39   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Nächste Seite
Albrecht Schönherr
Er tat, was er glaubte, dachte und wollte

Dietrich Bonhoeffer

Der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer starb am 9. Februar 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg am Galgen. Am Vorabend war er durch ein SS-Gericht wegen Beteiligung an der Verschwörung, die zum Aufstand des 20. Juli 1944 geführt hatte und Hitler beseitigen sollte, zum Tode verurteilt worden.
     Ein Pastor Mitplaner eines Tyrannenmordes – das hat es noch nie gegeben! Im Gegenteil: Die Kirchenoberen und die Pfarrerschaft hatten sich immer, auch noch im »Dritten Reich«, bis in die oppositionelle Bekennende Kirche hinein in der Mehrzahl als »obrigkeitstreu« bekannt. Für Bonhoeffer war Hitler mit der Verfolgung der Juden und der systematischen Kriegstreiberei zum Tyrannen, mit seinem Anspruch auf unbedingte Gefolgstreue und seiner Demagogie zum Verführer geworden. Ebenso wie seine Familie hatte er das von Anfang an erkannt. Hitler – das bedeutet Krieg, wußte man dort schon am 30. Januar 1933. Zu eben dieser Zeit warnte Bonhoeffer in einer Rundfunkansprache vor einem Führer,

der zum Verführer wird. Nach dem ersten Judenpogrom am 1. April 1933 erinnerte er die Kirche an ihre Pflicht, für Menschen, die in ihrem Recht beschnitten wurden, einzutreten, bis dahin, daß sie notfalls »dem Rad in die Speichen fallen«, also unmittelbar politisch tätig werden müsse. »Dem Rad in die Speichen fallen«, das bedeutete für ihn selbst die Beteiligung an der Konspiration gegen Hitler: »Tötung fremden Lebens kann es nur geben aufgrund einer unbedingten Notwendigkeit, dann muß sie auch gegen noch so viele und gute andere Gründe vollzogen werden.« (Dietrich Bonhoeffer Werke – DBW VI, S. 185). Oder in der Sprache des Gleichnisses: Wenn ein Betrunkener mit seinem Wagen in die Menge fährt – was ist dann die Aufgabe der Christen: Die Verwundeten zu verbinden und die Toten zu beerdigen, oder nicht vielmehr, den Fahrer von seinem Platz zu entfernen?
     Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau als Sohn des Psychiaters Karl Bonhoeffer geboren. 1912 wurde der Vater an die Berliner Universität berufen. Dietrich wuchs unter sieben Geschwistern auf. Seine Schwäger und seine Brüder, die z. T. in hohen staatlichen Stellen und wirtschaftlichen Positionen tätig wurden, verschafften ihm wichtige Einblicke in die Machenschaften von Staat und Partei. 1928 und 1930 absolvierte Bonhoeffer seine theologischen Prüfungen, habilitierte sich
SeitenanfangNächste Seite


   40   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
und ging für ein Jahr an das Union Theological Seminary nach New York. Nach einem kurzen Aufenthalt bei dem Bonner Professor Karl Barth, der die junge Theologenschaft damals entscheidend prägte, nahm er eine Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Berliner Universität auf. Seine Vorlesungen, die von strikter Konzentration auf das Zentrum des christlichen Glaubens geprägt waren, wurden gut besucht. Es ging ihm nicht nur um die Vermittlung christlicher Überlieferung. Er bemühte sich, theologische Wahrheiten in entsprechendes Handeln umzusetzen. Was ist eigentlich christliches Leben – diese Frage hat ihn sein Leben lang begleitet. Er versuchte es mit seinen Studenten auf Freizeiten und später mit den ihm anvertrauten Kandidaten im Predigerseminar einzuüben. In der Ökumene, der er sich früh zuwandte, schloß er sich bezeichnenderweise dem »Weltbund für die Freundschaftsarbeit der Kirchen« an, der sich seit dem Ersten Weltkrieg um den Frieden zwischen den Völkern mühte. Er wurde Jugendsekretär dieser Vereinigung. Höhepunkt dieser Tätigkeit war die ökumenische Versammlung in Fanö, Dänemark, auf der Bonhoeffer seine berühmte Friedensrede hielt: Die Kirchen sollten sich zu einem Weltkonzil zusammenfinden und den Krieg ächten.
     Mit dem Jahr 1933 begann in Deutschland der Kirchenkampf. Die »Deutschen Christen«, eine Kirchenpartei, die nationalsozia-
listische Ideologie und christlichen Glauben verbinden wollte, ergriff mit Hilfe der NS-Partei die Macht in der Kirche, besetzte die Leitungsämter und führte den im Staate gültigen Arierparagraphen in der Kirche ein. Dagegen wehrten sich die Christen, die der Bibel und dem christlichen Bekenntnis treu bleiben wollten. Im Jahre 1934 bildeten sie die Bekennende Kirche. Sie verstand sich als die einzig legitime evangelische Kirche in Deutschland, weil sie sich strikt zu der in der Kirchenverfassung festgelegten Glaubensgrundlage bekannte.
     Bonhoeffer war einer der entschiedensten Kämpfer gegen den deutschchristlichen Irrwahn. Es enttäuschte ihn, daß seine Gesinnungsgenossen sich vorerst in Machtfragen verfingen, statt ernstzunehmen, daß zur Stunde nicht Strategie und Taktik, sondern ein klares Bekenntnis geboten war.
     So übernahm er im Herbst 1933 das deutsche Pfarramt in London. Es war keine Flucht. Vielmehr setzte er dort den Kampf konsequent fort. 1935 rief ihn die Bekennende Kirche zurück, um ihm die Leitung des neuzugründenden Predigerseminars in Zingst/Finkenwalde anzuvertrauen. Predigerseminare sind Ausbildungsstätten der evangelischen Kirche zwischen den beiden theologischen Examina, in denen die Praxis des Pfarramtes intensiv vorbereitet wird.
     Als postgraduale Ausbildungsstätte kam ihnen damals, angesichts der dubiosen Verhältnisse auf den Universitäten, eine beson-
SeitenanfangNächste Seite


   41   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite

Dietrich Bonhoeffer (letzte Reihe 2. v. links) und Albrecht Schönherr (letzte Reihe rechts) 1935 beim Predigerseminar in Zingst/ Finkenwalde
dere Bedeutung für die Ausrichtung des kirchlichen Nachwuchses zu.
     Diese Tätigkeit, der sich Bonhoeffer vom April 1935 bis September 1937, illegal dann noch in Hinterpommern bis März 1940 widmete, war für die jungen Theologen, die sich meist zur Bekennenden Kirche hielten, von tiefgehender Wirkung. Sie prägte, zusammen mit den andern Predigerseminaren
der Bekennenden Kirche, eine ganze Generation von Pastoren. Die Vorlesung über »Nachfolge« mit der Auslegung der Bergpredigt, die später als Buch erschien (DBW IV), machte Bonhoeffer weiten Kreisen bekannt und war für viele ein wichtiges Rüstzeug im Kampf der Bekennenden Kirche und Wegweisung für ein verbindliches christliches Leben. 1939 folgte Bonhoeffer
SeitenanfangNächste Seite


   42   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
einer Einladung seiner Freunde in den USA, um dort Vorträge und Lehrveranstaltungen wahrzunehmen. Sie hofften, ihn auf diese Weise vor dem Kriegsdienst bewahren zu können. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte er nach Deutschland zurück. Wenn er glaubwürdig bleiben und nach dem Kriege etwas für den Wiederaufbau Deutschlands und seiner Kirche tun wollte, war sein Platz dort bei seinen Mitstreitern.
     In dieser Zeit bekam er Verbindung zur Widerstandsgruppe Beck, Oster, Dohnanyi. Er wurde freier Mitarbeiter der Abwehr unter Admiral Canaris, der hin- und hergerissen wurde im Zwiespalt zwischen seinem Dienst für den NS-Staat und der Förderung des Widerstandes gegen Hitler. Bonhoeffer brachte dort seine ökumenischen Verbindungen ein. Über Schweden informierte er mit Hilfe seines englischen Freundes Bischof Bell von Chichester die Alliierten über die Pläne der Widerstandsgruppe. Die Hoffnung, daß ein gelungener Umsturz einen milderen Frieden als die unbedingte Kapitulation erreichen würde, wurde von der britischen Regierung zerstört. So blieb den Männern des Widerstandes nur die Hoffnung, mit ihrem Aufstand die deutsche Ehre nicht ganz verkommen zu lassen und weiteres Blutvergießen zu vermeiden.
     Im Februar 1943 wurde Bonhoeffer verhaftet. Dem Reichssicherheitshauptamt der SS war die militärische Abwehrstelle ein Dorn im Auge. Unmittelbar vorher hatte sich
Bonhoeffer mit Maria von Wedemeyer verlobt. Die Verlobten haben sich nur im Gefängnis, also unter Aufsicht, nie unter vier Augen sprechen können. Im Militärgefängnis Berlin- Tegel hatte Bonhoeffer eine verhältnismäßig milde Haft. Die Briefe, die in dieser Zeit entstanden sind, hat sein Freund Eberhard Bethge unter dem Titel »Widerstand und Ergebung« (DBW VIII) herausgegeben. Sie haben die Theologie in der ganzen Welt bewegt. Nachdem die Gestapo Ende September 1944 die Akten der Widerstandsgruppe aufgespürt hatte, wurde Bonhoeffer in den Keller des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz- Albrecht- Straße in Berlin überführt. Nun war die Behandlung ganz anders. Trotzdem hatte er die innere Kraft, seine Braut zur Jahreswende mit dem Gedicht »Von guten Mächten« zu trösten. Es ist in das Liedgut der Kirche eingegangen. Im Februar 1945 wurde er nach einem Zwischenaufenthalt im KZ Buchenwald nach Schönberg im Bayerischen Wald gebracht. Von dort wurde er am 8. April in das KZ Flossenbürg verschleppt. Dort verurteilte ihn ein nächtliches SS- Standgericht zum Tode – Hitler hatte drei Tage vorher das Tagebuch von Canaris zu Gesicht bekommen und in seiner Wut befohlen, sofort alle Angehörigen der Widerstandsgruppe umzubringen. Bonhoeffer wurde am Morgen des 9. April 1945 zusammen mit Canaris und Oster hingerichtet.
SeitenanfangNächste Seite


   43   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
Weil er nicht als Glaubenszeuge, sondern als Mann des politischen Widerstandes starb, dauerte es lange, bis die evangelische Kirche ihn als christlichen Märtyrer anerkannte. Glauben und Politik waren in den Köpfen kirchlicher Oberen noch lange hermetisch gegeneinander abgeschlossene Gebiete. Für Bonhoeffer war das kein Gegensatz. Für ihn gab es nur die eine Weltwirklichkeit, in der wir Menschen unter Gott frei und verantwortlich leben dürfen und sollen. Diese Welt ist gezeichnet von den Fußspuren Jesu Christi. Es gibt keine »religiöse« Sonderwelt zwischen Himmel und Erde. Uns ist aufgegeben, hier im Diesseits, als Glieder der verschiedenen irdischen Gemeinschaften wie Familie, Volk, Staat, Arbeitswelt miteinander und füreinander zu leben. Gott darf nicht als Dekoration für unsere Feste mißbraucht werden. Er ist nicht der »deus ex machina«, an den wir uns erinnern, wenn wir allein nicht mehr weiterwissen. Christen dürfen nicht in ein unsichtbares Jenseits oder in private Innerlichkeit ausweichen wollen. »Die Unsichtbarkeit macht mich kaputt«, schrieb Bonhoeffer an einen Freund. Mitten im Leben sollen wir Gott begegnen und ihm dienen. Die Christen müßten etwas davon spüren lassen, daß sie durch Christus zum Dienst an ihren Mitmenschen freigeworden sind. An der Kirche müßte man eine Kraft spüren können, die der Welt, in der wir leben, Hoffnung und Sinn gibt. »Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromißlos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas« (DBW XIII, S.272). So schreibt er 1935 an seinen ältesten Bruder Friedrich Karl, Atomphysiker und Mitglied der SPD. Für den Frieden ist Bonhoeffer kompromißlos eingetreten, von Fanö war schon die Rede. Er nahm die Weihnachtsbotschaft »Friede auf Erden« wörtlich und real. Mit dem Kommen Christi ist der Friede nicht mehr ein Problem, sondern unbedingtes Gebot. 1935 war die Allgemeine Wehrpflicht in Deutschland eingeführt worden. Gefragt, ob er einem Gestellungsbefehl folgen würde, antwortete er: Ich bitte Gott um die Kraft, dem nicht zu folgen. Als der Krieg dann ausbrach, hörten wir von ihm keine Ermahnung, den Kriegsdienst zu verweigern. Er selbst wurde durch die Stellung bei der militärischen (!) Abwehr als »unabkömmlich« (UK) eingestuft. Ist das nicht inkonsequent? Hatte er seine Meinung total geändert? Bonhoeffer war kein ideologischer Pazifist, der sich, koste es, was es wolle, vom Prinzip der Gewaltlosigkeit leiten ließ. Aber er gehorchte dem Friedensgebot. Und das besagte: Gott will, daß wir alles dafür tun, daß Frieden bleibt und Frieden wird. »Selig sind die Friedensstifter« (Matthäusevangelium 5,20). Er ging in den Widerstand, um den zu beseitigen, der den Krieg angezettelt hatte und
SeitenanfangNächste Seite


   44   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
unter ungeheuren Menschenopfern fortführte. Hätte er den Waffendienst verweigert und andere dazu aufgefordert, wäre einigen Menschen der Kopf abgeschlagen worden, ohne für den Frieden etwas wirklich Hilfreiches zu bewirken.
     Für soziale Gerechtigkeit einzutreten – das hieß für ihn damals vor allem: für die Juden Partei zu ergreifen. »Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen«, soll er gesagt haben. Damals zogen sich viele angewidert in die kleine Welt zurück, um das Schreien der Gequälten nicht mehr hören zu müssen. Noch 1941 konnte Bonhoeffer durch seine Verbindung mit dem Amt Canaris 14 Juden in die Schweiz retten. Für die »Schwachen«, die Leidenden, die Verlassenen in allen Parteien und Ständen, damals vor allem die Juden, habe sich die Kirche einzusetzen. Sie stehen unter dem besonderen Schutz Gottes.
     »Tue deinen Mund auf für die Stummen« (Sprüche 31,8). Vielleicht falle hier die Entscheidung, ob die Kirche noch die Kirche Christi ist. »Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Hilflosesten der Brüder Jesu Christi« (DBW VI, S. 130).
Woher kommt diese Gewißheit, diese Klarheit, dieses unbestechliche Urteil gerade auch über seine Kirche, die er liebt und der er sich mit seinem ganzen Leben verpflichtet weiß? Für ihn ist Gott eben nicht der Jenseitige, der Ferne, der Unnahbare und vielleicht darum auch der so oft Vergessene. Gott begegnet ihm hier auf dieser Erde im Leben, Reden, Heilen, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. In seinen Geboten, besonders in der Bergpredigt (Matthäus 5–7), zeigt er uns den Weg. Er ruft uns wie seinen Jüngern damals zu: »Folget mir nach.« Christlicher Glaube als Nachfolge – das bedeutet: Den Weg mit ihm anzutreten, nicht Prinzipien zu verteidigen, sondern an jedem Tag neu nach dem heute Gebotenen zu fragen, nicht Standpunkte zu beziehen, sondern da, wo wir heute sind und in den Beziehungen, in denen wir uns heute befinden, seinen Willen zu erforschen und zu tun. Nachfolge – das bedeutet auch, dem mit uns leidenden Gott in Christus nahe zu bleiben. Für Bonhoeffer ist Gott nicht der allmächtige Weltenherrscher, den man für alle schlimmen Dinge in der Welt haftbar machen kann (»Wie konnte Gott das zulassen?«). Dem in und an der Welt leidenden Gott in Christus treu zu bleiben und mit ihm zu wachen, das ist christlicher Glaube, das ist auch der Ort seiner Kirche. Nur dann bleibt sie glaubwürdig. Die eigentliche Gefahr sieht Bonhoeffer nicht in der Säkularisierung und
SeitenanfangNächste Seite


   45   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
Minorisierung der Kirche, sondern darin, daß sie ihre Glaubwürdigkeit verliert. Und die hängt nicht an dem, was sie lehrt, sondern daran, ob sie, was sie lehrt, auch selber tut. Wenn das geschieht, braucht sie sich nicht zu sorgen, wenn sie in die Katakomben gerät. Sie wird gehört werden.
     Und sie wird auch für die, die noch nicht glauben, eine wichtige Hilfe zu leben und eine Verbündete sein im Kampf um eine bessere Gerechtigkeit auf dieser Erde.
     Dietrich Bonhoeffer ist wohl gerade dadurch, daß er mit seinem Leben und mit seinem Sterben ein glaubwürdiger Christ gewesen ist, für viele so wichtig geworden. Die jungen Menschen suchen nach Vorbildern. Kein Wunder, daß sie Wegweisung bei dem Mann finden, der dachte, was er glaubte, der wollte, was er dachte, der tat, was er glaubte, dachte und wollte.

Foto: Autor

Denkanstöße

Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den Fragen des Glaubens, war das hohe Gut der befreiten ratio und gehört seitdem zu den unaufgebbaren sittlichen Forderungen des abendländischen Menschen ... Hinter Lessing und Lichtenberg können wir nicht mehr zurück.
DBW VI, S. 106

(Es gibt) neben der religiöschristlich verbrämten Gottlosigkeit, die wir eine hoffnungslose Gottlosigkeit nannten, eine verheißungsvolle Gottlosigkeit, die antireligiös und antikirchlich spricht. Sie ist der Protest gegen die fromme Gottlosigkeit, soweit sie die Kirchen verdorben hat und wahrt damit in gewissem, wenn auch negativen Sinne, das Erbe eines echten Gottesglaubens und einer echten Kirche.
Ebenda, S. 115

Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblicke auf die Mitschuldigen ...
Wo noch gerechnet und abgewogen wird, dort tritt die unfruchtbare Moral der Selbstgerechtigkeit an die Stelle des Schuldbekenntnisses angesichts der Gestalt Christi.
Ebenda, S. 126 f.

SeitenanfangNächste Seite


   46   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteNächste Seite
Die Kontinuität mit der vergangenen Schuld ... bleibt im geschichtlichen Leben der Völker erhalten. Nur darauf kommt es an, ob die vergangene Schuld tatsächlich vernarbt ist, und an dieser Stelle gibt es dann auch innerhalb der geschichtlichen außen- und innenpolitischen Auseinandersetzung der Völker so etwas wie Vergebung ... Es wird hier auf die volle Sühne des geschehenen Unrechtes durch die Schuldigen Verzicht geleistet, es wird erkannt, daß das Vergangene durch keine menschliche Macht wiederhergestellt, daß das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht werden kann. Nicht alle geschlagenen Wunden können geheilt werden, aber entscheidend ist, daß nicht weitere Wunden gerissen werden. Das Vergeltungsgesetz des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« bleibt Gott, dem Richter der Völker, vorbehalten.
Ebenda, S. 135

Das Gewissen ist der aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst ... Das Handeln wider das Gewissen liegt in der Richtung des selbstmörderischen Handelns gegen das eigene Leben.
Ebenda, S. 276 f.

Die Kirche kann ihren eigenen Raum ... nur dadurch verteidigen, daß sie nicht um ihn, sondern um das Heil der Welt kämpft. Andernfalls wird die Kirche zur »Religionsgesellschaft«, die in eigener Sache kämpft, und damit aufgehört hat, Kirche Gottes in der Welt zu sein.
Ebenda, S. 49 f.

(Es gibt) ein bestimmtes Interesse der Kirche nicht nur an dem punctum mathematicum des Glaubens (mathematischer Punkt ohne Ausdehnung im Raum), sondern auch an den empirischen Größen wie an der Bildung einer bestimmten Gesinnung in weltlichen Fragen und an bestimmten irdischen Zuständen. Es gibt zum Beispiel bestimmte Wirtschafts- und Sozialgesinnungen und -zustände, die dem Glauben an Christus hinderlich sind, und das heißt auch das Wesen des Menschen und der Welt zerstören. Es ist zum Beispiel die Frage, ob der Kapitalismus oder Sozialismus oder Kollektivismus solche Glaubenhindernde Wirtschaftsgestalten sind.
DBW VI, S. 363

SeitenanfangNächste Seite


   47   Deutsche Denker Dietrich Bonhoeffer  Vorige SeiteAnfang
Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt.
     Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.
DBW VIII, S. 24

Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.
Ebenda, S. 25

Qualität ist der stärkste Feind jeder Art von Vermassung. Gesellschaftlich bedeutet das den Verzicht auf die Jagd nach Positionen, den Bruch mit allem Starkult, den freien Blick nach oben und nach unten ... die Freude am verborgenen Leben wie den Mut zum öffentlichen Leben. Kulturell bedeutet das Qualitätserlebnis eine Rückkehr von Zeitung und Radio zum Buch, von der Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum Maß. Quantitäten machen einander den Raum streitig, Qualitäten ergänzen einander.
Ebenda, S. 33

Den Optimismus als den Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt; er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten ...
     Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.
Ebenda, S. 36

Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen ... und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane (Ev. Matthäus 26,40), und ich denke, das ist Glaube ... und so wird man ein Mensch, ein Christ.
DBW VIII, S. 542

SeitenanfangAnfang

Berlinische Monatsschrift Heft 2/99
© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de