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Hainer Weißpflug
Ein Rätsel um Rothenburg?

Seit 1878 gibt es in Steglitz die Rothenburgstraße. Sie verläuft von der Straße Am Fichtenberg bis zur Zimmermannstraße.
     In dieser Straße befinden sich die Einrichtungen des Blindenhilfswerkes, die Johann-Zeune- Schule für Blinde und die Rothenburg- Grundschule. Im »Wegweiser zu Berlins Straßennamen«, Band Steglitz, 1993 vom Luisenstädtischen Bildungsverein herausgegeben, findet man folgende Namenserläuterung: »Rothenburg, Friedrich Ernst Freiherr von, geboren am 20. 1. 1766 Berlin, gestorben am 1. 12. 1833 Berlin, Domdechant. Als im Herbst 1831 in Berlin die Cholera ausbrach, flüchtete sich Rothenburg in die Blindenanstalt auf dem Georgenfriedhof.
     Als Dank für seine Errettung vermachte er später sein Vermögen der Anstalt.«
     Diese Aussage deckt sich mit Veröffentlichungen des Bezirksamtes Steglitz. In »Berühmt – Bekannt – Vergessen. Persönlichkeiten auf Straßenschildern in Steglitz«, herausgegeben 1987 vom Bezirksamt Steglitz, kann man neben den Lebensdaten des Freiherrn lesen: Rittmeister und Domdechant, Freund Zeunes. Als im Herbst 1831 in Berlin die Cholera ausbrach, ... flüchtete

sich Rothenburg in die Blindenanstalt auf dem Georgenfriedhof. Als Dank für seine Errettung vermachte er sein Vermögen von 88 000 Talern der Anstalt. Aus diesem Erbe konnte Zeune dann den Erwerb des Hauses Wilhelmstraße 139 finanzieren.
     Bei weiteren Recherchen tat sich dann allerdings ein Rätsel auf: Im Gothaischen Genealogischen Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser ist der Freiherr von Rothenburg überhaupt nicht verzeichnet; in anderen lexikalischen Werken gibt es zwar viele von Rothenburgs, aber keinen Freiherrn Friedrich Ernst, und im Totenbuch der Dorotheenkirche, in das der Freiherr nach der Beisetzung eingetragen wurde, finden sich weder Geburtstag noch Geburtsort. In den Jubiläumsschriften der Staatlichen Blindenanstalt von 1927 und 1952 erscheint er als Freiherr und Stifter. Durch ein der Anstalt im Jahre 1835 zugefallenes Vermächtnis von dem mit Zeune befreundeten Freiherrn Friedrich von Rothenburg ... Johann August Zeune (1778–1853) war der erste Direktor dieser Einrichtung, die aufgrund eines Erlasses Friedrich Wilhelms III. (1770–1840, König ab 1797) eingerichtet und am 13. Oktober 1806 eröffnet worden war.
     Wer also war dieser Friedrich Ernst von Rothenburg? Wieso ist er in den außerordentlich exakten Adelsbüchern nicht erwähnt? Wo liegt des Rätsels Lösung? In »175 Jahre Blindenbildung in Deutschland.
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1806–1981. Rückblick und Ausblick. Festschrift zum 175jährigen Jubiläum der Johann-Zeune- Schule für Blinde BerlinSteglitz« berichtet Dieter Lippe über das Testament des Friedrich Ernst von Rothenburg. Ein großer Teil der Dokumente und das Testament von Rothenburg sind zusammen mit anderen Akten des Preußischen Geheimen Staatsarchivs im Zweiten Weltkrieg den Bomben zum Opfer gefallen. Schon daher ist es vermutlich so schwierig gewesen, genauere Auskünfte zur Person Rothenburgs zu finden. Nun hatte Johann August Zeune 1836 aber eine beglaubigte Abschrift besagten Testamentes anfertigen lassen, die sich im Besitz der Johann- August- Zeune- Schule befindet. Aus dem Testament und den Aufzeichnungen Zeunes ergibt sich nun folgende biographische Skizze, bei der auf weitere von Dieter Lippe aufgezeigte Ereignisse und Episoden aus dem Leben Rothenburgs verzichtet wurde.
     Friedrich Ernst von Rothenburg war der Sohn des Gutsbesitzers auf Kicker, Kreis Naugard, in Hinterpommern, des dortigen Erb- und Gerichtsherren und Hofmarschalls des Markgrafen von Brandenburg- Schwedt, Ernst Karl Friedrich Rothenburg (1713–1797) und der Louisa Charlotta von Rothenburg (geboren 1739), geborene von Diest, der Tochter des Diplomaten und Beamten Heinrich Diest. Er war Gesandter Friedrichs des Großen (1712–1786, König ab 1740) am Kaiserhof in Wien. Der Rittmeister muß sich
Verdienste um den preußischen Staat erworben haben, wofür er Domdechant des Domkapitels zu Kolberg mit 810 Talern und Kanonikus des Stifts Unserer lieben Frau zu Halberstadt mit 1 545 Talern wurde und schließlich eine Offizierspension von 2 500 Talern jährlich erhielt. Es ließ sich bisher aber kein Anhaltspunkt finden, welcher Art diese Verdienste waren. Bekannt aber ist, daß sich von Rothenburg schon in jungen Jahren auf das bürgerliche Geschäft des Geldverleihens verlegte. In seinem Nachlaß befanden sich Pfandbriefe aus 34 Orten Pommerns im Wert von 30 000 Talern zu 5 1/8 Prozent Zinsen, solche aus der Kur- und Neumark sowie andere hypothekarische Obligationen und Schuldverschreibungen. Zusammen mit anderen Geldern wurde nach dem Tode von Rothenburgs 88 000 Taler Vermögen festgestellt, die er der Blindenanstalt Johann August Zeunes stiftete. Zeune nutzte sie, um das Haus der ehemaligen Plamannschen Erziehungsanstalt in der Wilhelmstraße 139 zu erwerben und die Kapazität der Blindenanstalt zu verdoppeln.
     Daß diese Stiftung als Dank für die Errettung Rothenburgs vor der Cholera 1832 in der Blindenanstalt entstand, ist eine Legende. Dagegen ist erwiesen, daß von Rothenburg mit Zeune befreundet war, daß in seiner umfangreichen Bibliothek zahlreiche Werke über Armenpflege, Blinde und Blindenanstalten, auch Zeunes »Belisar«(1830)
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standen. Außerdem gibt es Berichte über ein blindes Mädchen im Dorf Retzkow, dem Rothenburg eine Rente vermachte. Es deutet also mehr darauf hin, daß Rothenburgs Stiftung Ausdruck seines Engagements für das Armenwesen, insbesondere das Blindenwesen war. Zumal es damals Mode geworden war, gewissermaßen zum guten Ton gehörte, große Vermächtnisse und menschenfreundliche Stiftungen anzulegen.
     Außerdem hatte von Rothenburg außer einem unehelichen Sohn, dem er eine Rente vermachte, keine Erben. Mit Friedrich Ernst von Rothenburg erlosch die protestantische Linie derer von Rothenburg. Sein Vermögen wäre an den Preußischen Staat gefallen, hätte er nicht am 23. Juli 1832 ein Testament aufgesetzt und beim Königlichen Kammergericht hinterlegt, in dem die Stiftung und eine Reihe weiterer Erbschaften verankert waren. Friedrich von Rothenburg wohnte bis zu seinem Tode 1833 in einem Haus in der Neustädtischen Kirchstraße 8, das sein Eigentum war. Außerdem besaß er ein Haus auf dem Gut Neuhaus.
     Soweit kurz gefaßt die Fakten. Bleibt die Frage, woher die Bezeichnung Freiherr in den oben genannten Arbeiten kommt. Auch darauf hat Dieter Lippe eine Antwort gefunden. Mehr als ein Jahr nach dem Tod des Friedrich Ernst von Rothenburg, in der Nacht vom 30. zum 31. März 1835, sah der Berliner Nachtwächter Moritz Mauruschat im Haus von Rothenburgs in der
Neustädtischen Kirchstraße Licht. Darüber gab er den folgenden Bericht: Einem königlich Hochlöblichen Schulcollegio zeige ich hiermit gehorsamst an, daß ich in dem Hause des Herrn Baron von Rothenburg in der Nacht vom 30ten bis 31ten März, und zwar seine Wohnstube erleuchtet gesehen habe. Da dies mir auffiel, so wandte ich mich an den Herrn Professor Zeune, der mir aber sagte, daß seines Wissens die Wohnung nicht vermietet worden wäre und ich es einem Hochlöblichen Schulcollegio melden solle, welches dann seine Maßregel treffen würde. Moritz Mauruschat, Nachtwächter wohnhaft Schützenstraße Nr. 2
     Der Nachtwächter hat sich durchaus korrekt verhalten, nur ist ihm ein Fehler unterlaufen: Er hat von Rothenburg den Titel Baron verliehen. Seither wurde aus dem kleinen Adligen der Freiherr von Rothenburg. So sind manche Historiker und Beamten, selbst das Grundbuchamt Steglitz und auch die Autoren des »Wegweisers zu Berlins Straßennamen« in der ersten Auflage diesem Fehler des Nachtwächters aufgesessen.
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