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mitteln, daß sie auch ohne den üblichen »Eintrittspreis in die Zivilisation« (Heine) – den Übertritt zum Christentum – Aussicht auf Staatskarriere hätten, wenn sie nur durch entsprechende Leistungen plus Glaubensfestigkeit dem christlichen Staat genügend Anerkennung abzuringen vermöchten.
     Ludwig Geiger, seit 1871 der anerkannte Geschichtsschreiber der Jüdischen Gemeinde Berlins, scheute sich mitten im Ersten Weltkrieg offenbar, den wirklichen Grund der Neuausgabe beim Namen zu nennen: Er propagiert nur die Vorbildwirkung des vaterlandsliebenden deutschen Juden Meno Burg für deutsche Juden »gerade in dieser schweren Epoche, die wir durchleben« (S. XXVIII). Dieser Bezug auf »Vaterlandsliebe« ist bei Geiger ein frommer Betrug, denn für Meno Burg ist sein Vaterland ganz eindeutig nicht Deutschland, sondern Preußen. Ausgeklammert hat Geiger außerdem die mit Sicherheit vorliegende Motivation, der nach einem kurzen Abklingen des latenten Antisemitismus im Hochrausch des nationalistischen Jubels vom August 1914 nun, nach anderthalb Jahren Krieg, überall wieder emporrauschenden antisemitischen Welle einen kleinen Damm entgegenzusetzen. War doch unübersehbar, daß die Beförderung jüdischer Unteroffiziere zu Offizieren schon 1915 stagnierte, manche Offizierskasinos erneut zu Zentren antisemitischer Agitation wurden und das Preußische Kriegsministerium mit Eingaben bombardiert wurde, es solle gefälligst das Verhältnis der Frontsoldaten jüdischen Glaubens zu den jüdischen »Etappenschweinen« statistisch untersuchen.
     Geigers Neuedition der Burgschen Memoiren sollte also mit Gewißheit in Erinnerung bringen, daß befähigte Juden ohne weiteres für eine militärische Laufbahn optiert hätten, wenn man ihnen nicht immer wieder Steine in den Weg gelegt hätte. Erlebte doch Meno Burg, als er 1813 als Freiwilliger Jäger in das Garde- Grenadier- Bataillon eingetreten war, wieder die Entlassung ohne jede
Meno Burg
Geschichte meines Dienstlebens

Erinnerungen eines jüdischen Majors der preußischen Armee

Teetz, Hentrich & Hentrich, Berlin 1998

Schon die ungewöhnliche Tatsache, daß dem kleinen Werk nicht weniger als drei Vorworte vorangestellt sind, hebt es aus der Reihe gewöhnlicher Autobiographien heraus. Den Reigen eröffnet der Direktor der Stiftung »Neue Synagoge – Centrum Judaicum«, Hermann Simon, als Herausgeber, der mit dieser Publikation eine vom Verlag angekündigte Reihe »Jüdische Memoiren« einleitet. Das zweite Vorwort ist ein Rückgriff auf Ludwig Geigers Geleitwort, das er der Ausgabe von 1916 voranstellte, das dritte schließlich ist dem Verfasser selbst geschuldet, der es zum Auftakt einer ersten, bis März 1849 abgearbeiteten und später immer wieder kurz ergänzten Niederschrift im Sommer 1847 zu Papier brachte. Den Vorwort- Schreibern ist eines gemeinsam: Sie sind alle drei Berliner Kinder – und sie sind Juden.
     Es ist allerdings das Judentum des Verfassers Burg, das dem Band seine Besonderheit verleiht: Meno Burg (1789 – 1853) war in den mehr als 100 Jahren zwischen der preußischen gesetzlichen Judenemanzipation durch das Edikt von 1812 und dem Ersten Weltkrieg der einzige Jude, der in der preußischen Armee den Rang eines Stabsoffiziers erklomm! Das Vorwort des Verfassers und das des Herausgebers von 1916, Ludwig Geiger, widmen sich auch jeweils explizit dieser Besonderheit. Meno Burg selbst bekennt sich zu der Absicht, durch seine Lebensbeschreibung jungen jüdischen Männern im preußischen Staat Hoffnung zu ver-

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andere Begründung als die, daß ein Jude nicht bei der Gardeinfanterie dienen könne; er landete schließlich bei der Artillerie, wo ohnehin der für die Anwendung der ballistischen Gesetze nötige höhere Intelligenzgrad schon seit dem Soldatenkönig Stammbaum und Glaubensbekenntnis weniger Gewicht für die Karriereleiter verlieh.
     Zunächst im praktischen Truppendienst, dann als Zeichenlehrer in einer interimistischen Artillerieschule, danach (1815/16) als Troupier in der Provinz Sachsen und in Danzig, mit der Eröffnung der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin im November 1816 (erst im Gießhaus Hinter dem Zeughaus, seit Oktober 1823 Unter den Linden, damals Nr. 74) dort wieder Lehrer, nahm er mit einigen – persönlich schmerzhaft empfundenen – Hindernissen bzw. Verzögerungen die militärische Laufbahn vom Bombardier über den Unteroffizier, Sekondeleutnant (1815), Premierleutnant (1826) und Hauptmann (1832) bis zum untersten Dienstgrad des Stabsoffiziers – Major (im März 1847, dieses Anvancement war offenbar der unmittelbare Anlaß zur Niederschrift des ursprünglichen Manuskripts). Das alles, ohne sich von seinem Judentum zu distanzieren, obwohl ihn Friedrich Wilhelm III. einmal ungescheut wissen ließ, er erwarte Burgs baldigen Übertritt zum Christentum, da er im Umgang mit seinen christlichen Offizierskameraden ja die nötige sittliche Reife für dieses Glaubensbekenntnis erlangt haben müsse ...
     Burg selbst fand Stärkung gegen solche Versuchungen in seinem festen Vertrauen in seinen
Gott, den er in seiner Niederschrift mehr als genug mit seinem Dank überschüttet, weil er ihm wiederholt so wunderbar seine Gnade bewiesen habe. Das getreue Festhalten an seiner Religion stand für Burg nie in Frage. (Wenigstens nach dem Wortlaut seiner Autobiographie; nach einer Bemerkung in Simons Vorwort war er allerdings 1824 schon schwach geworden, hatte aber – wohl wegen seiner

 


          Meno Burg

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bevorstehenden Heirat mit einer Tochter der alteingesessenen Berliner jüdischen Familie Rieß, Julie (1802–1831) – seinen Taufantrag zurückgezogen.) Daß er in voller Offiziersmontur die Sabbat- und Festtagsfeiern in der Synagoge (der alten in der Heidereutergasse) besuchte und dabei die ihm verliehenen Dienstauszeichnungen, die natürlich in Kreuzesform gestaltet waren, deutlich sichtbar trug, findet sich in Burgs Niederschrift nicht, aber wir wissen es aus anderen zeitgenössischen Zeugnissen. Offenbar demonstrierte er damit nach zwei Seiten hin die bei ihm gelungene Symbiose von Judentum und vaterländischer Staatsdienerschaft – nämlich den jüdischen Betern gegenüber ihre Chance als emanzipierte Staatsbürger und der preußischen Offizierskaste gegenüber die von ihm in Anspruch genommene Selbstverständlichkeit, daß einer zu ihr gehören konnte, der sich zum Judentum bekannte.
     Daß er in seinen Aufzeichnungen aus dem dienstlichen Leben mehrmals tief eingefleischte christliche Vorurteile über Juden, Judentum und jüdische Religion erwähnt, die ihm begegneten (und die er meinte ausgeräumt vermocht zu haben), gehört zu dem natürlichen Umfeld, in dem sich preußische Juden auch nach der theoretischen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung laut Edikt vom 11. März 1812 bewegen mußten. Mit ungutem Gefühl liest man deshalb Burgs ganz aus der Offiziersperspektive stammende abwertende Beurteilung des Jahres 1848 (S. 167 u. 176). Der von ihm verdammten Revolution verdankte Preußen doch den Übergang zum Verfassungsstaat, und die Preußische Konstitution machte mit der Kombination von Artikel 3 und Artikel 12 die absolute Gleichberechtigung der Religionen nicht mehr zu einer staatlichen Gnade (wie noch 1812), sondern zu einem verfassungsmäßigen Recht.
     Auch ein jüdischer Stabsoffizier konnte sich also nicht über die standesgemäße Verachtung der Revolution erheben, selbst wenn Burg konzedierte,
daß zwischen Juli 1847 und März 1849 die bei den jungen Juden »so sehnlich von ihnen erwünschte Emanzipation jetzt zu einer Wahrheit geworden ist ...« (S. 168) Sollte diesem intelligenten Menschen der Zusammenhang wirklich nicht aufgegangen sein?
     Meno Burg hatte übrigens über weite Strecken seiner militärischen Laufbahn einen hohen Gönner – Prinz August (1779–1843), Neffe Friedrichs II. und Großcousin Friedrich Wilhelms III., seit 1808 Chef der preußischen Artillerie. Dieser hochintelligente und weltgewandte preußische Prinz (sein leiblicher Vater war Graf Schmettau, der Schöpfer der ersten preußischen Generalstabskarte), der 1806/07 als Kriegsgefangener in den Pariser Salons Herzen gleich welchen religiösen Bekenntnisses gebrochen und ein Verhältnis mit der berühmtberüchtigten Madame Récamier (1777–1849) unterhalten hatte, kannte überhaupt keine Reserve gegenüber Juden (und schon gar nicht gegenüber Jüdinnen ...). Über des Prinzen Huld äußert sich Burg voller Dankbarkeit – alle drei Vorworte sparen jedoch des Prinzen gewissermaßen familiäres Verhältnis zum Judentum aus. Diese hohe Protektion, in Verbindung mit dem bei der Artillerie stärker ausgeprägten bürgerlichen Element, dürften auch der Grund dafür gewesen sein, daß Burg beim Offizierskorps der Garde- Artillerie- Brigade absolut ohne jede Voreingenommenheit in den gesellschaftlichen Verkehr einbezogen wurde, wofür er des Lobes und Dankes nicht voll genug sein kann. Seine herausgehobene Stellung als selbst international anerkannter Autor von Standard- Lehrbüchern für die Ausbildung des Artillerieoffiziers dürften ein übriges dazu beigetragen haben, ihn im Offizierskorps nicht zu isolieren.
     Aber – das gilt, wie man den Memoiren unschwer entnehmen kann, eben nur für das Artillerie und das Ingenieurwesen. Wie man letzten Endes über einen jüdischen Stabsoffizier bei den Gardeoffizieren außerhalb der Artillerie dachte, schlägt
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sich trotz des ironischen Abstands deutlich in den Erinnerungen des Prinzen Kraft zu Hohenlohe- Ingelfingen (1827–1892) nieder, der bei Burgs Beisetzung der einmaligen Mischung von jüdischem Ritual und militärischer Zeremonie beigewohnt hatte (S. XIV – XVI).
     Dankenswerterweise hat Simon seiner Neuausgabe ein Glossar und ein Namensregister beigefügt. Für das letztere wäre ein Blick in Priesdorffs biographisches Standardwerk »Soldatisches Führertum« nützlich gewesen, das in zehn Bänden alle preußischen Generäle bis ca. 1890 vorstellt. Daraus hätte mühelos eine Reihe von Lebensdaten ergänzt werden können. Der auf Seite 90 von Burg für 1820 erwähnte Herzog Carl von Mecklenburg- Strelitz (1785–1837) ist natürlich nicht der schon 1816 verstorbene Vater der Königin Luise, sondern dessen Sohn, Luises Bruder, 1816–1837 Kommandeur des Gardekorps. Und sollte schon ein Schreibfehler Meno Burgs (oder ein Setzerfehler bei der Erstausgabe von 1854) dafür verantwortlich sein, daß (Seite 138) das alljährliche Ordensfest auf den 18. Juni datiert wurde (obwohl es auf Seite 140 richtig 18. Januar heißt), wäre es anläßlich der Neuausgabe wohl einer Berichtigung wert gewesen.
     Der von Geiger wie von Simon angesprochene Streit um das Geburtsjahr Burgs (1788? 1789? 1790?) ist eigentlich durch Meno Burgs eigene Aussage erledigt. Wenn er selbst sagt (Seite 10), er sei am 30. Juli 1807 in seinem 18. Lebensjahre in den Staatsdienst eingetreten, dann kann er angesichts des unstreitigen Geburtstages 9. Oktober nur 1789 geboren worden sein.
     Kurt Wernicke
Berliner Aufgebote 1786–1805

Gesammelt und herausgegeben von Nina Hess

WEIDLER Buchverlag, Berlin 1997

Ein Werk von 823 Seiten im A4-Format ist ediert worden, das allein 485 Seiten wörtliche Abschriften und 328 Seiten Namenregister umfaßt. Die Einleitung ist dafür mit anderthalb Seiten Text recht knapp gehalten. Auch das Quellen- und Literaturverzeichnis findet auf weniger als einer halben Seite Platz, handelt es sich doch bis auf Einsprengsel in der Einleitung um eine einzige Quelle, aus der die Abschriften geschöpft wurden: das »Neue Berliner Intelligenz- Blatt« der im Titel genannten Jahre, das jedoch für einzelne Jahrgänge an drei verschiedenen Standorten in Berlin eingesehen werden mußte (der Zeitraum September- Dezember 1805 wurde im Verzeichnis allerdings ausgespart, obwohl dazu Eintragungen vorlagen).
     Jeder Historiker, Genealoge oder auch Hobbyforscher, der in jenem Zeitabschnitt nach Berliner Ahnen oder anderen Personen sucht, die hier geheiratet haben könnten, muß der Herausgeberin allein für die Fleißarbeit dankbar sein. Hat sie doch für die Jahre an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert mehr als 38 600 Namen von Personen erfaßt, die in der Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Preußen eine Heiratsabsicht bekundeten (die Bräute sind mit ihren verschiedenen Namen im Register vermerkt, wenn sie bereits verwitwet oder geschieden waren; die Zahl der Personen fällt also geringer aus). In diesen Freudenbecher fallen für den Nutzer jedoch einige Wermutstropfen, denn Vollständigkeit kann objektiv nicht erreicht werden: Zum einen meldeten nur die christlichen Kirchen der drei Hauptkonfessionen (Lutheraner, Reformierte, Ka-

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tholiken) dem Blatt wöchentlich nach Gemeinden getrennt die erstmals Aufgebotenen vom vorangegangenen Sonntag. Die Veröffentlichung folgte jeweils am Donnerstag. Heiratswillige Juden und Dissidenten sind so durch das Raster gefallen, jedoch stellten sie damals in Berlin nur sehr kleine Minderheiten dar.
     Zum anderen – und das fällt gravierender ins Gewicht – ist das »Neue Berliner Intelligenz- Blatt« in dem von Hess gewählten Zeitraum (als Eckpunkte werden in der namentlich nicht gezeichneten Einleitung der Tod Friedrichs des Großen 1786 und der Einmarsch der Franzosen in Berlin 1806 genannt) offenbar nicht mehr vollständig erhalten. Die Jahrgänge 1795, 1800, 1804 (mit Ausnahme des 30. 12.) und 1806 kommen deshalb in der Darstellung überhaupt nicht vor, in den Jahren 1793, 1794, 1799, 1801, 1802 und 1805 klaffen Lücken bis zu sechs Monaten. Wirklich komplett mit den Aufgeboten aller Wochen sind lediglich die Jahre 1786, 1790 bis 1792 und 1803 überliefert, in den hier nicht erwähnten Jahrgängen fallen einzelne Wochen aus.
     So gesehen, kann die Publikation bisher schon bekannte Quellen nicht ersetzen, stellt aber eine wesentliche Ergänzung dar. Im Evangelischen Zentralarchiv (EZA; Berlin- Charlottenburg) sind zwar die Trauungen (dafür so gut wie keine Aufgebote!) der lutherischen und reformierten Zivilgemeinden jener Jahre ziemlich komplett in Kirchenbuchkopien erhalten (Ausnahme: Bethlehem, die Kirche der verschiedenen Konfessionen Böhmischer Kolonisten; hier könnten die überlieferten Aufgebote für manche Jahre heute z. T. die einzige noch vorhandene Quelle sein), liegen aber nicht gedruckt vor. Wer dort eine Trauung sucht, ohne die Kirche zu kennen, muß im Generalregister unter dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens vom Bräutigam Gemeinde für Gemeinde durchsuchen. Das kann bei manchen Namen sehr aufwendig sein. Bräute
sind zudem im dortigen Register in der Regel nicht vermerkt.
     Hess schafft dagegen die Möglichkeit, über ihre Namensverzeichnisse die Gemeinde zu finden, wo aufgeboten, vermutlich auch getraut wurde (das muß allerdings wieder im EZA überprüft werden). Ein zweiter Vorteil: Auch weibliche Linien können in der Forschung weiter verfolgt werden, was im EZA über Register nicht möglich ist. Analog gilt dies auch für die katholische St.-Hedwigs- Gemeinde sowie für die Militärkirchenbücher, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin- Dahlem) einsehbar sind.
     Zum Vorteil gereicht der Publikation auch, daß in der Einleitung aus zeitgenössischen Quellen zitiert wird, welche komplizierten Regularien vor einer Trauung zu beachten waren, wie unterschiedlich mit dem Aufgebot umgegangen wurde, auch wie bedeutsam es für eine nachrichtenlos verlassene Ehefrau war, ein Scheidungsurteil in die Hand zu bekommen. Einige heute nicht mehr geläufige lateinische Begriffe (z. B. Jura Stolä, Citationes Edictales, in contumaciam) hätten jedoch einer kurzen Erklärung bedurft.
     Hess weist mehrfach darauf hin, daß sie ihre Materialsammlung gleichfalls als Hilfsmittel für sozialwissenschaftliche Forschungen versteht. Sie nennt Begriffe wie »Alltagskultur der Stadt«, »Wirtschaftsgemeinschaft als Überlebensstrategie ... auch im Zeitalter der Romantik«, »Einblick in die Familienverhältnisse«, »Hinweise auf eine liberale Scheidungspraxis«, »Heiratspolitik innerhalb der Familien«, »Einblick in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stadt und deren Entwicklung«, »Zuwanderung«, »internationales Flair« (Meldungen der Französischen Kirche sind tatsächlich in Französisch wiedergegeben; die Böhmische Kirche berichtete aber offenbar auf Deutsch, obwohl ihre Kirchenbücher teilweise noch in Tschechisch geführt wurden). Das ist alles richtig, dieses Buch kann aber auch dafür nur ein Mosaik-
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stein sein, da die Kirchenbücher in bezug auf das soziale Geflecht wiederum mehr hergeben. (Genannt werden in ihnen nicht wie hier meist nur Beruf und Wohnort des Bräutigams sowie der Familienstand der Braut, sondern in der Regel auch die Tätigkeit der Väter beider Partner und deren Wohnorte.) Zum Thema »Zuwanderung« hätten mit einem Ortsregister Punkte gutgemacht werden können. Sein Fehlen schmerzt.
     Leider fallen auch andere editorische Schwächen auf: Die Namenregister wurden jahrgangsweise angeordnet, was die Benutzerfreundlichkeit einschränkt. Wer nach einem Namen sucht, ohne das Jahr zu wissen – dies dürfte am häufigsten der Fall sein –, muß in 18 Registern nachschauen. Das Titelblatt zeigt vier Berliner Kirchen auf historischen Abbildungen, ohne daß irgendwo erläutert wird, um welche Gotteshäuser es sich handelt.
     Zwei davon sind heute nicht mehr vorhanden und dürften nur noch den wenigsten bekannt sein.
     Auch hätte dem Buch eine kurze Auflistung der damals bestehenden und bei den Aufgeboten immer wieder genannten Kirchen gutgetan – mit späteren Bezeichnungen und Nennung des Standorts, wenn sie heute nicht mehr existieren. (Beispiel: Cöllnische Vorstadts- Kirche; bis 1785 und 1795–1802 Sebastians- Kirche; 1802/10 und ab 1837 Luisenstadt- Kirche; 1810/37 Luisen- Kirche; Alte Jacob Ecke Sebastianstraße; Februar 1945 zerstört; 1964 Abriß der Ruine) Eine Beschäftigung mit dem Thema hätte vor der Peinlichkeit bewahrt zu behaupten, es seien damals »fortlaufend neue Gemeinden« entstanden. Gerade das war in jenen 20 Jahren nicht der Fall, lediglich die eine hier erwähnte Kirche wurde mehrfach umbenannt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß auf Seite 507 eine ungewöhnliche Fehlerhäufung übersehen wurde (u. a. erscheinen die Vornamen Friederike und Friedrich alphabetisch unter den Familiennamen, die betroffenen Personen sind nicht mehr auffindbar, da sie an den richtigen Stellen fehlen).
Trotz aller kritischen Hinweise sei nochmals betont: Es wurde eine bemerkenswerte Publikation vorgelegt, die zumindest das Herz des Familienforschers höher schlagen läßt. Er muß die ausgewertete Quelle nicht mehr Seite für Seite durchsuchen. Das »Neue Berliner Intelligenz- Blatt« ist aber auch vor 1786 schon erschienen (in Berlin mit Vorläufern ab 1727 nachweisbar). Zudem ist bekannt, daß bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts hinein in der Reichshauptstadt Aufgebote veröffentlicht wurden. So wäre zu wünschen, daß dem vorliegenden Band bald weitere folgen mögen. Für die Zeit nach 1874, als in Deutschland Standesämter eingeführt wurden, dürfte sogar eine weitere Interessengruppe bestehen – die Zunft der Erbenermittler. Deren Forschungen gehen oft – und das häufig mühsam – genau bis in jene Jahrzehnte zurück.
     Norbert Stein
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© Edition Luisenstadt, 1998
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