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Gerhard Fischer
Seelsorger und Gelehrter

Vor 210 Jahren starb Pierre Chrétien Frédéric Reclam

In Handwerk und Handel, in Wissenschaft und Kultur haben die Hugenotten seit ihrer 1685 einsetzenden Masseneinwanderung aus Frankreich ihrer brandenburgisch- preußischen Wahlheimat entscheidende Impulse gegeben. Mit solch bedeutsamen Leistungen auf wirtschaftlichem wie auf geistigem Gebiet hat sich in Berlin auch die aus Savoyen stammende Familie Reclam in die Geschichte eingetragen. »Veillez sans peur« – »Wachet ohne Furcht!« war ihr Wappenspruch. Bekannte Kaufleute und berühmte Goldschmiede, aber auch namhafte Vertreter der Intelligenz gehörten ihr an.
     Wohl für jedermann ist »Reclams Universal- Bibliothek« ein Begriff. Aber weithin vergessen ist, daß der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam (1807–1896), der sie 1867 ins Leben rief, ein Hugenotte war. Sein Großvater war königlich- preußischer Hofjuwelier in Berlin, und sein Vater, Charles Henri Reclam, hatte hier den Buchhändlerberuf erlernt, bevor er sich 1802 in der sächsischen Messestadt selbständig machte.

Dort gründete Antoine Philippe 1828 seinen Verlag, der dann mit seinen preiswerten Heften zu nationalem Ruhm und internationalem Ruf gelangte.
     Juwelier war auch der Vater des Theologen Pierre Chrétien Frédéric Reclam, dessen 210. Todestages wir in diesem Monat gedenken. Am 16. März 1741 erblickte er in Magdeburg das Licht der Welt. Nach gediegener Ausbildung wurde er 1765 zum Prediger an der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt berufen.
     Dessen Nordseite bot damals noch nicht den heute gewohnten Anblick mit dem »Französischen Dom«, also dem imposanten Kuppelturm samt seinem ausladenden Unterbau. Die Kirche, die Louis Cayart (1645–1702) und Abraham Quesnay (1666-1726) von 1701 bis 1705 errichtet hatten, erhielt diesen beherrschenden Anbau erst ab 1780.
     Fertiggestellt wurde er im August 1785, gut zwei Monate vor dem hundertjährigen Jubiläum des Potsdamer Edikts, mit dem Kurfürst Friedrich Wilhelm ( 1620–1688, Kurfürst ab 1640) seine in Frankreich verfolgten reformierten Glaubensbrüder und -schwestern nach Brandenburg gerufen und ihnen hier »Rechte, Privilegien und Wohltaten« in Aussicht gestellt hatte. Viele tausend Flüchtlinge folgten dieser verheißungsvollen Einladung. Allein in Berlin – seine Zwillingsstadt Kölln und die Vorstädte einbegriffen – zählte im Jahre
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1700 die französische Kolonie 5 327 Mitglieder.1)
     Als »Kolonie« bezeichnete der Sprachgebrauch seinerzeit »meistens eine Gesellschaft von Menschen ein und derselben Nation, die sich in einem fremden Land niedergelassen haben, ohne sich mit der eingeborenen Nation zu vermischen«.2) So formulierten es Frédéric Reclam und sein Freund Jean Pierre Erman (1735–1814) in ihrer 1772 deutsch und französisch erschienenen Abhandlung »Historische Denkwürdigkeiten, die Stiftung der französischen Gemeinde in Berlin betreffend«, herausgegeben zum 100. Jahrestag der Gründung der Berliner französisch- reformierten Kirchengemeinde. Doch fuhren sie fort: »Aber diese Definition trifft auf uns im strengen Sinne nicht zu: wir sind mit der deutschen Nation vermischt, und zwar sowohl im Hinblick auf unsere Wohnungen und unsere Gewerbe als auch selbst im Hinblick auf unsere Heiraten, die häufig national gemischt sind.«3) Die Zeit der ethnischen Abgeschiedenheit war vorbei, die Zeit der Assimilation hatte schon eingesetzt – die hohe Zeit also auch, all das zusammenfassend niederzuschreiben, was mündlich und schriftlich aus hundertjähriger Geschichte der Berliner Hugenotten seit dem Erlaß des Edikts von Potsdam überliefert war.
     Darüber war bis zu der eben zitierten, verhältnismäßig schmalen Publikation von Erman und Reclam – etwa 100 Seiten stark –
keine in sich geschlossene Darstellung mehr herausgekommen, seit Charles Ancillon (1659-1715), der erste Direktor und Oberrichter der französischen Kolonie, 1690 seine »Geschichte der Niederlassung der Refugiés in den Staaten Seiner Kurfürstlichen Hoheit von Brandenburg«4) verfaßt hatte. Nun machten sich mit dem Blick auf das Edikt- Jubiläum die beiden Amtsbrüder an die Arbeit, um ihrer Gemeinde und der Öffentlichkeit ein Geschichtswerk von bleibendem Rang zu schenken.
     »Mémoires pour servir à l'histoire des Refugiés François dans les Etats du Roi« war sein Titel, zu deutsch etwa: »Denkwürdigkeiten, mit denen der Geschichte der französischen Flüchtlinge in den Staaten des Königs gedient werden soll«. Mit dem König war natürlich der damals regierende Friedrich II. von Preußen (1712–1786, König ab 1740) gemeint. Der Urenkel jenes »Großen Kurfürsten«, dem die Hugenotten wegen seines Edikts nach wie vor Dank zu schulden meinten, wiewohl der Vorteil, den er und sein Land aus ihrer Zuwanderung gezogen hatten, gewiß nicht geringer war als der Nutzen für die Immigranten selbst.
     Das insgesamt neunbändige Werk erschien ab 1782. Die ersten sieben Bände verlegte das in Hamburg gebürtige Koloniemitglied Jean Jasperd, der seine Verlagsbuchhandlung im Bereich der Berliner Schloßfreiheit »gegenüber den Werderschen Mühlen« unterhielt, während die Bände VIII
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(1794) und IX (1799) als Verleger Frédéric Barbiez angeben.5) Die Titelkupfer stammten von Daniel Chodowiecki (1726–1801), der ebenfalls der Kolonie angehörte. Reclam erlebte noch das Erscheinen von Band VI. Die letzten drei Bände gab – zum Teil noch auf Reclams Vorarbeit gestützt – Erman allein heraus.
     Der war zur Arbeit an diesem Geschichtswerk berufen wie kaum ein anderer. Schon mit 17 Jahren war er Lehrer am Collège Français in Berlin geworden, 1766 dessen Direktor. Seit 1754 Prediger, wirkte er ab 1755 an der Friedrichswerderschen Kirche und als Mitglied des Berliner Französischen Consistoriums. Im folgenden Jahr wurde er zudem Direktionsmitglied der »Ecole de charité«, der 1747 gegründeten, in der FriedrichEcke Jägerstraße gelegenen französischen »Schule der Barmherzigkeit« für Kinder verarmter Eltern.
     1770 wurde Erman zum Inspecteur des im gleichen Jahr von ihm ins Leben gerufenen »Séminaire de théologie« ernannt, der Berliner Ausbildungsstätte für französisch- reformierte Geistliche, die damals ihren Sitz zusammen mit dem französischen Oberconsistorium für Preußen, den Gerichten der französischen Kolonie und dem Französischen Gymnasium in der Niederlagstraße 1/2 hatte. Zum Mitglied des Oberconsistoriums wurde Erman 1783 berufen, zum Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften 1786, zum Historiographen der
Mark Brandenburg 1792. Drei Jahre später wurde er als Königlicher Geheimer Rat zum Mitglied des Oberdirectoriums für alle französischen Kolonien in Preußen ernannt.
     Alle diese Ämter bekleidete er nicht etwa nach-, sondern nebeneinander. Natürlich war auch seine schriftstellerische Tätigkeit, wie die seines Kollegen Frédéric Reclam, nebenamtlicher Natur. Beider Werk entsprach in Grundauffassung und Duktus völlig den Ansichten, die seinerzeit bei den französischen »Kolonisten« vorherrschten: stolzes Traditionsbewußtsein, gepaart mit Liebe zu dem hundert Jahre zuvor gewonnenen neuen Vaterland und mit Ehrerbietung gegenüber seinen Herrschern. Die Stärke der neun Bände liegt in ihrem Faktenreichtum, die Schwäche in dem zuweilen kritiklosen Blick auf die Vergangenheit. Als Quelle auch für heutige Geschichtsschreibung und Forschung sind sie unentbehrlich.
     Frédéric Reclam erlebte zwei Jahre vor seinem Tode noch zwei Beförderungen, mit denen man seine Verdienste als Seelsorger wie als Gelehrter würdigte. Als Prediger wurde er von der Friedrichstadtan die »Kirche im Werder« versetzt. Sie galt damals als die vornehmste der französisch- reformierten Kirchen in Berlin, und zwar nicht etwa, weil sie die reichsten Gemeindemitglieder gehabt hätte – Begüterte wie auch Arme gab es hier ebenso wie in den anderen
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Berliner Kirchgemeinden –, sondern weil sie dem königlichen Schloß am nächsten lag ...
     Im übrigen ist diese Kirche baulich nicht mit der jetzigen Friedrichswerderschen Kirche am selben Standort gleichzusetzen, die ja erst Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) von 1824 bis 1830 geschaffen hat. Sie war ein recht schlichtes Gebäude, entstanden 1700/01 durch den Umbau des »Langen Stalls«, des kurfürstlichen Reitstalls. Um- und ausgebaut hatte ihn der Schweizer Architekt und Bauunternehmer Giovanni Simonetti (1652–1716) nach einem Entwurf von Martin Grünberg (1655–1706). Die nördliche Hälfte dieses Kirchbaus diente nun im Gottesdienst den Französisch-, die südliche den Deutsch- Reformierten, für die übrigens Simonetti von 1701 bis 1708 wiederum nach Grünbergs Projekt den Bau der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt leitete – jener Kirche, der dann parallel zum »Französischen Dom« der »Deutsche Dom« angelagert wurde.
     Ebenfalls 1787 erfolgte Reclams Berufung zum Professor am »Collège Français«, dem schon erwähnten Französischen Gymnasium in der Niederlagstraße zwischen Werderschem Markt und Unter den Linden. Über dieses Institut, 1689 gegründet und bis 1701 in der Stralauer Straße ansässig, hatte Charles Ancillon schon 1690 festgestellt: »Der Lehrplan und die Disziplin gefielen auch vielen Deutschen, darum schickten sie gern ihre Kinder in das französische
Gymnasium.« Unter Ermans Leitung hatte es mit seinen sieben Klassen einen neuen Aufschwung genommen.
     Nach mehr als zwei Jahrzehnten segensreicher Tätigkeit für Kirche und Gesellschaft ist Pierre Chrétien Frédéric Reclam am 22. Januar 1789 in Berlin verstorben.

Quellen und Anmerkungen:
1     Vgl. die Kolonieliste in Erman et Reclam, Memoires pour servir ..., Bd. VI, Berlin 1785. Stieg die Zahl der Koloniemitglieder bis 1724 laut Kolonieliste auf 8 496 an, so sank sie bis 1795 wieder auf 5 400. Im 19. Jahrhundert pendelte sie sich bei durchschnittlich etwa 6 000 ein; 1884 zum Beispiel wurden 6 372 Mitglieder gezählt
2     Zit. nach Conrad Grau, Berlin Französische Straße. Auf den Spuren der Hugenotten, Berlin 1987, S. 26
3     Ebenda
4     So der Titel der deutschsprachigen Ausgabe, die der Deutsche Hugenottenverein nach der französischen Originalausgabe in der Reihe seiner »Geschichtsblätter« (XV. Zehnt, Heft 8, Berlin 1939) vorlegte
5     Vgl. Gottfried Bregulla (Hrsg), Hugenotten in Berlin. Berlin 1988, S. 384

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Berlinische Monatsschrift Heft 1/99
© Edition Luisenstadt, 1999
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