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Hertz (1891–1975) sowie die Botanikerin Elisabeth Schiemann (1881–1972). Fast 30 Prozent aller Habilitationen von Frauen an deutschen Universitäten zwischen 1918/1919 und 1932 wurden in Berlin abgeschlossen. In der Weimarer Republik gab es allerdings nur zwei Privatdozentinnen für Mathematik: Emmy Noether in Göttingen (1919) und Hilda Pollaczek- Geiringer für angewandte Mathematik in Berlin.
     Hilda Pollaczek- Geiringer war bei den Studenten sehr beliebt. Im Gutachten zur Habilitation hob ihr Institutsdirektor und Kollege Richard von Mises (1883–1953) ihr »ausgesprochenes Lehrtalent« hervor und bescheinigte ihr, »sich damit in der Studentenschaft eine geachtete Stellung erworben« zu haben.1) Mehrere Frauen, die in jenen Jahren promovierten, nannten Hilda Pollaczek ihre akademische Lehrerin.
     Als Hilda Pollaczek- Geiringer 1927 Privatdozentin wurde, hatte sie schon sieben Jahre an der Universität gearbeitet.2) Der für die Eröffnung des Habilitationsverfahrens 1925 verfaßte Lebenslauf skizziert ihren wissenschaftlichen Werdegang.3) Sie wurde am 28. September 1893 in Wien in der Familie des Kaufmanns Ludwig Geiringer geboren. Im Frühjahr 1913 bestand sie in Wien am »Gymnasium des Vereins für erweiterte Frauenbildung« das Abitur mit Auszeichnung. Im Herbst desselben Jahres begann sie an der Wiener Universität
Annette Vogt
Erste Privatdozentin für angewandte Mathematik in Berlin

Hilda Pollaczek- Geiringer lehrte später in Istanbul und Norton/ Massachusetts

Im November 1927 wurde Hilda Pollaczek- Geiringer (1893–1973) die erste Privatdozentin für angewandte Mathematik in Deutschland. Sie lehrte an der Philosophischen Fakultät der Friedrich- Wilhelms- Universität, zu der bis 1936 die Mathematik und die Naturwissenschaften gehörten.
     Nach der Novemberrevolution wurden einige Gesetze geändert, so auch das Beamtengesetz. Endlich erhielten auch Frauen das Habilitationsrecht an deutschen Universitäten. An der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität nutzten zwischen 1919 und 1932 insgesamt 12 Frauen diese Chance. Neben Hilda Pollaczek- Geiringer waren das sieben Naturwissenschaftlerinnen: die Zoologinnen Paula Hertwig (1889–1983) und Rhoda Erdmann (1870–1935), die Physikerin Lise Meitner (1878–1968), die Chemikerin Gertrud Kornfeld (1891–1955), die Geographin Lotte Möller (1893–1973), die Zoologin Mathilde

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ihr Studium der Mathematik und Physik, das sie nach vier Jahren, im Herbst 1917, mit einer Dissertation »Ueber trigonometrische Doppelreihen« abschloß. Bei ihrer Suche nach einer angemessenen Stellung in der Wissenschaft kam sie im Winter 1918/1919 das erste Mal nach Berlin. Sie fand eine Anstellung als wissenschaftliche Assistentin im Herausgebergremium des »Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik«, das zwischen 1919 und 1927 der Mathematiker Leon Lichtenstein (1878–1933) leitete. Schon im nächsten Winter kehrte sie nach Wien zurück und unterrichtete Mathematik und Physik an einer Spezialschule für Flüchtlingskinder. Außerdem gab sie Stunden an der Volkshochschule. Ihre Erfahrungen und ihre Ideen für den Mathematik- und Physikunterricht beschrieb sie später in einem Buch.
     Inzwischen war an der Berliner Universität das Institut für angewandte Mathematik unter der Leitung des bekannten österreichischen Mathematikers und Physikers Richard Edler von Mises gegründet worden. Hier erhielt Hilda Geiringer am 1. April 1921 eine Assistentenstelle, eine außerordentlich gute Position für eine Frau in jenen Jahren. Sie führte Seminarveranstaltungen durch und betreute die Studenten in den Praktika. 1922 erschien ihr Buch »Die Gedankenwelt der Mathematik«, das sie ihrer Mutter widmete.4) Im Januar 1922 heiratete sie den Mathematiker Felix Pollaczek (1892–1981),
Hilda Pollaczek-Geiringer
und im selben Jahr wurde in Berlin Tochter Magda geboren. Hilda Pollaczek- Geiringer war die einzige Privatdozentin in Berlin, die verheiratet war und ein Kind hatte.
     Von 1923 bis 1933 publizierte sie unter dem Namen Pollaczek- Geiringer. Aber sie hatte kein Glück in der Ehe, bereits 1925 trennten sich beide, Tochter Magda blieb bei der Mutter.
     Im Juli 1925 beendete sie ihre Habilitationsschrift »Ueber starre Gliederungen von
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Fachwerken« und bat die Philosophische Fakultät, das Habilitationsverfahren zu eröffnen. Richard von Mises, Ludwig Bieberbach (1886–1982) und der Algebraiker Issai Schur (1875–1941) verfaßten die Gutachten. Das Votum von v. Mises war positiv, das von Bieberbach negativ, und Schur meinte, die Kandidatin möge die Schrift überarbeiten, insbesondere die Beweisführung. Ein Jahr später, am 29. Juni 1927, gab Erhard Schmidt (1876–1959) ein weiteres Gutachten ab.5) Nach einem mehr als zweijährigen Tauziehen um ihre Dozentur gaben die Professoren der Philosophischen Fakultät schließlich ihr Einverständnis, unter den Befürwortern war auch der Physiker Max Planck (1858–1947).6)
     Die Publikationen, die Hilda Pollaczek- Geiringer in den 20er Jahren veröffentlichte, behandelten nicht nur Fragen der angewandten Mathematik. Sie verfaßte Arbeiten zur Geometrie (1918 in »Die Naturwissenschaften«) und zur Theorie der Differentialgleichungen (1922 in »Mathematische Zeitschrift« und 1923 in »Mathematische Annalen«). Mitte der 20er Jahre veröffentlichte sie erste Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit Richard v. Mises publizierte sie 1929 den Artikel »Praktische Verfahren der Gleichungsauflösung«, der in der von v. Mises herausgegebenen »Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik« erschien. Sie veröffentlichte 1927/1928 Teile ihrer Habilitationsschrift
und wandte sich dann Problemen der Korrelationsmodelle zu (1932–1934). Seit den 30er Jahren publizierte sie zu speziellen Aspekten der Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematischen Statistik, darunter »Zur Verwendung der mehrdimensionalen Normalverteilung in der Statistik« (1936), »A generalization of the law of large numbers« (1940), »On the probability theory of linkage in Mendelian heredity« (1944). Auch ihre Arbeiten in den 50er Jahren behandelten diese Themenkomplexe.
     Am 25. Juli 1927 hielt sie ihren Probevortrag »Die Grenzwertsätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung« und erhielt die »venia legendi für angewandte Mathematik«, die Erlaubnis, zu lehren. Am 11. November 1927 hielt sie ihre erste Vorlesung an der Universität. Sie publizierte, hielt Vorlesungen und Seminare, aber über ihr Privatleben ist kaum etwas bekannt.
     Am 30. Januar 1933 marschierten die Nazis durch Berlin, am 7. April 1933 erließen sie das sogenannte »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. Daraufhin verlor Hilda Pollaczek- Geiringer ihre Stelle an der Universität. Allein sechs der zehn Privatdozentinnen an der Philosophischen Fakultät wurden 1933 vertrieben. Sie ging zunächst nach Brüssel ans Institut für Mechanik. Ihr ehemaliger Direktor Richard von Mises hatte im Herbst 1933 in Istanbul eine Professur angetreten und war Direktor des Instituts für reine und angewandte
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Mathematik geworden. 1934 folgte ihm Hilda Pollaczek- Geiringer nach Istanbul, wo sie ebenfalls eine Anstellung erhielt. Anfangs hielt sie ihre Vorlesungen in Französisch, später in Türkisch. Beide blieben bis 1939 in Istanbul, danach emigrierten sie in die USA. Im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb wurde es für Hilda Pollaczek- Geiringer besonders schwer, eine gute Stelle zu finden. Während v. Mises eine Professur in Cambridge/Mass. erhielt, unterrichtete sie am Bryn Mawr College. Am 5. November 1944 heiratete sie Richard von Mises und bekam eine Mathematikprofessur am Wheaton College in Norton/Mass., das in der Nähe von Cambridge lag. Sie lernte Englisch, lehrte und publizierte und wurde 1945 USA- Staatsbürgerin. Über ihre Schwierigkeiten, in den USA zu arbeiten und heimisch zu werden, schrieb sie später, daß sie noch einmal eine Fremdsprache lernen mußte, in der sie sich aber nie zu Hause fühlte.
     Nach ihrer Pensionierung 1959 publizierte Hilda von Mises viele Schriften aus dem Nachlaß ihres bereits 1953 verstorbenen Mannes. Sie starb am 22. März 1973. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Phalanx der Männer eindringen und eine Wissenschaftlerlaufbahn einschlagen konnten, deren Leben und Werk aber danach vergessen wurde und bis heute nahezu unbekannt geblieben ist.
Warum wurde das Fach Mathematik damals von so wenigen Frauen gewählt, obwohl Ende des 19. Jahrhunderts die Mathematiker zu den Befürwortern des Frauenstudiums gehörten? Der Mathematiker Georg Weyer (1818–1896) nannte historische Beispiele von 21 Mathematikerinnen, um zu zeigen, daß Frauen in diesem Fach durchaus etwas leisten können. In seiner Aufzählung bildete die russische Mathematikerin Sofija Kovalevskaja den krönenden Abschluß.
     Sie war die erste ordentliche Professorin (1884 bzw. 1889) für das Fach Mathematik an der Universität Stockholm, sie wurde 1889 als erste Frau zum Korrespondierenden Mitglied einer Akademie, der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, gewählt. Sie blieb für Jahrzehnte das Vorbild der Mathematikerin schlechthin.
     Über 20 Jahre nach Kovalevskajas Tod gab es in Deutschland immer noch keine Mathematikerinnen an den Universitäten. Aber es bestanden immerhin bessere Berufsmöglichkeiten. Eugenie von Soden gab 1913 »Das Frauenbuch. Frauenberufe und -Ausbildungsstätten« heraus.7) Hier wurden die verschiedensten – 1913 existierenden – Berufe für Frauen vorgestellt: Lehrerin, Ärztin, staatliche, städtische und gemeinnützige Berufe, technische, kaufmännische und gewerbliche sowie die freien Berufe. Außerdem wurden neue Berufe für Naturwissenschaftlerinnen vorgestellt. Die Zoologin Rhoda Erdmann (1870–1935) beschrieb
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das Mathematik- und Physikstudium.8) Nach ihrer Darstellung bestanden 1913 sehr gute Berufschancen für Oberlehrerinnen, für Lehrerinnen an Fach- oder technischen Mittelschulen. Neue Berufschancen gab es im Versicherungswesen, während die Aussichten für eine Universitäts- Anstellung als schlecht eingeschätzt wurden.
     Entsprechend sah es auch an den Universitäten aus. Zwischen 1899 und 1922 gab es in Berlin überhaupt keine Promotion im Fach Mathematik. Zwischen 1922 und 1933 promovierten vier Frauen, davon eine zur angewandten Mathematik, 1936 eine weitere Frau. Das war nicht nur sehr wenig im Vergleich zu anderen Promotionen von Frauen im gleichen Zeitraum, nämlich 158 in den Naturbzw. 321 in den Geisteswissenschaften.9) Es war auch eine sehr kleine Gruppe innerhalb der in der Mathematik in Berlin in diesem Zeitraum angefertigten Dissertationen.10) Die Mathematikerinnen bildeten eine Minderheit innerhalb der Minderheit promovierender Frauen an der Berliner Universität. Zwischen 1936 und 1945 promovierten vier Frauen zu einem mathematischen Thema. Bessere Bedingungen für eine wissenschaftliche Tätigkeit bzw. eine Berufstätigkeit von Frauen überhaupt existierten ab Herbst 1939. Wie schon im Ersten Weltkrieg, so konnten bzw. »durften« auch im Zweiten Weltkrieg die Frauen zurück auf den Arbeitsmarkt, in die Laboratorien und die In-
stitute, um die Plätze der Männer einzunehmen.
     Die Technische Hochschule (TH) Berlin- Charlottenburg hatte erst 1924 das Recht erhalten, den Doktorgrad in den »allgemeinen Wissenschaften«, darunter in der Mathematik, zu verleihen. Von 1924 bis 1945 promovierten im Fach Mathematik nur zwei Frauen (1928 und 1942). Selbst von 1928 bis 1987 promovierten nur insgesamt elf Frauen an der TH bzw. der Technischen Universität. Die erste Habilitation einer Frau an der Berliner TH bzw. TU erfolgte 1987, Christine Keitel- Kreidt habilitierte sich für »Didaktik der Mathematik«.11) An der Berliner Universität, seit 1948 Humboldt- Universität, war es nicht besser. Hier erfolgte die Habilitation der ersten Frau in Mathematik 1984, Brigitte Frank habilitierte sich auf dem Gebiet Schulmathematik. Immerhin folgten ihr 1985 vier weitere Frauen: Barbara Grabowski zur Mathematischen Statistik, Renate Grünewald zur Schulmathematik, Monika Kummer zur Mathematischen Optimierung und Barbara Wernsdorf zur Numerischen Mathematik, 1986 Marianne Grassmann zur Mathematik. Aber keine einzige der Frauen, die sich an der Humboldt- Universität oder an der TU habilitierten, war 1997 Mitglied der Deutschen Mathematiker- Vereinigung, der Berufsorganisation der Mathematiker in der Bundesrepublik.
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Quellen:
1     Archiv Humboldt- Universität, Philosophische Fakultät, Acta 1242, Blatt 257
2     Zur Biographie von Hilda Pollaczek- Geiringer: Joan L. Richards, Hilda Geiringer von Mises (1893–1973), in: Louise S. Grinstein, Paul J. Campbell (Ed.), Women of Mathematics. A Biobibliographic Sourcebook, Westport, Connecticut, London. Greenwood Press, 1987, page 41–46; Christa Binder, Hilda Geiringer: ihre ersten Jahre in Amerika, in: Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. Sergej S. Demidov, Menso Folkerts, David E. Rowe, Christoph J. Scriba, Basel/Boston/Berlin, Birkhäuser- Verlag, 1992, S. 27–35; Annette Vogt, Hilda Pollaczek- Geiringer (1893–1973) – erste Privatdozentin für Mathematik an der Berliner Universität, in: VITA ACTIVA in: »Dialektik«, Heft 3/1994, S. 157–162; Reinhard Siegmund- Schultze, Hilda Geiringer- von Mises, in: Historia mathematica, 20 (1993), page 364–381
3     Archiv Humboldt- Universität, a. a. O., Blatt 239/240
4     Die Gedankenwelt der Mathematik. Von Dr. Hilda Geiringer, Verlag der Arbeitsgemeinschaft, Berlin und Frankfurt a. Main, 1922, Widmung: »Meiner lieben Mutter«
5     Archiv Humboldt- Universität, a. a. O., Blätter 238, 247R, 249
6     Ebenda, Blatt 272
7     Eugenie von Soden (Hrsg.), Das Frauenbuch. Frauenberufe und -Ausbildungsstätten, Stuttgart, 1913
8     Rhoda Erdmann, Die Mathematikerin und die
Physikerin, in: von Soden (1913), S. 106–108
9     Annette Vogt, Findbuch, Berlin 1997, Preprint Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte, Heft 57/1997
10     Kurt-R. Biermann, Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität. 1810–1933, Berlin 1988
11     Eberhard Knobloch, Mathematik an der Technischen Hochschule und der Technischen Universität Berlin. 1770–1988, Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte, Dr. Michael Engel, Berlin 1998, Seite 93
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