und dazu dieser Gedanke identifiziert wird mit der Auflehnung gegen die Regierung«.6) Mit dem polizeilichen Verbot der Arbeiterverbrüderung am 5. Juni 1850 erloschen auch die Grundlagen für den Gesundheitsverein, so daß er sich am 31. August 1850 auflöste. Die Statutenschreiber hatten vorsorglich, da eine Restauration bereits vorhersehbar war, den § 33 im Statut verankert, nach dem im Falle der Auflösung der Verbrüderung die Ärzte verpflichtet seien, »für das selbständige Bestehen des Vereins Sorge zu tragen«.7) Und so führten die Verantwortlichen ab 1. September ihre Tätigkeit fort; der Verein hieß nunmehr »Berliner Gesundheitspflegeverein«.
     Alle der Verbrüderung angehörenden Ärzte blieben ohne Ausnahme dem neuen
Verein verbunden. Die Mitgliederzahl stieg erneut an und erreichte im Oktober 1851 mit 10 851 Personen den höchsten Stand in der knapp vierjährigen Vereinsgeschichte. Insgesamt wurden 28 000 Personen ärztlich behandelt und 60 000 Taler für 250 000 Krankentage bereitgestellt. Im Oktober 1850 übernahm der spätere Stadtverordnete (1862) und Stadtkämmerer (1871) von Berlin, der Linksliberale Heinrich Runge (1817–1886), den Vorsitz des Vereins.

Verbot des Vereins nach inszeniertem Waffenfund

Die Anfechtungen seitens der Stadt ließen nicht nach, und Versuche, bestimmte Gewerke aus dem Verein herauszulösen, waren ständig an der Tagesordnung. Überraschend kam deshalb das Verbot des Berliner Gesundheitspflegevereins mit Wirkung vom 2. April 1853 nicht. Allerdings erregte der Anlaß in der Stadt größeres Aufsehen.
     Das Polizeigespann Hinckeldey/Stieber inszenierte nämlich im März 1853 die Entdeckung einiger von Mittelsmännern deponierter Waffen und geringer Mengen Munition in der Maschinenfabrik Hauschild in der Stralauer Straße mit der Behauptung, Verschwörer hätten eine neue Revolution vorbereitet und der Gesundheitspflegeverein begünstige diese »hochverräterischen Komplotte«.8) Als Anführer wurden der radikal-demokratische Lehrer August Ladendorff,

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der Vereinsarzt Dr. med. Carl Henrich Ferdinand Falkenthal (1806–1957) und der Geschäftsführer des Gesundheitspflegevereins Salomon Levy ausgemacht, die 1854 gemeinsam mit fünf weiteren Angeklagten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Hinckeldey und seinen Polizeispitzeln war der Verein schon deshalb suspekt, weil er nach der Verbotswelle anfang der 50er Jahre zum Sammelbecken von 48ern wurde.
     Die Hoffnung Neumanns, der durchsichtigen polizeilichen Machenschaft eine richterliche Aufhebung des Verbots entgegenzusetzen, schlug allerdings in Verkennung der schon beträchtlich fortgeschrittenen Befestigung der alten Zustände fehl. Den zum Gesundheitspflegeverein übergewechselten Gewerkskassen blieb im Interesse ihrer Mitglieder nichts weiter übrig, als wieder in den Gewerks-Krankenverein des Magistrats zurückzukehren, der weit unterhalb der Leistungen seiner Vorgänger aus den Revolutionstagen blieb.
Quellen:
1     Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848: Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1987, S. 376
2     Vorschläge zu einem Gesundheitspflegeverein des Berliner Bezirkskomite's der deutschen Arbeiterverbrüderung, in: Karl-Heinz Karbe, Salomon Neumann. Ausgewählte Texte. Sudhoffs Klassiker der Medizin, Neue Folge 3, Leipzig 1983, S. 154
3     Ebenda. S. 153
4     Kurt Wernicke, Kommunisten und polizeiliche Aktivisten in der Berliner Arbeiterbewegung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (BZG), 10. Jg. (1968), Heft 2, S. 335/36
5     Reglement für die Ärzte des Gesundheitspflegevereins, in: Karl-Heinz Karbe, a. a. O., S. 156
6     Rüdiger Hachtmann, a. a. O., S. 847/48
7     Statut des Gesundheits-Pflegevereins des Berliner Bezirks der deutschen Arbeiter-Verbrüderung, (30. Sept. 1849), in: Karl-Heinz Karbe, a. a. O., S. 163
8     Karl-Heinz Karbe, Zur Geschichte des Gesundheitspflegevereins der Berliner Arbeiterverbrüderung, in: Das Deutsche Gesundheitswesen, 28. Jg. (1973), Heft 46, S. 2207
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