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Hainer Weißpflug
Bäume und Sträucher statt Gemüsefelder

Die erste neue Linde im Großen Tiergarten

Am 17. März 1949 pflanzte Oberbürgermeister Ernst Reuter (1889–1953) die erste neue Linde im Großen Tiergarten. Mit diesem symbolischen Akt begann der Wiederaufbau des Parks, der nach dem Zweiten Weltkrieg völlig verwüstet war.
     Schon als begonnen wurde, die Hauptstadtplanungen des NS-Regimes nach den Entwürfen Albert Speers umzusetzen, kam es zu gravierenden Veränderungen der Parklandschaft. Die Verbreiterung der Charlottenburger Chaussee zu einer den Tiergarten zerteilenden »Autobahn«, der Ausbau der auf sie zulaufenden neuen Siegesallee sowie weiterer Straßen und die Umsetzung der Siegessäule zum Großen Stern zerstörten die von Lenné geprägte Gestalt des Tiergartens von innen heraus. Vier Reihen Alleebäume an der Charlottenburger Straße und Eichen, die 1700 um den Großen Stern gepflanzt worden waren, fielen den Baumaßnahmen zum Opfer; bedeutende Parkflächen wurden bebaut.
     Aber das war erst der Anfang vom Ende des Großen Tiergartens. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Park vollständig zerstört.

Zwischen Landwehrkanal und Zoologischem Garten errichteten die NS- Machthaber den überirdischen Zoobunker, dessen Flakgeschütze die Alliierten zu verheerenden Bombenangriffen auf das gesamte Gelände veranlaßten. Der Sturm auf Berlin konzentrierte sich schließlich auf den Reichstag, das Brandenburger Tor und die Reichskanzlei in unmittelbarer Nachbarschaft des Tiergartens. Als der Kampf in das entscheidende Stadium trat, fraßen sich Schützengräben durch den Tiergarten, Panzer und Granaten pflügten den Park regelrecht um.
     Die Zerstörung des Tiergartens ging nach Kriegsende weiter. Während des schlimmen Nachkriegswinters 1946/47 fällten die Berliner die letzten verbliebenen Bäume, um Heizmaterial zu haben. Von den etwa 200 000 Bäumen des Parks blieben lediglich 700 stehen. Um die Lebensmittelrationen der Einwohner aufzubessern, gab der Magistrat das entholzte Gelände für den Kartoffel- und Gemüseanbau frei. 2 500 Parzellen entstanden so. Andere Flächen ließ der Senat als Felder für Grünfutter bewirtschaften.
     Die Gewässer waren mit Unrat gefüllt. Max Frisch (1911–1991) beschrieb eine Mittagsrast im Tiergarten in diesen Nachkriegstagen wie folgt: »Eine baumlose Steppe mit den bekannten Kurfürsten, umgeben von Schrebergärten. Einzelne Figuren sind armlos, andere mit versplittertem Gesicht.
     Einer ist offenbar vom Luftdruck gedreht
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worden und schreitet nun herrisch daneben. Anderswo ist nur noch ein Sockel mit zwei steinernen Füßen, eine Inschrift; der Rest liegt im wuchernden Unkraut.«1)
     Einen Tag nach der Pflanzaktion stand im »Telegraf«: »Der Dreißigjährige Krieg hatte den Tiergarten nicht zerstört. Damals wurde nur ein Teil des Baumbestandes abgeholzt und die Einzäunung zerstört. Das Waldgelände verwilderte. Was in vier Jahrhunderten gehegt, gepflegt und gepflanzt wurde, ging im Chaos des letzten Krieges und dessen Folgen unter. Im Jahre 1945 ließ der damalige Bürgermeister Bachmann die Reste des Tiergartens abholzen. Berlins schönste Parkanlage ist ... zu einer Kraterlandschaft geworden. Wo wir als Kinder trotz Polizeiverbots im Neuen See gebadet hatten, sind verwahrloste Uferböschungen und mit Entengrütze bewachsene übelriechende Wasser geblieben. Wo im Winter nach aufregender Schlittschuhpartie die Rousseau- Insel zur Rast einlud, wuchert Schlingengewächs in dornigen Büschen.«2)
     Schon am 2. Juli 1945 faßte der Berliner Magistrat den Beschluß zur Wiederherstellung des Großen Tiergartens. Der Leiter des Stadtgartenamtes, Reinhold Lingner (1902–1968), und der Professor für Gartengestaltung an der Berliner Universität (seit 1949 Humboldt- Universität zu Berlin), Georg
Pniower, legten 1946/47 die ersten Entwürfe für die Neugestaltung vor. 1949 begann man nun endlich mit der Säuberung und dem Wiederaufbau des Parks. »Aber gestern feierte der Berliner Tiergarten den Beginn einer Wiedergeburt. Oberbürgermeister Reuter warf die erste Schaufel Erde auf die Wurzeln einer der 500 Linden, die den Krieg in der

 

Ernst Reuter pflanzt die erste neue Linde im Tiergarten

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Baumschule der Tiergartenverwaltung im Grunewald überstanden haben. An der Hofjägerallee am Großen Stern wurde der erste Baum des neuen Tiergartens wieder in den Boden gebracht. Der Oberbürgermeister sprach vielen Berlinern aus dem Herzen, als er sagte: >Der Tiergarten ist die furchtbarste Wunde, die der Krieg unserer Stadt schlug. Der Tiergarten soll wieder zur Erholungsstätte werden. Wir Berliner lassen uns nicht unterkriegen, und in 5 bis 10 Jahren werden wir im Tiergarten schon wieder einen Baumbestand haben.<«3)
     Unter Leitung des Chefs des neugegründeten Westberliner Hauptamtes für Grünflächen und Gartenbau, Fritz Witte, dem es gelungen war, daß die Wiederherstellung des Tiergartens in das Notstandsprogramm für West-Berlin aufgenommen wurde, begannen nun 1 000 sogenannte Notstandsarbeiter mit der Säuberung der Gewässer, und auf einem ersten Abschnitt zwischen S-Bahn und Hofjägerallee konnten 350 Tonnen Metallschrott und 1 500 Tonnen Trümmer abgefahren werden. Gepflanzt wurden 250 000 Junggehölze, darunter 35 000 Setzlinge, gespendet von der Stadt Bremen.
     Den Plänen Wittes folgten 1952 die von Willy Alverdes, damals Leiter des Gartenamtes des Bezirkes Tiergarten. Ihre Verwirklichung gab dem Tiergarten seine heutige Gestalt. Neben Bäumen und Sträuchern wurden 300 000 winterharte Stauden gepflanzt, dabei entstand der Rhododendron-
hain zwischen Rousseau- und Luiseninsel. Wege von insgesamt 35 Kilometern Länge und 13 Brücken wurden erneuert. Neu gegenüber dem Lennéschen Tiergarten sind die großen Liegewiesen und der 1951 bis 1952 angelegte Englische Garten im südlichen Teil des Schloßparks Bellevue.
     Der wiedererstandene Große Tiergarten erlebte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Veränderungen. Fünfzig Jahre, nachdem Ernst Reuter die erste Linde im Tiergarten gepflanzt und die Wiedererstehung des Tiergartens als Erholungs- und Begegnungsstätte eingeleitet hat, melden sich immer mehr Naturliebhaber und Umweltschützer zu Wort, um auf Gefährdungen des Parks aufmerksam zu machen. Neben den »alltäglichen« Umweltsünden muß er in seinem Umfeld zahlreiche Baumaßnahmen wie die für den Tiergartentunnel oder den Potsdamer Platz und die damit verbundene Grundwasserabsenkung verkraften. Bleibt zu hoffen, daß sein Bestand und damit die »Grüne Lunge« in der Mitte der Stadt den Berlinern lange erhalten bleibt.

Quellen:
1     Karl Voss, Stimmen berühmter Berlin- Reisender bei ihrer ersten Begegnung mit der Stadt an der Spree, Berlin/Bonn 1987
2     Die Linde am Großen Stern, in: »Telegraf« vom 18. März 1949
3     Ebenda

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