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Herbert Schwenk
Ganz Cölln war in Aufruhr

Der »Calvinistentumult« von 1615

Berlin hat viel Tumult und Aufruhr, Rebellion und Revolution erlebt. Es fehlt nicht an Versuchen, dies mit Eigentümlichkeiten Berliner Lebensart und Charakters zu erklären. Goethe nannte die Berliner einen »verwegenen Menschenschlag«, Heinrich Laube (1806_1884) kennzeichnete sie als »grob, zanksüchtig, ohne Sentimentalität, eitel, exklusiv«. Inwieweit das stimmt, sei dahingestellt _ das Aufbegehren der Berliner gegen die jeweilige Obrigkeit hat allerdings tiefere Ursachen. So auch der »Calvinistentumult« von 1615.1)
     Nie zuvor hatten die Untertanen der Residenzstädte an der Spree so vehement gegen die Religion ihres Landesfürsten rebelliert! »Der Schimpf, den man dem Landesherrn angetan, war weltkundig.«2) Während ähnliche innerstädtische Auseinandersetzungen unter religiösen Vorzeichen in Lübeck (1598_1605), Kolberg (1601/02), Göttingen (1611) oder Stralsund (1612_1616) gewaltlos verliefen, nahmen sie in Berlin-Cölln einen anderen Verlauf. »Ganz Kölln war mithin in Aufruhr«, bündelt der märkische Chronist

     
1539 Übertritt von Kurfürst Joachim II. zum evangelischen Glauben

Oskar Schwebel (1845_1891) das Ereignis in seiner »Geschichte der Stadt Berlin (1888). Vor welchem historischen Hintergrund fand dieser Aufruhr statt?

Heiratspläne im Dienste politischer Großprojekte

Zunächst scheint es, wie meist im 16. und 17. Jahrhundert, als ginge es nur um religiöse

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Auseinandersetzungen. Weihnachten 1613 war Kurfürst Johann Sigismund (1572–1619, Kurfürst ab 1608) mit 55 Personen des Hofes zum calvinistischen (sogenannten reformierten) Glauben3) übergetreten, während Kurfürstin Anna (1576–1625) und ein Teil der Geistlichkeit an der Lehre Martin Luthers (1483–1546) festhielten. Nur ein dreiviertel Jahrhundert war vergangen, seit der Berliner Hof unter Kurfürst Joachim II. (Hektor, 1505–1571, Kurfürst ab 1535) 1539 den Übertritt zum evangelischen Glauben vollzogen hatte, ohne daß es zu Zwangsmaßnahmen und Blutvergießen kam. Der 1555 auf dem Reichstag zu Augsburg zwischen König Ferdinand I. (1503–1564, römischer König ab 1531, Kaiser ab 1556) und den Reichsständen vereinbarte »Religionsfrieden«, seit 1582 in der Formel »Cuius regio, eius religio« (Wessen das Land, dessen die Religion) zusam-

Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert

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mengefaßt, führte in der Mark Brandenburg jedoch zu keiner obrigkeitlich verordneten Einheitskonfession.
     Unter den Nachfolgern Joachims II. erlangte die religiöse Frage in der Kurmark eine neue politische Dimension, als sich für das Haus Hohenzollern Chancen ergaben, Interessenverflechtungen mittels Heirat in Gestalt von zwei politischen Großprojekten zu realisieren. Es handelte sich um die Durchsetzung der Erbansprüche auf das Herzogtum Preußen4) im Osten und im Westen auf die Herzogtümer Cleve-Mark und Jülich-Berg-Ravensberg, die seit 1521 vereint waren. 1609 brachen verwickelte religiösterritoriale Streitigkeiten zwischen Sachsen, Brandenburg und Pfalz-Neuburg5) um das Jülich-Clevesche Erbe aus. Dieser Erbfolgestreit erlangte am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges große politische Brisanz, nachdem 1608 die protestantische »Union« und 1609 die katholische »Liga« entstanden waren und sich damit bereits die religiöspolitische und militärische Grundkonstellation des kommenden großen europäischen Krieges herausgebildet hatte.
     Als Kaiser Rudolf II. (1552–1612, Kaiser ab 1576), Haupt der Gegenreformation, den jülich-cleveschen Gesamtbesitz nach dem Erlöschen der dortigen männlichen herzoglichen Linie (Tod des geisteskranken Herzogs Johann Wilhelm im März 1609, Regent ab 1592) als erledigtes Reichslehen für Habsburg einziehen wollte, gelang es den Erbprä-
tendenten von Brandenburg und Pfalz-Neuburg, mit Hilfe der großen protestantischen Koalition ihre Ansprüche durchzusetzen. Dabei gerieten Brandenburg und Pfalz-Neuburg selbst aneinander. Im November 1614 kam es in Xanten unter dem Schutz der »Union« zu einem Vergleich, mit dem der Erbstreit beigelegt, jedoch erst durch den Dortmunder Vertrag von 1666 endgültig bestätigt wurde. Pfalz-Neuburg erhielt das vereinigte Herzogtum Jülich-Berg westlich und östlich des Rheins, Brandenburg bekam das niederrheinische Cleve mit den Grafschaften Mark (Westfalen), Ravensberg (zwischen Ems und Weser) sowie vorübergehend auch Ravenstein am Niederrhein. Diese Erbschaft brachte zwar »nur« einen territorialen Zugewinn von etwa 5 400 km2, erwies sich jedoch als strategisch sehr bedeutsam. Macht und Expansionsdrang der Hohenzollern waren gestärkt worden. Die Grenzen Brandenburg-Preußens reichten nun für Jahrhunderte von der Memel bis zum Rhein. In neuer Weise war der alte Kurstaat mit den Interessen Spaniens, der Republik der Vereinigten Niederlande und Frankreichs im Westen sowie Polens und Schwedens im Osten konfrontiert und in deren Ambitionen und Kämpfe verstrickt.
     Um die Erbansprüche in Preußen und Cleve durchzusetzen, waren am brandenburgischen Hof mit einer ebenso kühlen wie weitsichtigen Berechnung, die noch heute erstaunt, Heiratspläne entworfen worden.
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Kurfürst Johann Sigismund (1572–1619)

Sie sind in ihrer politischen Dimension wohl einzigartig in der 500jährigen Geschichte des brandenburgischen Hauses der Hohenzollern. Zuerst wurde der 19jährige Kurprinz Johann Sigismund im Dezember 1591 mit der 15jährigen Prinzessin Anna von

Preußen und Jülich-Cleve-Berg, der ältesten Tochter des geisteskranken Herzogs Albrecht Friedrich von Preußen (1553–1618) und seiner Gemahlin Marie Eleonore von Cleve, der nächsten Erbin der jülich-cleveschen Lande, in Berlin verlobt; die Heirat fand im Oktober 1594 in Königsberg statt. Zweite Komponente zur Absicherung der politischen Großprojekte war, daß auch der kurfürstliche Vater Joachim Friedrich (1546–1608, Kurfürst ab 1598) im Oktober 1603, nachdem seine Ehefrau und die Mutter Johann Sigismunds, Katharina von Brandenburg (1549–1602), verstorben war, ebenfalls eine Tochter des geisteskranken Herzogs Albrecht Friedrich von Preußen heiratete, und zwar die jüngere preußische Prinzessin Eleonore (1583–1607). Dadurch war der Vater zum Schwager seines eigenen Sohnes geworden! Damit nicht genug, folgte zwei Jahre später die dritte Komponente: 1605 verlobte Johann Sigismund, noch immer Kurprinz, schon seinen 10jährigen Sohn Georg Wilhelm (1595–1640, Kurfürst ab 1619) mit der 8jährigen Prinzessin Elisabeth Charlotte von der Pfalz (1597–1660); beide gingen im Juli 1616 die Ehe ein und schenkten übrigens 1620 einem Knaben das Leben, der noch viel von sich reden und Geschichte machen sollte: Kurprinz Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst in spe.
     Diese mehrfache religiöse Verbindung der Hohenzollern mit dem lutherischen Preußen, dem seit November 1613 katholischen
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Jülich-Cleve und der calvinistisch-reformierten Pfalz, abgesichert durch Vater Joachim Friedrich, Sohn Johann Sigismund und Enkel Georg Wilhelm, konnte nicht ohne innenpolitische Auswirkungen bleiben. Johann Sigismunds Übertritt zum Calvinismus im Jahre 1613 geschah also nicht nur aus Glaubensgründen, sondern »auch in der Absicht, dadurch kräftigere Unterstützung bei den reformierten Fürsten und den Niederlanden zu finden«.6) Seinen Untertanen hatte der Kurfürst zwar freigestellt, die Religion ihres Gewissens zu wählen. Aber es machte sich große Besorgnis breit, daß der plötzliche Religionswechsel des Kurfürsten im Lande nicht verstanden und seine Toleranz nicht Schule machen werde. Spannungen und Proteste waren zu befürchten. Im Tumult von 1615 in Cölln und Berlin kamen sie offen zum Ausbruch.

1 Mühlendamm
2 Cöllnischer Fischmarkt
3 Breite Straße
4 Brüderstraße
5 Neumannsgasse
6 Spreegasse
7 Scharrenstraße
8 Gertrauden Straße
9 Fischerstraße
10 Rosstraße
11 Petri-(Lapp-)straße
12 Grünstraße
Schauplatz des »Calvinistentumults« in Cölln 1615 (Umzeichnung eines Ausschnitts aus dem ältesten Stadtplan von Berlin-Cölln von J. G. Memhardt um 1650)
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Anfang April fielen die ersten Schüsse ...

Schauplatz der Ereignisse wurde der Bereich zwischen dem kurfürstlichen Schloß und der Petrikirche in Cölln. Ende März/ Anfang April 1615 kam es zur gewaltsamen Konfrontation von Calvinisten und Lutheranern. Als sich der um Toleranz und Ausgleich bemühte Kurfürst »zur Regelung der preußischen Angelegenheiten« nicht in Berlin befand, übte sein reformierter Bruder Markgraf Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf (1577–1624) die Statthalterschaft in der Residenz aus. Er lieferte den Anlaß zur Konfrontation, als er den altehrwürdigen, reich geschmückten Dom am Ende der Brüderstraße im Sinne der Reformierten von »aller Abgötterei zu säubern« befahl. Der Markgraf-Statthalter ließ nach der Predigt am 30. März 1615 sämtliche Schmuck-Kunstwerke aus dem Dom entfernen, auch Altäre, den Taufstein und ein großes hölzernes Kruzifix. Es fand ein regelrechter Bildersturm der Reformierten statt. Einige Tage später, am Palmsonntag, dem 3. April 1615, forderte der aus Anhalt gekommene reformierte Hofprediger Martin Füssel, auch in der Cöllner Petrikirche ein Bild zu entfernen, das angeblich »Schand und Hurerei« darstelle. Der Empörung über dieses Ansinnen verlieh der junge Diakon an der Petrikirche, Peter Stüler, vehement Ausdruck, als er am selben Tag in seiner Gegenpredigt, an den Landes-

herrn gewandt, ausrief: »Willst du reformieren, so zieh nach Jülich, da hast du zu reformieren genug! Sieh zu, wie du das behaltest!«7) Um einer Verhaftung zu entgehen, floh Stüler zunächst nach Schöneberg, kehrte jedoch, um drohendes Unheil zu verhüten, bald wieder in sein Haus in der Brüderstraße zurück.
     Am darauffolgenden Montag, dem »Festtag aller freien Gesellen«, versammelten sich Bürger und Handwerksburschen, aber auch einige stellungslose Landsknechte, vor der Petrikirche, um sich auf ihre Weise mit dem Diakon Stüler zu solidarisieren. Das »Tumultieren« begann. Sie zogen am Abend, zum Teil mit Spießen, Säbeln und Musketen bewaffnet, in die Brüderstraße, um das Haus von Stüler zu schützen. Dabei wurden auch die Häuser einiger Reformierter, darunter das des Hofpredigers an der Ecke beim Dom, mit Steinen beworfen. Im Bereich Petrikirche/ Brüderstraße versammelte sich abends und nachts eine immer größer werdende und immer lauter lärmende Menschenmenge, darunter auch viele Einwohner der Schwesterstadt Berlin. Schimpfworte heizten die Atmosphäre an. Da erschien der Markgraf-Statthalter, um die aufgebrachte und zum Teil auch alkoholisierte Menge zu beschwichtigen. Aber weder er noch der Cöllner Bürgermeister Georg Jahn vermochten etwas auszurichten. Dann läuteten die Glocken Sturm. Und es fielen die ersten Schüsse, später wurde behauptet, zuerst aus der Pi-
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   17   Probleme/Projekte/Prozesse»Calvinistentumult« von 1615  Vorige SeiteNächste Seite
stole des Markgrafen. Es gab Verwundete auf beiden Seiten. Der Markgraf wurde als »Hurensohn« beschimpft. Ein Stein flog dicht an seinem Kopf vorbei, die flache Klinge eines Säbels traf seinen Rücken, und schließlich wurde er von einem Steinhagel schwer am Bein verletzt. Daraufhin zog sich der Markgraf mit seinen Bewaffneten ins Schloß zurück. Aber der Tumult ging weiter. Häuser wurden geplündert, das Pflaster aufgerissen. Im Berliner Heilig-Geist-Spital am Spandauer Tor läutete die Glocke, um die Bürger mit ihren Waffen zur Sammlung zu rufen. Sie wurden zum Schutz des Rathauses und der beiden Brücken nach Cölln beordert.
     Am nächsten Morgen waren beide Städte noch in großer Unruhe, der Höhepunkt der Ereignisse war jedoch überschritten. Das Gerücht, der Markgraf wolle vom Schloß aus die gesamte Stadt in seine Gewalt bringen, bewahrheitete sich nicht. Nachdem auch der Kurfürst zurückgekehrt war und seine Wachmannschaften in Alarmbereitschaft versetzt hatte, wurde eine gerichtliche Untersuchung der hochpolitischen Angelegenheit eingeleitet. Am 14. April 1615 traten die Stände auf dem Schloß zusammen, um nach kurzer Beratung die Maßnahmen des Kurfürsten gutzuheißen, zugleich jedoch zu bitten, mit den Schuldigen nicht Unschuldige zu strafen. Auch die Bürgermeister und Ratsherren stellten sich auf die Seite des Landesherrn. Es wurde vereinbart, den Bürgern beider Städte eine unterschriftliche Erklä-
rung abzuverlangen, daß sie mit den Aufrührern nichts zu schaffen hätten. Die Erklärung unterzeichneten in Berlin 562 und in Cölln 282 Personen, darunter waren 301 bzw. 106, die nicht schreiben konnten. In der Folgezeit wurden 150 Zeugen vernommen und viele Details der Vorfälle in ausführlichen Protokollen vermerkt. Selbst die lutherische Kurfürstin war belastet worden, Urheberin des Tumults zu sein – jedoch »ohne Schuld« nachzuweisen. Da sich die Haupttäter, zwölf Handwerksgesellen, mit gestohlenen Silbersachen beizeiten einer drohenden Verhaftung durch Flucht entzogen hatten, ging die Untersuchung ohne eine Festsetzung von Hauptschuldigen zu Ende. Das Haupturteil ließ man durch Spruch des Leipziger »Schöppenstuhls« absegnen. Am 27. Januar 1616 wurde es vor etwa 70 Personen in Anwesenheit des Kurfürsten auf dem Schloß verkündet. Diakon Stüler wurde als »eigentlicher Urheber« ausgemacht, allerdings nicht als »Verschwörer« an den Schandpfahl gestellt, sondern »nur« des Landes verwiesen. Gegen die geflohenen Handwerksgesellen als »Aufrührer und Aufwiegler« wurden Haftbefehle ausgestellt. Vier in Spandau bereits seit längerer Zeit einsitzende Übeltäter sollten vom Scharfrichter lediglich »befragt« werden. Wesentlich war jedoch, daß Berlin und Cölln nicht für den Tumult verantwortlich gemacht und zur Entschädigung verurteilt werden konnten. Die Religionsfreiheit blieb erhalten. Das calvinistische Bekenntnis
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   18   Probleme/Projekte/Prozesse»Calvinistentumult« von 1615  Vorige SeiteNächste Seite
des Landesfürsten wurde den Untertanen auch nach dem Tumult nicht aufgezwungen. Die Spreestädte und ihre Bürgerschaft hatten durch den Tumult von 1615 ihrem Standpunkt öffentlich Nachdruck verliehen.
     Und der Tumult von 1615 hatte eine weitere Folge. Am 17. April 1618 erließ der Kurfürst eine Anordnung über die Verhaltensweise bei Feuersbrünsten »oder aber Tumultt und Auflauff«, in der ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Bürgerschaft zum Ausdruck kam. Es wurde angeordnet, daß im Falle von Aufstand, Tumult oder Aufruhr in den Residenzstädten Berlin und Cölln bei Tag oder Nacht die nichtaufständischen Bürger bewaffnet werden und gut geordnet schnellstens auf Sammelplätzen zu erscheinen hätten, um auf Befehl des Kurfürsten gegen die Aufständischen militärisch vorzugehen. Dazu wurden beide Städte in Stadtviertel untergliedert: Berlin in das Kloster-, Marien-, Nikolai- und Heilige-Geist-Viertel; Cölln wurde ebenfalls in vier, zeitweise in fünf Quartiere eingeteilt. Zudem sollten beide Städte über die Stadttore und die beiden Brücken (Lange Brücke und Mühlendamm) gesichert werden. Ferner erhielten alle Stadtviertel einen Ober- und Unterviertelmeister, die jährlich neu zu bestimmen waren. Abgerundet wurde die Anordnung durch etliche Festlegungen zum öffentlichen und privaten Brandschutz.
     Kurfürst Johann Sigismund war indes des Lebens müde geworden. »Vereinsamt ganz
und gar und überdrüssig dieser argen Welt, kränkelnd und von düsteren Wahngebilden beunruhigt«,8) übergab er, gerade erst 47jährig, seinem Sohn Georg Wilhelm am 22. November 1619 die Regierung, verließ das Schloß, begab sich zu seinem alten Vertrauten Anton Freytag in die Poststraße und starb dort am 23. Dezember 1619 gegen drei Uhr nachmittags. Welchen Einfluß auf dieses merkwürdige kurfürstliche Finale die dramatischen Ereignisse zwischen 1613 und 1618 hatten – darüber schweigen die Annalen der Geschichte.
     Berlin sollte auch nach 1615 noch mancherlei Tumult und Aufruhr, Rebellion und Revolution erleben – immer war große Politik im Spiel ...

Quellen und Anmerkungen:
1     Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse bei Eberhard Faden: Der Berliner Tumult von 1615. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, hrsg. im Auftrage der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V. von Martin Henning und Heinz Gebhardt, 5. Bd., Berlin 1954, S. 27–45. Vgl. auch Oskar Schwebel, Geschichte der Stadt Berlin, Berlin 1888, S. 500–513 und »Berlinische Monatsschrift« 4/1993, S. 82
2     Eberhard Faden, a. a. O., S. 39
3     Die Reformierten gingen aus der Schweizer Reformation durch Huldrych (Ulrich) Zwingli (1484–1531) und Johannes (Jean) Calvin (1509–1564) hervor. Die voneinander abweichenden

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Gruppierungen des Calvinismus breiteten sich besonders in Frankreich (Hugenotten), England (Puritaner), den Vereinigten Niederlanden und im Südwesten Deutschlands sowie am Niederrhein aus. Die streng an die Bibel gebundene Theologie der Reformierten fordert, im Unterschied zu Papsttum und Lutheranern, äußerst schlichte gottesdienstliche Formen ohne Altäre, Kruzifixe und Bilder sowie weitgehenden Verzicht auf liturgische Traditionen.
4     1525 war der alte Ordensstaat Preußen in ein weltliches Herzogtum umgewandelt worden, mit dem der Hohenzoller Albrecht, Markgraf von Brandenburg-Ansbach, seit 1511 letzter Hochmeister des Ordens, vom König von Polen, seinem Onkel, belehnt wurde. Als Albrecht starb, ging das herzogliche Lehnserbe an seinen Sohn Albrecht Friedrich über. Der brandenburgische Kurfürst Joachim II. erreichte 1569 dank diplomatischem Geschick und Geld die Mitbelehnung in Preußen. Durch geschickte Heiratspolitik erwarb Kurfürst Joachim Friedrich 1605 die Vormundschaft über den geisteskranken Herzog Albrecht Friedrich. Nach dem Tode Joachim Friedrichs ging die Vormundschaft an seinen Sohn Johann Sigismund über, womit die Aussicht für Kurbrandenburg auf die Belehnung mit Preußen erhalten wurde. Als Herzog Albrecht Friedrich am 28. August 1618 starb, war der Zweck erreicht: Brandenburg gelangte endgültig zur Herrschaft in Preußen.
5     Pfalz-Neuburg war neben Pfalz-Simmern, Pfalz-Sulzbach und Pfalz-Zweibrücken eine der Nebenlinien, die vom 15. bis 17. Jahrhundert von
der Kurpfalz (Pfalzgrafschaft bei (am) Rhein, 8 260 km², Residenz Heidelberg) sezessionierten. Die Pfalzgrafen waren seit 1356 im Besitz der Kurwürde (Kurpfalz). Die Linie Pfalz-Neuburg erbte 1685 die Kurwürde.
6     Georg Webers Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte, 21. Auflage, Dritter Band, Leipzig 1911, S. 300
7     Zitiert nach Eberhard Faden, a. a. O., S. 32
8     Oskar Schwebel, a. a. O., S. 513
Bildquellen: Rudolf Herzog,
Preußens Geschichte, Leipzig 1913; Archiv LBV
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