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Günter Wirth
Publizist, Politiker und Parlamentarier

Zum Wirken von Otto Nuschke

Wenn der Begriff des je Unzeitgemäßen auf die politische Existenz des bürgerlichen Demokraten Otto Nuschke angewendet würde, hätte er Geltung für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als der junge Journalist im Umfeld Hellmut von Gerlachs (1866–1935) und Theodor Wolffs (1861–1943) nonkonformistische Positionen einnahm, dann aber auch für die Zeit des NS-Regimes, als er, sogar vom eigenen kleinen Hof vertrieben, zur absoluten Unperson geworden war. Merkwürdigerweise hätte er Geltung sogar für die Zeit, als er höchste protokollarische Ränge in der DDR einnahm, als er also scheinbar den Gipfelpunkt seiner politischen Biographie erreicht hatte, realiter in der Gesellschaft der DDR indes immer irgendwie als ein Fremdkörper empfunden wurde, und oft genug fühlte er sich selber so. Es gab letztlich nur einen historischen Zeitraum, der für Nuschke des Unzeitgemäßen entbehrte, und das war, trotz all ihrer Mängel, die Weimarer Republik, in der sich dieser Demokrat par excellence als Publizist, Parteipolitiker und Parlamentarier

in Identität mit der zeitgenössischen Gesellschaft befand, diese verstanden als eine Republik, die von den Idealen einer kämpferischen Demokratie, der Toleranz und der sozialen Gerechtigkeit bestimmt war. Als die von ihm seit 1915 geleitete »Berliner Volks-Zeitung« am 1. Januar 1927 den 75. Geburtstag beging, hieß es in einem redaktionellen Geleitwort, das als Credo des Chefredakteurs anzunehmen war: »Unser Kampf für Republik und Recht, für Geistesfreiheit und soziale Gerechtigkeit geht weiter.« Analoges könnte für die Zeit unmittelbar nach 1945, bis 1947/48, gelten, als das gesellschaftliche Leben in der SBZ noch offene Züge des geistigen und politischen Pluralismus tragen konnte.
     Übrigens wird man die politische Existenz Otto Nuschkes nicht verstehen, wenn man nicht würdigte, daß er – in welchen Ämtern und Funktionen auch immer er tätig war – stets vor allem Journalist, Publizist war.
     Gerade in der offener, transparenter Publizistik feindlichen DDR mußte es besonders auffallen, wenn ein Parteivorsitzender und Stellvertretender Ministerpräsident regelmäßige Wochenend- Leitartikel in seinem Zentralorgan (»Neue Zeit«) publizierte, die Titel tragen konnten wie: Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit, und wenn er, vor allem 1956, Briefe an evangelische Kirchenführer und deren Antworten in der »Neuen Zeit« abdrucken ließ, damit eine weitere Öffentlichkeit sich orientieren
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konnte. Allerdings konnte dies dann auch dazu führen, und hier wäre die tragische Seite der unzeitgemäßen politischen Existenz des CDU-Politikers zu orten, daß das von den eigentlichen Machthabern verhöhnte und ihm immer wieder angekreidete Proprium seiner Aussagen den Schleier einer Eigenständigkeit erzeugte, die letztlich von den Realitäten nicht gedeckt war, ja von diesen dementiert wurde: das Scheitern des Publizisten als Politiker ...
     Otto Nuschke kam aus dem für Sachsen so charakteristischen bildungsbürgerlich- mittelständischen Milieu protestantischer Observanz (mit Affinität zum herrnhutischen Pietismus). Er wurde am 23. Februar 1883 in Frohburg geboren. Sein Vater war Druckereibesitzer und gab das »Frohburger Wochenblatt« heraus, und er war in der Lage, seinen Sohn (auch via Privatunterricht) eine gediegene Bildung erwerben zu lassen, allerdings ohne Universitätsstudium. Die Atmosphäre der väterlichen wie jeder Druckerei und Setzerei war und blieb indes immer prägend für Otto Nuschke, und der Verfasser hat selber erlebt, wie dieser Artikel in die Setzmaschine diktierte, ohne daß anschließend viele Korrekturen nötig gewesen wären.
     Schon mit 21 Jahren war Otto Nuschke Chefredakteur der renommierten »Hessischen Landeszeitung« Hellmut von Gerlachs, und Theodor Wolff holte den 27jährigen als Parlamentsredakteur an das damals
führende überregionale liberale Blatt, das »Berliner Tageblatt«. Dort machte sich Nuschke, auch mit Kommentaren und Reportagen, rasch einen Namen. Wie er, noch von Kassel aus, 1908 die als »Spiegel«- Affäre des wilhelminischen bürokratischen Regimes charakterisierte »Bürgermeister Lothar Schückings (1873–1943) Verteidigung und Anschuldigungsschrift der preußischen Regierung« dokumentierte, so waren es vor allem die Auswüchse des Militärstaats, die den militanten Pazifisten aus der Umgebung Theodor Wolffs und Walther Schückings (1875–1935) zum publizistischen Engagement veranlaßten (so in der berühmtberüchtigten »Zabern- Affäre« von 1913).
     Kein Wunder, daß bürgerlich- demokratische, auf Reform der wilhelminischen Gesellschaft ausgerichtete Kräfte auf den jungen Journalisten aufmerksam geworden waren und ihn schon 1912 als Kandidaten bei den Reichstagswahlen im Wahlkreis Waldeck aufstellten, und tatsächlich hatte er den Sieg nur knapp verfehlt; da aber die Wahl wegen unglaublicher Wahlbeeinflussungen (durch den antisemitischen Gegner Nuschkes in der Stichwahl) kassiert wurde, kam es zur Nachwahl, in der Nuschke zugunsten Friedrich Naumanns (1860–1919) zurücktrat – und dieser gewählt wurde: Nuschke galt daher füglich als »Naumannianer«, und 1919 publizierte er (eine der wenigen selbständigen Schriften des Journa-
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listen) eine noch heute lesenswerte Schrift über Naumann.
     1915 wurde Nuschke Chefredakteur der (wie das BT im Mosse-Verlag verlegten) »Berliner Volks-Zeitung«, damit später Nachfolger Franz Mehrings (1846–1919) und Anfang der zwanziger Jahre zeitweiliger »Chef« Carl von Ossietzkys (1889–1938).
     Alle diese Tendenzen und Positionen, die sich so bis 1918 bei Otto Nuschke herausbildeten, drängten nach der Novemberrevolution auf Artikulation und Organisation. Er gehörte daher nicht zufällig zu den Unterzeichnern des am 16. November 1918 veröffentlichten Gründungsaufrufs der Deutschen Demokratischen Partei, der neuen Partei des republikanischen Liberalismus, und es waren mit den (für Nuschke nicht neuen) Namen von Wolff und von Gerlach u. a. auch die von Alfred Weber (1868–1958) und Albert Einstein (1879–1955), die vor oder hinter dem seinigen standen. Ebenso war es kein Wunder, daß der in parlamentarischen Kämpfen früh erfahrene Otto Nuschke 1919 unter den Kandidaten der Deutschen Demokratischen Partei für die Wahl zur Weimarer Nationalversammlung zu finden war und im Wahlkreis Potsdam II gewählt wurde. In Weimar waren es vor allem militär- und pressebzw. kulturpolitische Materien, die ihn interessierten und auf die er einwirkte.
     Insgesamt war sein Einfluß in der Partei (zeitweilig war er stellvertretender Vorsit-
zender des Parteivorstands) und in der Fraktion größer, als dies nach außen in Erscheinung treten mochte (und Chefredakteur der BVZ zu sein war in der Sicht der Klientel der DDP ohnehin ein Amt eigener Dignität). Dies hat Nuschke, der sehr bescheiden war und der die vielen Offerten, eine Autobiographie zu schreiben, weit von sich zu weisen pflegte, 1927 in der schon erwähnten Jubiläumsausgabe seiner Zeitung durchblicken lassen, in der u. a. Paul Löbe (1875–1967), Otto Braun (1872–1955), Erich Koch-Weser (1875–1944), Ernst Lemmer (1898–1970) und Manfred Georg (1893–1965), der spätere Chefredakteur des New Yorker »Aufbau«, zu Wort kamen.
     Im Blick auf die Auseinandersetzungen in der Weimarer DDP-Fraktion über die Frage, wie sie sich zum Friedensvertrag von Versailles verhalten solle, muß er weitergehende realistische Positionen (trotz prinzipieller Ablehnung des Vertrags) formuliert haben, die dann aber verwässert wurden und daher nicht verhindern konnten, daß die DDP in eine schwierige Lage geriet.
     1920 wurde Otto Nuschke in den preußischen Landtag gewählt, und er blieb preußisches M. d. L. bis 1933, obwohl sein Name auch immer wieder in der Reichspolitik genannt wurde: 1920, als er während des Kapp-Putsches zu den aktivsten Verteidigern der Republik gehörte; nach dem Putsch, als sein Name vom linken Flügel der DDP
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und von Sozialdemokraten für die Besetzung des Reichswehrministeriums ins Spiel gebracht wurde (Otto Geßler wurde es dann); als er 1922 im Landtag den Rapallovertrag vehement unterstützte; als er die Bewegung zum Schutz der Republik »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« mitbegründete; als er 1928 im Parteivorstand gegen den Bau des Panzerkreuzers A votierte und als er schließlich 1931 – er war inzwischen wegen Auseinandersetzungen mit dem Verleger Hans Lachmann-Mosse (1885–1944) aus dem Konzern ausgeschieden – Generalsekretär der Deutschen Staatspartei, der DDP- Nachfolgepartei, wurde.
     Nuschke war in der Zeit der Weimarer Republik auch in zahlreichen außerparlamentarischen gesellschaftlichen Organisationen tätig, zumal in der Deutschen Friedensgesellschaft und im Friedenskartell, zu deren herausragenden Führungspersönlichkeiten und Rednern auf Pazifistenkongressen er gehörte, dann vor allem auch in journalistischen Berufsverbänden (bis hin zur Organisation des protokollarisch beachteten Berliner Presseballs) und in parteiübergreifenden kulturellen Initiativen, etwa bei der (staatlich geförderten) Gründung der Gesellschaft »Buch und Presse«, u. a. mit Otto Wels (1873–1939) und Joseph Joos (1878–1965). Er war eben ein Mann des öffentlichen Lebens, der auf eigene und zugleich repräsentative Weise für das gesamtgesellschaftliche und kulturell- intel-
lektuelle Milieu der Weimarer Republik stand. Für deren Ausgestaltung und Verteidigung setzte sich Nuschke seit 1930 vor allem mit dem Versuch ein, als Generalsekretär der Staatspartei mit preußischen Zentrumsabgeordneten und sozialdemokratischen Kreisen gleichsam die »klassische« Weimarer Koalition im Kampf gegen die vordringende nationalsozialistische Bewegung wiederherzustellen. Gleichzeitig nahm er im Landtag immer wieder nazistische Abgeordnete wie Wilhelm Kube (1887–1943) und Hanns Kerrl (1887–1941) aufs Korn, und nicht zuletzt gehörte er zu den prominenten nichtjüdischen Autoren der CV-Zeitung, des Organs des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.
     Als alle diese Bestrebungen eines antinazistischen Bündnisses den 30. Januar 1933 nicht hatten verhindern können, blieb dem Exponenten militanten Republikanismus allein die Möglichkeit, am 4. Februar 1933 im preußischen Landtag bekennerisch zu erklären: »Die Kulturhöhe unseres leidenden und geduldigen Volkes wird sich dadurch erweisen, daß es die Ideen der nationalen Demokratie anerkennen wird, noch zu einer Zeit, da der gewalttätige und rassekämpferische Nationalsozialismus in Deutschland nur noch eine peinliche Erinnerung sein wird.«
     Eine erste Verhaftung Nuschkes am Himmelfahrtstag 1933 war die Antwort hierauf. Weitere Verfolgungen bis hin zur Nötigung
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der Zwangsverpachtung seines kleinen Hofs am Rande Berlins machten ihn während der ganzen NS-Zeit zum Ausgestoßenen aus der Gesellschaft, der dennoch vielen Freunden, vor allem jüdischen, zu helfen vermochte, so Walter Waxmann, dem Schwiegersohn Leo Falls (1873–1925), zur Emigration nach Schweden. Wir wissen, daß Nuschke damals in Zirkeln ehemals demokratischer Politiker (Wilhelm Külz 1875–1948) und Journalisten (Ernst Lemmer, Karl Brammer) zu finden war, und Anfang der vierziger Jahre hatte er Kontakte zu Julius Leber (1891–1945). Daher auch war vorgesehen gewesen, daß Nuschke im Falle eines Erfolgs des Attentats vom 20. Juli 1944 die Leitung des Rundfunks hätte übernehmen sollen. Bis zur Befreiung Berlins hat er illegal gelebt.
     Nach der totalen Niederlage des NS-Regimes gehörte Otto Nuschke zu den Männern der ersten Stunde, und in der Tat schienen die Jahre 1945 bis 1947/48 den Ansatz oder genauer: den Neuansatz an die Zeit vor 1933 zu ermöglichen. Hatte Nuschke schon in den zwanziger Jahren mit dem Blick auf die Novemberrevolution geschrieben: »Hier ist etwas Neues und Reines in der deutschen Geistesschmiede entstanden. Die deutsche Revolution hat die Demokratie wieder ehrlich gemacht«, so war jetzt für ihn nach 1945 die Stunde, das Ziel einer »neuen Demokratie« gründlich anzugehen, dies zugleich in weltanschaulich profilierter
Weise. Daher auch sehen wir den Mitbegründer der DDP von 1918 nicht im Gründerkreis der LDP, sondern – u. a. zusammen mit den früheren DDP-Politikern Theodor Bohner (1882–1963), Ferdinand Friedensburg (1886–1972), Ernst Lemmer und Walther Schreiber (1884–1958) – in dem der CDU; dieser trat am 26. Juni 1945 an die Öffentlichkeit mit der Kernforderung nach einer »neuen Demokratie« und einer neuen Rechtsordnung.
     Gleichzeitig geriet Otto Nuschke in die ihm gut bekannte Gegend des Berliner Zeitungsviertels um die Kochstraße zurück, diesmal in die Zimmerstraße als Verlagsleiter der im Juli 1945 zuerst herausgekommenen (und bis Juli 1994, zuletzt im Umfeld der F.A.Z., herausgegebenen) »Neuen Zeit«, des Zentralorgans dieser neuen Partei. Im Gründerkreis war dann auch Otto Nuschke mit pressepolitischen Angelegenheiten befaßt; in der 11. Sitzung des Gründerkreises am 4. Oktober 1945 berichtete er über den Plan zur Gründung von Zeitungen in der »Provinz«.
     Nachdem Nuschke in der 16. Sitzung dieses Kreises am 4. Januar 1946 in die engere Parteiführung berufen worden war (auf den Parteitagen 1946 und 1947 wurde er dann formell, 1947 mit den meisten Stimmen, gewählt), galt sein besonderes Interesse einer Materie, in der er reiche Erfahrungen besaß: Er war einer der Koordinatoren des Wahlkampfes der CDU im
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Herbst 1946, und er selbst wurde außer in den Kreistag Osthavelland (wo er wohnte) als einziges Berliner Vorstandsmitglied in zwei Landtage gewählt, in den der Provinz Brandenburg und in den der Provinz Sachsen-Anhalt, deren Probleme er ja schon aus seiner Zeit als preußisches M. d. L. kannte.
     Der Einfluß Nuschkes in seinen parteipolitischen und parlamentarischen Funktionen war damals deshalb so groß, weil er zu den wenigen führenden Politikern der Ost-CDU gehörte, die ihren Wohnsitz in der SBZ bzw. in Ostberlin hatten. Deshalb auch war sein Bekanntheitsgrad sehr groß, und auf den vielen Reisen durchs Land erwarb er sich eine ziemliche Popularität, die auch seiner Gabe der spontanen freien Rede geschuldet war (eine schon damals in der SBZ nicht zu häufige Erscheinung!).
     Insgesamt galt Nuschke in den beiden Jahren unmittelbar nach Kriegsende als ein bürgerlicher Demokrat, dem schon aus den zwanziger Jahren »russophile« Züge eigneten und dem es um eine wirkliche gesellschaftliche Neuorientierung ging, vor allem aber auch um die nationale Einheit. Er unterstützte folglich die auf einen »sozialen Staat« und auf eine »nationale Repräsentation« gerichtete Politik Jakob Kaisers (1888–1961) und seines Freundes Ernst Lemmer.
     Eigene Wege ging Nuschke erst ab Dezember 1947 in der Krise in der CDU- Führung
im Zusammenhang mit der Gewissensfrage nach Beteiligung am sogenannten Volkskongreß, dessen strategische Bedeutung in der Gesellschafts- und nationalen Politik der SED (und der UdSSR) womöglich damals schon durchschaut werden konnte und von Jakob Kaiser und dessen Freunden tatsächlich durchschaut wurde; die Konsequenz war deren Verdrängung aus der Parteiführung durch die Besatzungsmacht.
     Nuschke ging mit den damaligen Landesvorsitzenden auf den Weg der Volkskongreßbewegung, der dann (ohne daß diese Schritte hier im einzelnen nachvollzogen werden könnten) 1949 in die Gründung der DDR mündete. 1948 war er auf dem 3. Parteitag in Erfurt nach heftigen Auseinandersetzungen Parteivorsitzender geworden.
     Es war damals allgemein bekannt, daß sich Otto Nuschke 1948 und 1949 schwergetan hatte, die Verschiebung der allfällig notwendig gewordenen Wahlen in der SBZ hinzunehmen, und so war auch die Gründung der DDR für ihn tatsächlich ein Provisorium, dem er – mit dem Mandat von Vorstandsbeschlüssen – allein mit der Maßgabe zustimmte, daß 1950 die Wahlen endlich stattfinden müßten. So setzte er sich – zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten und verantwortlichen Regierungsmitglied für Kirchenfragen berufen – mit dieser Linie auf dem 4. Parteitag im November 1949 in
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Leipzig durch, allerdings gegen erheblichen Widerstand vor allem der sächsischen und brandenburgischen Delegierten. Die Folge war, daß um die Jahreswende 1949/50 eine massive Verfolgung der eigenständigen CDU-Politiker auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens der DDR einsetzte, die vor allem in Brandenburg und in Thüringen Verhaftungswellen mit sich brachte. Nur mühsam konnten Nuschke und seine engeren Freunde die Existenz der Partei sichern, allerdings um den Preis der Zustimmung zu »Wahlen« auf einer »Einheitsliste« im Oktober 1950. Diesen folgten dann rasch weitere Schritte der Ausgestaltung der DDR als eines volksdemokratischen Staates, vor allem 1952 mit der Liquidierung der Länder und mit der Anerkennung der führenden Rolle der SED (Juli 1952) durch die CDU.
     In der Klammer, vor dem dieses Vorzeichen der Aufgabe der Eigenständigkeit stand, gelang es der CDU, solange Otto Nuschke lebte, dennoch, vor allem im Bereich der Kirchenpolitik und der Kulturpolitik eine relative Eigenständigkeit zu praktizieren. In der Kirchenpolitik galt Nuschke, gerade auch in Zeiten harter Auseinandersetzungen um die Junge Gemeinde (1953) und um die Jugendweihe (ab 1954) als Vermittler; auch wurde er nicht nur von den Bischöfen beider großer Konfessionen und von den leitenden freikirchlichen Persönlichkeiten in der DDR geschätzt, sondern
auch von vielen Repräsentanten der EKiD, der Ökumene und des Vatikans (es gibt hierfür genügend Belege aus Briefen und Botschaften von Papst Pius XII. (Eugenio Pacelli 1876–1958), Bischof George Bell (1883–1958) und Generalsekretär Visser't Hooft 1900–1985). Besonders freundschaftliche Beziehungen unterhielt er zu Martin Niemöller (1892–1984), Gustav Heinemann (1899–1976) und anderen bruderschaftlichen kirchlichen Kreisen der alten Bundesrepublik, wobei in deren Gesprächen und Briefen immer auch Fragen konkreter Hilfe, zumal für Kriegsgefangene und Verhaftete, aufgeworfen wurden.
     Inzwischen ist ja auch dokumentiert worden, wie sich Nuschke 1950 im DDR-Ministerrat zusammen mit den anderen CDU-Ministern gegen die Urteile in den sogenannten Waldheim- Prozessen ausgesprochen hatte, und es war Ernst Lemmer, der 1968 in seiner Autobiographie mit dem charakteristischen Titel »Manches war doch anders« im Blick auf einen Fall, in dem Nuschke nicht helfen konnte, schrieb: »Aber Nuschke half sonst, wo er nur konnte.« Angesichts seiner bekannten philosemitischen Haltung war es nur selbstverständlich, daß in der Zeit, in der er für die Religionspolitik der DDR Verantwortung trug, viel für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in der DDR geleistet wurde.
     Sicherlich: Sowohl nach innen wie nach
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außen (u. a. beim Besuch einer Volkskammerdelegation 1952 in Bonn, beim Abschluß des folgenreichen Warschauer Vertrags 1955 oder bei Reisen in die UdSSR) galt Otto Nuschke als Repräsentant und Verfechter der Politik der DDR und des realen Sozialismus, wiewohl ihm der wissenschaftliche Sozialismus immer fremd blieb und seine Entscheidung für den Osten eher realpolitische und historische Gründe, verbunden mit moralischen, hatte. In der Tat war aber doch so »manches anders«: seine mit Propst Heinrich Grüber (1891–1975) abgestimmten Bemühungen um geordnete Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen und der DDR unter weitgehender Berücksichtigung der kirchlichen Interessen und der Anerkennung der grundsätzlichen kirchlichen Position eines »Wächteramtes« in der Gesellschaft (Rede auf dem 8. Parteitag 1956), seine scharfe Zurückweisung der fanatischen atheistischen Propaganda Mitte der fünfziger Jahre und sein Engagement für den Wiederaufbau von Kirchen (»Nuschke- Fonds«).
     Es gab aber immer wieder auch Situationen, in denen Otto Nuschke erkennen ließ, daß er mit Essentials der DDR-Politik nicht übereinstimmte, so im Herbst 1955, als sich eine grundlegende Wende der DDR in der Frage der nationalen Einheit angebahnt hatte. Allerdings waren dies keine Signale für eine Umorientierung
der CDU-Politik, sondern bestenfalls solche für Eingeweihte, wie 1953, als manche von diesen Otto Nuschke als neuen DDR- Ministerpräsidenten erhofften oder fürchteten.
     Otto Nuschke starb am 27. Dezember 1957 in Hohen Neuendorf bei Berlin.

Literatur:
Günter Wirth, Otto Nuschke, Berlin 1965
Gerhard Fischer, Otto Nuschke, Berlin 1983
Michael Richter, Die Ost-CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, Berlin 1990
Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993.

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Berlinische Monatsschrift Heft 2/99
© Edition Luisenstadt, 1999
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