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Bernhard Meyer
13. Februar 1844: Gründung der Geburtshilflichen Gesellschaft

Aus dem Wunsch nach fachlicher Diskussion und zur Etablierung ihrer medizinischen Spezialdisziplin versammelten sich am 13. Februar 1844 elf Berliner Ärzte, die vornehmlich geburtshilflich- gynäkologisch tätig waren, um eine Gesellschaft zu gründen. Eingeladen hatte zu dieser Zusammenkunft der unter seinen ärztlichen Kollegen anerkannte Geburtshelfer und Königliche Sanitätsrat Carl Wilhelm Mayer (1795–1868), der folgerichtig auch zum Vorsitzenden gewählt wurde. Bemerkenswert ist der sich anschließende amtliche Vorgang der Gründungsmodalitäten: Dem formellen Zusammenschluß am 13. Februar folgte die Antragstellung auf Genehmigung erst am 30. September. Als auf diesen Brief keine ministerielle Antwort einging, schrieb Mayer am 30. Dezember 1844 erneut an den Minister, der dann die Statuten »hochwürdig« genehmigte.
     Medizinisch- wissenschaftliche Gesellschaften als Vereine gehörten damals noch zu den Seltenheiten. Das galt um so mehr für Vereinigungen von Ärzten, die außerhalb

der Universitäten entstanden. In Berlin, wo die Charité das wissenschaftliche Leben personell und institutionell beherrschte, haftete der Vereinigung von Geburtshelfern geradezu etwas Aufmüpfiges an. Dennoch erhielten die Statuten der »Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin« vom preußischen Staatsminister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Johann Albert Friedrich Eichhorn (1781–1854), zu Beginn des Jahres 1845 die uneingeschränkte Zustimmung. Bestätigt war damit die erste wissenschaftliche Gesellschaft für Geburtshilfe in den deutschen Landen.
     Der Zeitpunkt der Gründung liegt nicht zufällig in der Aufbruchstimmung des Vormärz. Darauf wies 1869 auch Rudolf Virchow (1821–1902) hin, der in der »Erweckung des neuen Geistes der Freiheit und der Association, den die politische Stimmung mit sich brachte«, eine Voraussetzung für das Zustandekommen der Gesellschaft sah. Die konsequenten Republikaner Virchow und Benno Reinhard gehörten der Gesellschaft an.
     Carl Mayer war ein alteingesessener Berliner Arzt. Am 25. Juni 1795 in Berlin geboren, studierte er bis 1819 in seiner Heimatstadt Medizin und erlebte als einer der ersten Studenten der gerade gegründeten Universität Größen wie Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), Karl Asmund Rudolphi (1771–1832) und Karl Ferdinand von Graefe (1787–1840). Wissenschaftlich interessiert, nahm er die Assistentenstelle bei dem kurz
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zuvor als Ordinarius für Geburtshilfe berufenen Adam Elias von Siebold (1755–1828) an. Nach einem im Persönlichen angesiedelten Zerwürfnis mit Siebold verließ er 1821 die Universität, ohne jemals wieder dorthin zurückzukehren, obwohl er sich später mehrmals um eine eigene Abteilung bewarb. Mayer ließ sich als praktischer Arzt und Geburtshelfer nieder, wobei er mittellosen Frauen häufig unentgeltliche Hilfe erwies. Er heiratete 1824, aus der Ehe gingen zwei Söhne und fünf Töchter hervor. Tochter Rosalia (1832–1913) heiratete 1850 Rudolf Virchow, der der von Mayer gegründeten Gesellschaft stets zugetan war. Virchow galt als deren Mentor und erhielt später die Ehrenmitgliedschaft. Carl Wilhelm Mayer starb am 17. Februar 1868 und wurde auf dem St. Matthäus- Friedhof beerdigt.
     Die Geburtshilfe führte in der klinischen Medizin eher ein Randdasein. Die Gebärenden zu Hause betreute die Hebamme, denn der »practische Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer« wurde schon der Kosten wegen nur bei Komplikationen gerufen. Eine spezielle Ausbildung hatten diese Ärzte nicht. Einweisungen in ein Krankenhaus erfolgten nur, wenn schwere Komplikationen befürchtet wurden. Dort allerdings war das Kindbettfieber sehr gefürchtet, denn die Sterberate der jungen Mütter lag hoch. Der Ungar Ignaz Semmelweis (1818–1865) machte, von seiner medizinischen Umwelt angefeindet und verlacht, 1847 auf die Ursachen des

Carl Mayer

Kindbettfiebers aufmerksam: Ärzte und Studenten in der Wiener Universitätsklinik (aber eben nicht nur dort), die von der pathologischen Sektion direkt zur Entbindungsstation kamen und sich nicht die Hände wuschen, übertrugen das Leichengift auf die Gebärende. Seine Forderung der Desinfektion mit einer Chlorkalklösung blieb noch unbeachtet und bahnte sich erst mit Pasteur (1822–1895), Koch (1843–1910) und Lister (1827–1912) den Weg zu antiseptischen Maßnahmen allerorts. Bei Geburtskomplika-

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tionen war beispielsweise der Kaiserschnitt noch kein Mittel, denn er wurde in seltenen Ausnahmefällen höchstens bei sterbenden Frauen als allerletztes versucht.
     So richteten sich die Ziele der Geburtshilflichen Gesellschaft in Berlin auf Verbesserungen der allgemeinen Situation, »schlechte Gewohnheiten aus den Wochenstuben zu entfernen« und der »handwerksmäßig und oft genug roh und ungeschickt« betriebenen Geburtshilfe als »Übelstand zu begegnen«. Zu den praktischen Vorhaben zählten, die Stellung des Frauenarztes in der öffentlichen Gesundheitspflege präziser zu fassen, klare Verhältnisse zu den Hebammen und Wickelfrauen zu gestalten, die Lebensbedingungen der Neugeborenen und Wöchnerinnen medizinisch vertretbar zu organisieren. Verständlicherweise gehörte zu den Anliegen der Vereinsgründer auch, den »wissenschaftlichen Sinn« der geburtshilflich tätigen Ärzte zu befördern. Das wiederum hatte die Eingliederung von Geburtshilfe und Frauenheilkunde in die Strukturen der medizinischen Fakultäten zur Voraussetzung. Erstmals 1866 wurde durch Eduard Arnold Martin (1809–1875) an einer deutschen Universität ein wissenschaftliches Labor für chemische und mikroskopische Untersuchungen geschaffen.
     Die Geburtshilfliche Gesellschaft traf sich zunächst in der Wohnung von Carl Mayer. Die Teilnehmer erwarteten dort keine Vorträge, sondern fachliche Diskussion, eben
Erfahrungsaustausch unter Einschluß von mikroskopischen und pathologischen Fragestellungen. Der Verein erreichte schnell Öffentlichkeit, da seine Gespräche in Form von Protokollen vorgelegt wurden. Der erste Band erschien bereits 1846, wobei dessen Inhalt nach Virchows Auffassung »anzog und überraschte«. Von außerordentlichem Vorteil für die Gespräche im Fachkollegenkreis erwies sich schnell, daß die Teilnehmer einschließlich des Vorsitzenden akademisch ungebunden waren und sich in wissenschaftlichen Dingen nicht an bestimmte Formen des Universitätsbetriebes halten mußten. Jegliche Rücksichtnahmen etwa aus Karrieregründen schieden somit von vornherein aus. Das alles spielte eine nicht untergeordnete Rolle, denn die Charitéprofessoren Busch und Schmidt betrachteten die Gesellschaft als fachliche Konkurrenz, die ihre bisher unangefochtene Monopolstellung durchaus erschüttern könnte. Deshalb tat Carl Mayer gut daran, zumindest Schmidt für den Vorstand zu gewinnen und dem Mitglied Busch das Zugeständnis abzuringen, daß seine Assistenzärzte am Leben der Gesellschaft teilnehmen konnten. Beide verließen jedoch die Gesellschaft im revolutionsträchtigen Jahr 1848. Das schadete der Gesellschaft allerdings nicht, da sie bereits so viel Reputation auch außerhalb Berlins besaß, daß eine Mitgliedschaft als ehrenvoll galt. Erst als Martin 1858 den Berliner Lehrstuhl übernahm, glättete sich das Verhältnis
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zur Universität. Carl Mayer lenkte 23 Jahre die Geschicke der Gesellschaft (mit Ausnahme der Jahre 1851/52) bis 1865. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn, wissenschaftliche Gesellschaft beging sie 1994 ihren 150. Gründungstag.

Bildquelle: Archiv Autor

den Vorsitz abzugeben. Für seine Verdienste um die Geburtshilfe in Berlin wurde er zum Ehrenpräsidenten der Gesellschaft ernannt. Geburtshilfe und Gynäkologie lagen damals noch weit auseinander. Als Martin 1873 die Gesellschaft für Gynäkologie gründete, verließ er mit weiteren 21 Mitgliedern demonstrativ die Gesellschaft für Geburtshilfe, obwohl er deren Vorsitzender war. Die Zwistigkeiten wurden beigelegt, so daß beide Gesellschaften kurz nach dem Tod von Martin unter dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl Carl Schröder (1838–1887) zur »Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie in Berlin« fusionierten. Als anerkannte

Rudolf Virchow und seine Frau Rosalia
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