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Helmut Bock
Ferdinand von Schill

Preußische Köpfe Nr. 33

Stapp Verlag, Berlin 1998

In der rund 200jährigen Geschichte der brandenburgisch- preußischen bzw. preußisch- deutschen Armee hat es vier Meutereien von Gewicht gegeben. Nur eine davon (Yorcks Abschluß der Konvention von Tauroggen 1812, der von preußischen Historiographen im nachhinein, des glücklichen Ausgangs zuliebe, seines Charakters als Meuterei entkleidet wurde) ist nicht mit Berlin verbunden. Die drei anderen – der Schillsche Aufbruch zum Freischarenzug im April 1809, die massenhafte Verweigerung der Schußwaffenorder gegen friedenfordernde Demonstranten im November 1918, der versuchte Sturz des NS-Regimes im Juli 1944 – haben in ihrem Verlauf unmittelbare Berührungspunkte mit Berlin. In dem vorliegenden Band werden wir ausführlich mit dem zeitlich ersten dieser drei Beispiele vertraut gemacht.
     Es handelt sich dabei um eine leicht bearbeitete und literarisch flüssig gestylte Neuausgabe der Studie, mit der Bock in den sechziger Jahren an der Berliner Humboldt- Universität seine Habilitation erlangte. Damals (und bei den späteren Ausgaben im Militärverlag der DDR) präsentierte sie sich mit dem Untertitel »Freischarenzug 1809«. Das Profil der Folge »Preußische Köpfe« ist jedoch auf Gesamtbiographien ausgerichtet, und so hätte die Übernahme des Untertitels bei den Stammkunden des Stapp Verlags durch die Beschränkung auf 1809 Verwirrung gestiftet. Tatsächlich jedoch macht die Schilderung, quellenkritische Untersuchung und tieflotende Analyse des Freischarenzugs zwischen dem Auszug aus Berlin am 28. April und der schließlichen Katastrophe in Stralsund am 31. Mai

1809 den wesentlichen Inhalt aus. Dabei geht der Autor weit über das nun fast auch schon ein Jahrhundert lang verfügbare Standardwerk hinaus, das der Militärschriftsteller Binder von Krieglstein 1904 veröffentlichte (Ferdinand von Schill. Ein Lebensbild, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Armee), um im Vorfeld des sich ankündigenden 100. Jahrestages des Schillschen Unternehmens den Militärs den Nachweis zu liefern, daß sie die zu erwartenden Ehrungen keinem Unwürdigen entgegenzubringen hätten. Mußte man damals annehmen, mit Binder von Krieglsteins aus (durch Verluste im Gefolge des Zweiten Weltkrieges heute nicht mehr verfügbaren) archivalischen Quellen geschöpftem Werk sei das gültige Wort zu Schill gesagt, so haben sich seither doch weitere verstreute Quellen angefunden, die das biographische Porträt Schills hier und da etwas kräftiger zu zeichnen vermögen. Bock geht auf diese weiterführenden Quellen vor dem entscheidenden Datum, mit dem der Protagonist im vorliegenden die Bühne betritt – dem 10. Dezember 1808, als Schill die Hauptperson beim umjubelten endlichen Wiedereinzug preußischen Militärs in die bis eine Woche zuvor noch von Napoleons Truppen besetzte Hohenzollernmetropole Berlin darstellte –, nicht ein, verwendet sie aber für die plastische (manchmal selbst drastische) Ausmalung seines sich eingrenzenden Themas: die Vorgänge wie auch die Stimmungen und Gemütslagen der Hauptperson unmittelbar vor und dann während der meuterischen Aktion.
     Binder von Krieglstein widmete sich seinem Thema als Militärhistoriker; Bock macht keinen Hehl daraus, daß er sich als Gesellschaftshistoriker sieht. Ihm steht die kritische Sonde hinsichtlich der Einordnung des Themas Schill und dessen Freischarenzug 1809 in die gesellschaftshistorische Epoche von Revolution und Restauration zwischen 1789 und 1820 näher als das Kalkül eines generalstäblerisch vorgebildeten Militärspezialisten. Das
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macht den großen Gewinn an seinem Buch aus. Er analysiert, was im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Deutschland angesichts der Präponderanz von Napoleons Schatten gesellschaftspolitisch auf der Tagesordnung stand, wer und wo die Kräfte waren, die richtige Einschätzungen vorzunehmen befähigt waren, und wo beim Anlegen dieser Elle Schill anzusiedeln ist. Dabei kommt eine zutiefst tragische Gestalt heraus, die zwischen patriotischer Hochstimmung und nüchterner gesellschaftspolitischer Standortbestimmung nicht zu unterscheiden vermochte: Das rückwärtsgewandte, stets die »guten alten Zeiten« beschwörende konservative Rebellentum konnte höchstens arbeitslos gewordene Soldaten zum Anschluß an das Unternehmen begeistern, die Masse der Bevölkerung, ohnehin im Normalzustand mehr auf Beharrung als auf Bewegung orientiert, wollte ihr Arrangement mit den angestammten oder auch neuen Obrigkeiten keineswegs aufgeben. Nicht ohne Emotion liest man die wirklich packenden Schilderungen des Autors, wie Schill angesichts dessen an den Knotenpunkten seines Weges von Berlin nach Stralsund nicht auf der Höhe der Erfordernisse war, weil er sich mit seiner königstreu intendierten Meuterei zu seinem Entsetzen die Ungnade des – damals wohl zu Recht – taktierenden Königs Friedrich Wilhelm III. zugezogen hatte und außerdem noch, zutiefst enttäuscht, keinerlei massenhafte Bereitschaft zur Volkserhebung in den Rheinbundstaaten vorfand; die Prämissen für einen Erfolg seines meuterischen Auszugs aus Berlin waren somit verschwunden.
     Die von ihm gewählte Alternative einer Einigelung in Stralsund war dann allerdings so ziemlich die schlechteste aller möglichen Varianten, und Bock zeichnet recht überzeugend nach, wie auch die Einnahme der Stadt durch Schills Truppe bereits einen Schatten vorauswarf: Wer aus Stralsund ein »zweites Saragossa« als auf die ganze Nation wirkendes Fanal gegen die napoleonische Herrschaft machen wollte, brauchte die fanatische Entschlossen-
heit der Stralsunder zum Widerstand, und die war eben am Strelasund ebensowenig zu finden wie zuvor schon nicht in Bernburg, Dömitz oder Rostock ...
     (Sicherlich wäre es angebracht, auch das Jahr 1813 einmal von dieser Seite her abzuklopfen; man wird feststellen müssen, daß selbst angesichts eines total vernichteten napoleonischen Riesenheeres die Bereitschaft zu lokalen »Emeuten« – entgegen allen Legenden – sehr gering bemessen war und den Linientruppen der Russen und Preußen doch die eigentliche Last der militärischen Aktionen zufiel!)
     Leider hält der Autor die Unterrichtung seiner Leser über die Stimmung in Berlin nach dem Bekanntwerden der Schillschen Aktion sehr auf Sparflamme. Es wird nur über die Reaktion auf höherer Ebene berichtet, und auch da möchte man, besonders Polizeipräsident Gruner betreffend, das eine oder andere Urteil relativieren. Hermann Granier (»Berichte aus der Berliner Franzosenzeit«, Leipzig 1913) liefert anhand Berliner und Pariser Akten schöne Stimmungsbilder zu dem Summen im Bienenkorb, dem Berlin im April/Mai 1809 glich. Ein breiteres Aufgreifen dieses Themenkomplexes hätte jedoch den offenbar vorgegebenen Umfang des Buches ausgeweitet. Wirklich kritisch ist lediglich ein Detail anzumerken: Seine lobenswerte Vorliebe für flüssigen Stil hat den Autor dazu verführt, den Schillschen Reitern den Lutherspruch »Ein' feste Burg ist unser Gott ...« auf dem Turm der Wittenberger Schloßkirche vor Augen blitzen zu lassen (S. 123) – aber dieser Turm mit dieser Inschrift verdankt seine Existenz erst der Beförderung der Schloßkirche zu einer Gedächtniskirche der Reformation mittels Umbaus in den Jahren 1883–1892!
Kurt Wernicke
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Briefe an die Redaktion

Zu Thomas Abbt in Heft 11/98

Der Siebenjährige Krieg, der von 1756–1763 weite Strecken von Preußen und Sachsen verwüstete, die Bevölkerung verarmte, die preußische Königin vor Russen und Österreichern nach Magdeburg fliehen ließ und viele Menschen, darunter den Dichter und Major Ewald von Kleist, des Lebens beraubte, hatte im ersten Anlauf Siegeshymnen hervorgerufen.
     Um so nachhaltiger mußte 1761 die Schrift des 1738 geborenen Mathematikers Thomas Abbt »Vom Tode für das Vaterland« viele zur Besinnung bringen. Gleich nach der Veröffentlichung im Verlag des gelehrten Buchhändlers Friedrich Nicolai (geboren 1733) war auch sein Freund Moses Mendelssohn (geboren 1728) auf die Schrift aufmerksam geworden. Die freimütig vorgetragenen, fast republikanischen Überlegungen zu Patriotismus, zu Untertanenpflichten und Untertanentreue im Kriege, imponierten ihm so sehr, daß Mendelssohn Thomas Abbt als dritten Mitarbeiter an den 1759 begonnenen »Briefen, die neueste Litteratur betreffend«, anwerben ließ.
     Und wie befruchtend war diese Wahl, denn nach dreiundfünfzig, teils stark polemischen »Briefen« hatte Lessing (geboren 1729) durch sein Fortgehen von Berlin eine üble Lücke geschaffen. Doch trotz der Kriegsnöte – die sich auch im Mangel an Papier zeigten – wollten Mendelssohn und Nicolai die im Briefstil gehaltenen kritischen Berichte über literarische Neuerscheinungen vermitteln. Alle »Briefe« waren anonym. Lessings Kürzel war Fll (flagello: ich peitsche). Seine Gegner mochten dies in »Flegel« umsetzen, doch seine scharfe Zunge, die die Mittelmäßigkeit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur bekämpfen, die Urteilskraft von Leser und Kritiker erhöhen sollte, die fehlte nun.

An Lessings Stelle trat Abbt, der Kraft seiner Jugend nicht nur viel unbekümmerter vom Leder zog, sondern in seinen achtundsechzig Beiträgen neue Themen in den Brennpunkt rückte.
     Ehe sein Magenleiden seinem Leben kurz vor Vollendung des 27. Lebensjahres ein Ende setzte, hatte Abbts Vehemenz im Ton 1763 einen eitlen Verfasser veranlaßt, in Abwesenheit des freigeistigen Königs ein Einschreiten der Zensur heraufzubeschwören – ein Verbot, das allerdings bereits fünf Tage später abgeblasen wurde.
     Abbt nahm sich diesen Vorfall sehr zu Herzen, ohne daß dies seine kritische Wißbegierde dämpfte: Ein neuer Wind blies seit kurzem in Frankreich, England und nun auch in Norddeutschland und brachte brisante Themen zum Vorschein. Abbt spielte dabei durch seine Rezensionen in den »Literaturbriefen« eine bisher unterschätzte Rolle.
     So lernt Abbt z. B. aus dem sechsbändigen Werk des früh an Pocken gestorbenen Antoine-Yves Goguet zum erstenmal wissenschaftlich begründete Historiographie kennen, von dem Freund Justus Möser (vor der Veröffentlichung) dessen Auffassungen zur quasirepublikanischen Staatsverfassung und Staatsregierung Osnabrücks. Ebenfalls von Möser lernt er von dessen Personifizierung des Komischen (»Harlekin, oder über das Groteske- Komische«). Noch bedeutender waren ihm, lange vor dem Ausbruch der französischen Revolution, die geradezu aufrührischen Ideen des Freiherrn von Moser über die Pflichten des Regenten gegenüber seinen Untertanen (»Herr und Diener«).
     Nicht zu vergessen, daß Abbt die Werke zweier Zeitgenossen, der Theologen Spalding und Süßmilch, zur öffentlichen Kenntnis brachte.
     Aus der zweiten Auflage von Süßmilchs »Göttlicher Ordnung« lenkte Abbt, dreißig Jahre vor Thomas Malthus, die Aufmerksamkeit auf das statistisch nachweisbare Mißverhältnis von anwachsender Bevölkerung und dem Nicht- Schritthalten der Produktion von Lebensmitteln.
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Aus Spaldings »Bestimmung des Menschen« entstand die zuerst brieflich geführte Diskussion über die Güte Gottes zwischen dem von Zweifeln gepeinigten Christen Abbt und dem Deisten Mendelssohn. Die Zusammenfassung und Gegenüberstellung ihrer Theodizee- Argumente bildet den Höhepunkt der »Literaturbriefe« und führte darüber hinaus zur Verdichtung des Mendelssohnschen Denkens zum Thema, das er als »Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele« 1767 dem jüngst verstorbenen jungen Abbt widmete.
     Wo immer sich Abbt aufhielt, begeisterte er die Menschen seiner Umgebung, so z. B. auf einer Reise in der Schweiz den Sozialhistoriker Isaak Iselin, den Freigeist Voltaire. Sein Frühwerk verschaffte ihm, dem Bürgersohn, die Freundschaft des hochbegabten Grafen Wilhelm zu Schaumburg- Lippe. Die Entwürfe des Grafen zu der Inschrift des anderthalb Meter hohen Grabsteins sind noch heute im Familien- Archiv im Schloß Bückeburg aufgehoben. Der Grabstein selbst befindet sich gleich neben dem Altar in der Schloßkapelle, und das größte Wort darauf ist FREUND.
     Da Abbt nach einem Diner an der Tafel des Fürsten von Magenkrämpfen befallen wurde, ordnete der bestürzte Regent zwei Obduktionen an. Diese, ebenso wie die vielen noch erhaltenen Rezepte, deuten auf die Wahrscheinlichkeit eines Darmverschlusses.
     Nur ein kurzes Jahr hatte sich der sprachkundige Philosoph und erfolgreiche Militär an dem Gespräch mit dem vielseitigen jungen Abbt erbauen können. In Herder hoffte er einen Ersatz zu finden. Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte, bot sie Herder Gelegenheit, das Leben, die Bücher- und Gedankenwelt seines Vorgängers so eingehend kennenzulernen, daß daraus Herders Aufsätze zum Gedenken Abbts entstanden. Sie und die reichhaltige, zum Teil noch unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Abbt und den Berliner Freunden spiegeln wahre Aufklärung und die so wirkungs-
volle Freundschaft zwischen dem Ulmer Seilersohn, dem »Buchhalter« Nicolai und dem Denker Mendelssohn.
     Die Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn im Frommann Verlag enthalten die Briefe an und von Abbt in den Bänden 11 und 12.1, die Anmerkungen Nicolais zu der Abbt- Mendelssohn- Korrespondenz in Band 6.1 und Mendelssohns Widmung an Abbt im »Phädon« in Band 3.1.
Eva J. Engel
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© Edition Luisenstadt, 1999
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