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Mode, Handarbeit und Lebensmittel ihr Leben ausgefüllt haben, blieb Marie Hegels Horizont nicht auf die Familie beschränkt. Sie war ebenso wie ihr Gatte gesellig, liebte die Gesellschaft jüngerer Leute, sie ging gern ins Konzert oder auf Bälle. So war sie bald ins Berliner Gesellschaftsleben integriert. Eine besondere Freundschaft verband sie mit Charlotte Stieglitz, der Gattin eines heute vergessenen Dichters, die 1834 aus dem Leben schied. Marie Hegel konnte auch mit ihrem Status und mit ihrer sozialen Lage zufrieden sein. Hegel wurde immer berühmter, was sie natürlich stolz registrierte. Auch finanziell ging es ihr gut. So konnte Familie Hegel sich zu der großen Wohnung am Kupfergraben ab 1830 noch eine Sommerwohnung mieten, das sogenannte Schlößchen, das an einer Stelle beim Kreuzberg stand, wo heute die Monumentenstraße verläuft. Es handelte sich um die oberste Etage eines Sommerhauses, das sich auf dem Gelände eines Bauern bzw. Gärtners Grunow befand.
     In dem Brief beschreibt Marie Hegel die Rückkehr aus dem Sommerhaus, in das sich die Familie zurückgezogen hatte, als die Cholera im Sommer 1831 in Berlin ausbrach. Sie war eine bislang in Europa unbekannte Seuche. Die »asiatische Hydra«, wie sie auch genannt wurde, forderte offiziellen Angaben zufolge von September 1831 bis Februar 1832 in Berlin 1 426 Tote.
     Marie Hegel schildert ihren süddeutschen Verwandten die zwecklosen Vorkehrungen,
Olaf Briese
Marie Hegel und die Cholera in Berlin

Unveröffentlichte Briefe, kurz vor und nach dem Tode Hegels geschrieben

Am 14. November 1831 starb der Philosoph Georg Friedrich Hegel in Berlin an der Cholera. Zwei bisher unveröffentlichte Briefe seiner Frau Marie (1791–1855), kurz vor und nach Hegels Tod an ihre Mutter geschrieben, geben Einblick in die damalige Situation.
     Marie Hegel entstammte einer Nürnberger Patrizierfamilie, die 1815 in den Freiherrnstand erhoben wurde. Hegel war, bevor er seine Heidelberger und schließlich seine Berliner Professur antrat, Schulrektor in Nürnberg. Nachdem er ein gesichertes Einkommen hatte, war er offenbar auf Brautschau gegangen, und seine Wahl fiel 1811 auf eine muntere, beherzte Frau, die über zwanzig Jahre jünger war. Sie bekamen bald zwei Söhne, die ihnen Freude machten. Allenfalls trübte die Sorge um einen vorehelichen Sohn Hegels die Eintracht. Er wurde in den Familienkreis aufgenommen, ohne daß er integriert werden konnte oder sollte. Als er mündig war, verließ er die Hegels und versuchte sein Glück als Fremdenlegionär.
     Obwohl den Briefen an ihre Mutter zufolge

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die gegen die Cholera getroffen wurden.
     Daß bakterielle Erreger die Seuche vorrangig auf dem Wasserweg übertragen, war damals noch nicht bekannt. In Preußen, wo die Medizinalangelegenheiten von Militärmedizinern diktiert wurden, versuchte man, durch strikte militärische Grenzsperrungen (Cordons) und durch Quarantäne- Maßnahmen die »Einschleppung« zu verhindern.
     Die Sperren an den Landesgrenzen und später auch innerhalb des Landes fügten dem Handel schweren Schaden zu. Darüber hinaus wurde empfohlen, sich nur auf bestimmte Lebensmittel zu beschränken, was nochmals die Preise in die Höhe trieb. Wie viele ihrer Mitbürger glaubte Marie Hegel übrigens, daß allein eine gesunde Ernährung, eine sogenannte Diät, vor der Ansteckung schützen würde.
     Schließlich beklagt sie mit Recht die mangelnden Vorkehrungen in Berlin. Der erwähnte Johann Nepomuk Rust war Hausarzt der Hegels und Präsident des Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten. Als solcher war er verantwortlich dafür, daß Preußen anfangs nur Grenzsperren errichten ließ. Zwar wurden vorher einige Ärzte zur Inspektion nach Rußland gesandt, aber deren Kritik an diesen Absperrungen und deren Hinweise auf andere Übertragungswege und Verhütungsmittel wurden von Rust diktatorisch weggewischt. So wurde an medizinische Hilfseinrichtungen und soziale Sondermaßnahmen viel zu spät gedacht.
Marie Hegel an Susanne von Tucher

Berlin, d. 6t Nov. 1831

Ich habe wieder ein recht böses Gewissen wenn ich bedenke, daß ich diesmahl selbst den verlängerten Termin von 14 Tagen übergangen u. Dir nicht zu der Zeit, zu der Du billig einen Brief von mir erwarten konntest, geschrieben habe – wir sind aber geradhe um diese Zeit in die Stadt gezogen u. diese Woche ist mir unter Räumen u. Wirtschaften u. Visiten machen wie eine Wäsche [?] vergangen, ich weiß selbst nicht wie geschwind – ich hoffe, Du hast Dir das alles ohngefähr gedacht u. hast Dich über Dein ungerathenes Kind u. über ihr unartiges Schweigen nicht beunruhigt. Es geht uns allen Gottlob recht wohl, wir genießen alle die guten Folgen unseres gesunden Landaufenthalts in unserer, ich will nicht eben sagen, stillen – doch geregelten Lebensweise – Spazieren gehen, zeitig Schlafen gehen, kein Gehetz. Das alles hat mir besonders wohl gethan u. soll auch so viel wie möglich ferner so gehalten werden. Hegel rühmt vor allem die schöne reine gesunde Luft dort außen u. meinte in den ersten Tagen in der Stadt, es sey ihm wie einem Fisch, den man von seinem Quellwasser in Faulwasser versetze – inzwischen [meint er], wir befinden uns doch so wohl wie ein Fisch im gesunden Wasser. Es ist uns in unseren schönen u. eleganten Zimmern bei größerer Ordnung u. Bequemlichkeit wie-

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der recht behaglich. Ich betrachte meine schönen Bilder u. meine schönen sieben Sachen, die ich inzwischen entbehrt habe mit erneuter Freude u. räumte mit wahrer Lust meine Vorräthe u. Habseligkeiten in meine Speisekammern, Schränke u. Komoden ein u. freue mich wie ein Kind über die größere Ordnung u. Räumlichkeit. – So ist der Mensch – Veränderung will er haben, u. was er eine Zeitlang entbehrt hat, wird ihm doppelt lieb. – Wir haben es mit dem Wetter recht glücklich getroffen, bis zum Tage wo wir herein gezogen sind, war es unvergleichlich schön. – Diese Woche ist es nun schon rauh u. herbstlich naßkalt. – Ob wohl unsere Herzliebste nun auf dem Weg nach Prag oder schon in Graz ist! oder ob sie nach der betrübenden Nachricht, daß in Brünn die Cholera ist, ihre Reise nach Böhmen aufgegeben hat? – Täglich denke ich so oft u. vielmahls an sie u. Dich u. wünsche, bliebe sie doch in Nürnberg! Was zusammengehört, muß in Zeiten gemeinsamer Noth nicht getrennt seyn, wie wär es beruhigender, wüßte ich sie bei Dir u. Dich mit ihr. – Ich begreife auch, wie schwer Dir geradhe jetzt der Abschied von ihr werden mußte. – Ist sie abgereist, dann muß ich mirs zurecht legen u. von geschehenen Dingen das beste reden oder vielmehr denken – aber ich hoffe sie ist geblieben u. sehne mich herzlich danach es bestätigt zu hören u. von der schweigsamen Geliebten selbst ein Wort zu hören. Ihr habt doch alle meine Briefe erhalten. Ich sandte sie mit verschiedenen Gelegenheiten nach der Stadt. Bei Deiner Ankunft in Nürnberg mußt Du einen Brief an Dusika u. einen 10 Tage späteren an dich vorgefunden haben (letzteren von 10 oder 12 Oct.). – Wie freut es mich, daß Du mit unserer Herzliebsten noch einmahl in Simmelsdorf warst u. daß Euer Aufenthalt dort durch so schönes Wetter begünstigt wurde. – Was schreibt denn unsere gute Tante Lissi aus Brünn über die Cholera? ist das Uebel noch nicht bei ihr u. hat sie ihr Wochenbett glücklich überstanden u. sind ihre Kinder gesund? Jetzt hat sie gedoppelte Cholera- Sorgen, ein gutes Mütterchen. – Wärst Du mit uns mitten darin, Du wärst gewiß ruhiger; man denkt es sich in der Ferne weit furchtbarer, nimmt es weit ängstlicher; uns ist es wenigstens so gegangen u. Du glaubst nicht wie ruhig die ängstlichsten Gemüther geworden sind, man sieht ja es trifft keinen als den, der arge Diätfehler zu Schulden kommen läßt u. von denen kann man sich ja hüten. Ich glaube aber auch man hütet sich aus Furcht vor der Cholera hier in Berlin ganz besonders ängstlich – es geht so weit, daß das, was als der Gesundheit nachtheilig verbothen wurde, als zum Beispiel Obst, Kohlarten, Salat pp., beinahe gar nicht gekauft werden – Worüber die Gärtner- Leute ganz jammern, den schönsten Kopfsalat brachte unsere Gärtnerin (Madame Grunow u. Mademoiselle Grunow) wieder nachhause ohne für einen Groschen davon verkauft zu haben, sie fütterten die Gänse u. Teiche damit. Die schönsten Melonen werden für gewöhnlich zu 1/2 gr. feilgeboten u.
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selbst dadurch nicht verkauft – aber so alles andere Obst – die Menge Birnen, die sonst 10 – 12 gr. kostet, kostet jetzt 4. – Dieser allgemeinen streng beobachteten Diät haben wir es gewiß zu danken, daß verhältnißmäßig hier so Wenige aus höhern u. mittleren Ständen erkranken – man könnte beinah sagen, bisher verschont geblieben sind, die wenigen Ausnahmen von denen ich Dir erzählte, abgerechnet, denen man freilich die größten Diätfehler nachweisen könnte. Rust sagte neulich in einem Artikel über die Cholera, die Furcht vor der Cholera hätte noch keinem geschadet, vielmehr geholfen, denn die Furcht die die höheren Stände dafür haben macht, daß sie sich dieses vernünfthige Diätdasein bewahren. Sonderbar ist es, daß man fast durchgängig Klagen hört über Schwäche des Magens, Neigung zur Diarroe, Anwandlung von Ängstlichkeiten, Krampf in den Waden. Richtig, daß bei den meisten Menschen das kleinste Versehen gegen die Diät solche Beschwerden herbeiführdt – man wird dadurch immer daran gemahnt, u. von der Nothwendigkeit, eine strenge Diät zu halten u. alle Erkaltung zu vermeiden, überzeugt. Auch wir hatten diese allgemeinen Magenbeschwerden u. zwar in sehr geringem Grad an uns verspürt u. an uns selbst bemerkt, daß unser Magen jetzt andere [Bewegungen] macht als sonst. Seit ich uns das leicht verdauliche auftische u. alles verbothene weglasse, ist es gut. Aber welche Noth hat jetzt die Hausfrau mit dem Küchenzettel – so wenig Auswahl u. alles so theuer – – Ich dank es Dir recht schön wenn Du mir Pflaumen von Rentweinsdorf mitschickst. Möchte Dich wohl auch wenn es kaltes trocknes Wetter ist ein mahl uns 1 dug Bratwürste, die Hälfte frisch u. die Hälfte geräuchert u. 2 dug Räucherwürste per Postwagen mir zu schicken bitten: Jetzt wo es so wenig kostet kann man sich wohl mit Nürnberger Würsten manchmahl was zu Gute thun. Ich möchte auch meinen Körners u. Hermstädts, bei denen ich alle sechs Wochen meine Wäsche trockne, etwas davon mittheilen. Nun aber mache mir auch meine Rechnung herzliebste Mama, Du bist in starker Auslage für mich – soll ich Dir vielleicht statt dem Gelde [unleserlich] oder sonst was von Berlin schicken, so befiehl! – Was Du mir von den Anstalten der Nürnberger schreibst – was dort alles gethan wird im Einzelnen u. Allgemeinen die Gefahr durch vernünftige Vorkehrungen zu mindern u. der Noth abzuhelfen – hat mein gutes Nürnberger Herz mit Stolz u. Freude erfüllt – ich erzähle es auch überall – u. sage »ja so muß man sorgen« – wollte Gott es wäre bei uns nur die Hälfte von dem allen geschehen. Es gereicht unserer Comision, unserem Ministerium der Medizinalangelegenheiten u. Herrn Präsidenten Rust a la tete, unserem Magistrat u. jenen Ärzten zur ewigen Schande – daß bei so reichlichen Mitteln so wenig gethan wurde. – Ich sollte als gute Berlinerin gegen meine Leutchen außerhalb ganz still davon seyn, u. es nicht weiter erzählen – aber ich kann den Ingrim darüber nicht bergen – es ist gar
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zu arg. Von vorn herein war angenommen, u. von den Herrn mit Ordensbändern am grünen Tisch behauptet, »der Cordon hält uns die Cholera ab – wozu den unnützen Kosten- Aufwand, wozu Spitale, wozu Ärzte hinschicken u. der Unannehmlichkeit u. Gefahr preisgeben, wozu brauchen wir die Cholera kennen zu lernen – wir bewachen die Gränzen u. sie kommt nicht hierher«. Dabei wurde aber vergessen, den Finow- Kanal zu schließen – später mußten die Schiffe Quarantaine halten, aber die Schiffer durften nach der Stadt. – Wollte ich Dir ein Gemählde machen von all der Inconsequenz diesen Mißgriffen diesen halben Maaßregeln, diesem Zwiespalt der Meinungen u. Ansichten – man weiß selbst nicht, was man glauben u. davon denken soll (O menschliche Weisheit!) – Noch ist man über den Hauptpunkt nicht einig – ist sie ansteckend oder nicht ansteckend. Die Briefe werden auf der Stadtpost noch durchstochen, die Zeitungen desinficiert – die Bürgerschaft u. Magistrat machte eine Vorstellung wegen der Aufhebung aller Sperren, weil die allgemeine Überzeugung, sie ist nicht ansteckend, alle polizeilichen Sperren für eine unnöthige u. unnütze Maßregel erklärt – diese unglückselige Maßregel der Absperrung wurde noch zeitig genug bei uns nach 20 Tagen auf 5 herabgesetzt, aber die Armen in Danzig u. Königsberg haben unendlich dadurch gelitten – ihr Elend ist durch eine Maaßregel, die nun für zwecklos u. falsch angesehen wird, auf das grausamste vermehrt worden. Wir wollen nun sehen, ob das südliche Deutschland, ob Frankreich klüger ist als wir – ob sie unsere Erfahrungen sich zu nutze machen oder ob sie dieselbe Rabenkur anfangen. Ich freue mich in das Herz der Tante, wie verständig die Anordnungen sind, die sie in Wien machen.
     Nun sind wir doch Gottlob nachdem wir 10 Wochen die Cholera haben die nun Gottlob sichtbar im Abnehmen ist, so weit, daß wir für unsere redlichen Beiträge Krankenhäuser errichtet haben. Soeben erhalte ich ein Circular von unserer Schutz- Comission, der Ausbau einer Heilanstalt für unseren Bezirk sey nun beendigt u. stünde bis Sontag, d. 6. zur Ansicht aller geehrten Bewohner offen.
Die vielen Spenden die durch wohltätige Beiträge zusammen gekommen sind, sind nun nachdem die Noth beinah zu Ende ist, auf solche ungeschickte saumselige Weise verwendet worden – jetzt nutzt es nur noch wenigen. – 10 Wochen früher hätten solche Vorkehrungen vielleicht vielen Hundert das Leben gerettet. – Für Bekleidung der Armen wird nun zwar auch gesorgt, – die meisten Frauen stricken blaue wollene Strümpfe – es meinte sogar neulich eine reiche Jüdin es könne unmöglich so viele Arme geben als Strümpfe gestrickt werden – aber dieß alles hätte eben schon viel früher geschehen müssen. – Die Berliner sind wohlthätig es ist wahr u. geschieht unendlich viel – würden diese reichen Mittel nur auf die rechte Weise verwendet. – Nun hab ich genug gescholten. – Förster kommt eben zu meinem Mann, der heute an einem regnigten
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Sontag Nachmittag im warmen Stübchen bei mir auf dem Sopha sitzt, während ich an mein Mütterchen schreibe. Er kündigt uns den Besuch von Frori[e]p aus Weimar, der eine nette Schwäbin aus Tübingen zur Frau hat, an. Er ist Mediciner u. habilitiert sich in Berlin. – Nun muß mein Brief noch geschwind vorher zur Post. Leb wohl, liebes liebes Mutterherz. Grüße mir alle Geschwister u. meine Duschka, wenn sie noch bei Dir ist, viel tausend mahl. Was macht mein Wilhelm, schreib mir doch was von seinen Herzensangelegenheiten. Hegel wird sich von Schwager Schwarz nächstens Tabak ausbitten. – Die arme Speier! – ich möchte Speier helfen [?]. Grüße mir Luisa, wo könnte er eine bessere Mutter für seine Kinder finden. Grüße mir meine gute Gottliebine. Nun adieu.

Liebe Liebe!
Deine Marie

Acht Tage nach diesem hoffnungsvollen Brief starb Hegel. Über die Todesursache wurde damals viel spekuliert. War es wirklich die Cholera oder nicht doch ein altes Magenleiden? Mindestens vier Gründe führten für Marie, für die gerufenen Ärzte und für die Nahestehenden dazu, einen Cholera- Tod zu bezweifeln. Erstens war der »schöne« Tod eines großen Philosophen fest in der kulturellen Tradition verankert, und auf diese Weise sollte auch das Andenken an Hegel bewahrt werden. Zweitens war die

Georg Friedrich Hegel
Zeichnung: Wilhelm Hensel
Annahme verbreitet, daß eine vernünftige Ernährungsweise vor der Krankheit schützen kann. Hegel, der Prophet der Vernunft – selbst nur ein fehlbarer, unvernünftiger Mensch? Drittens wurden Cholera- Tote um ein »ehrliches« Begräbnis gebracht.
     Würdelos wurden sie anfangs in Massengräbern verscharrt, ohne Begleitung, ohne Kennzeichnung der Todesstätte. Wenn auch behauptet wird, daß in Preußen ein frömmelndes, pietistisches Regime galt – in
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dieser Frage zumindest waltete eine anonyme kalte Staatsmaschinerie, der nur an nackter Effizienz gelegen war und die um jeden Preis Gefahren vom »Volkskörper« abwenden wollte. Gerade wegen dieser würdelosen Behandlung kam es in den Ostteilen Preußens (aber auch in Habsburgischen Regionen) im Verlauf des Jahres 1831 zu Unruhen und Tumulten. Der erste eilig angelegte Berliner Cholera- Friedhof wurde erst auf öffentlichen Druck von offiziellen Vertretern der Protestanten, Katholiken und Juden geweiht. Dennoch blieb es bei einem anonymen Beerdigungsprozedere in einem Massengrab und ohne Begleitung. Deshalb versuchten viele Familien, Cholera- Fälle zu verheimlichen, oder, wie möglicherweise im Falle von Hegels Tod, andere Ursachen anzugeben. (Tatsächlich wurde er dann ja mit entsprechender Würde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.) Viertens schließlich war Hegels Gesundheit in seinen letzten Lebensjahren nicht die beste gewesen, und tatsächlich plagten ihn Magenleiden, die vielleicht auch die Ursache seines Todes gewesen sein könnten.
     Trotz nachdrücklicher Bitten der Mutter, mit den Enkeln nach Nürnberg zu kommen, entscheidet sich Marie Hegel, in Berlin zu bleiben.

Marie Hegel an Susanne von Tucher

Berlin, den 22. Nov. 1831
     Dienstag

[...] Hier unter seinen geistesverwandten Freunden, hier unter denen, in denen Er selbst, das geistige, ewige in ihm fortlebt, hier wo ich, wenn mich dürstet, mit dem Wasser seines Lebens getränkt werde – hier wo sein Name so verherrlicht ist, wie nirgends, nur hier bin ich zu Haus – die natürliche Heimat steht der geistigen nach. – Ihr mögt es Schwärmerei nennen – ach, Ihr wißt nicht – wie ruhig, erhaben u. wie beseeligt ich bin, von dem was mir geistig durch ihn geworden ist – sind es auch nur Nachklänge, ist es auch nur ein Glauben u. nicht ein Schauen, so ist es doch genug mir Ruhe u. Frieden zu geben u. mich zu erheben über alle gemeinen Thränen. Aber das arme Herz ist nicht immer gleich stark – ich muß von Ihm gehalten u. gehoben u. gescholten werden, das bin ich gewohnt, an seine Stelle treten nun seine Freunde – sie betrachten mich mehr als jemals als die ihrige, als die Seinige, u. ich betrachte sie als meine Vormünder, die aus dem großen geistigen Vermächtnis, was Er bei ihnen niedergelegt hat, mich von seinem Geiste fortnähren u. kräftigen u. erhalten. – Sie sind auch die Vormünder meiner Kinder – ach Du fühlst nicht wahr liebste Mutter, Du fühlst es, daß ich nur hier so stark seyn kann, wie ich jetzt bin. – Ich werde mit Euch wohl von ihm reden,

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Euch von Ihm erzählen, aber da ist keiner außer Gottlieb (der vielleicht auch nicht mehr ganz einer der Seinen ist, wenn er es sonst war) der mir von ihm etwas mittheilen u. erzählen kann. Ach wärst Du hier liebe Mutter u. sähest wie glücklich ich bin, wenn Dieser u. Jener kommt u. Jeder was mitbringt, jeder etwas herrliches Erhebendes von Ihm – u. das ist nicht etwa die erste Aufregung, der erste Schwung, nein es ist etwas Bleibendes. Seine Freunde verlassen mich nicht, sie haben ihre Freude an mir, daß Gott mir so viel Kraft gibt, meines Hegels nicht unwehrt zu seyn.
     Sie halten etwas auf mich u. freuen sich, daß ich doch noch ein wenig mehr bin, als ein gutes Kind. – [Weil], sie wissen es, daß ich mich auf sie stütze u. daß ich doch noch zu etwas nütze bin, thun sie als ob sie mich brauchten. – Wirklich habe ich jetzt alle Hände voll zu thun – Arbeit auf lange Zeit hinaus, die auch nicht verschoben werden darf. Hegels Papiere, Briefe, Manuscripte zu ordnen, Auszüge aus seinen Briefen an mich von seinen Reisen zu machen, die zu seiner Biographie (die den Anfang mit dem Erscheinen seiner sämtlichen Werke machen soll); seine verstreuten Schriften zu sammeln, hat Förster übernommen – ich soll ihm dabei zu Hand gehen – habe mich mit seinen entfernten Freunden Niethammer, mit der Paulus, mit allen, die Briefe von ihm haben, in Rapport zu setzen – muß davon auswählen helfen in seinem Sinne, was die Welt davon erhalten soll u. was nicht. Die lieben Freunde, die sich
seine geistigen Vermächtnisse getheilt haben, sind mit Feuer Eifer dahinter her, es soll der erste wie wahre Anteil an dem Verstorbenen, der Schlag, den sein Tod in die Welt hinein gemacht hat, benützt werden; sie gehen mit dem lebendigsten Interesse schon jetzt jeder an seine Arbeit – u. welche Arbeit, welche Aufgabe hat jeder übernommen – u. die Frau soll davon laufen u. nicht einmahl Handlanger Dienste thun. – Meine Jungen sind zwar auch dabei ehrliche Handlanger, besonders Karl, dessen gut geschriebene Hefte von der Geschichtsu. Religionsphilosophie wohl zu brauchen sind. – Aber die Mutter muß doch auch mit dabei seyn u. will mithelfen u. alles mitwissen. Mit Buchhändler Duncker ist ein Contrakt zwar nicht abgeschlossen – aber seine Bedingungen sind so honett, er ist ein so sicherer, redlicher Mann, nimmt selbst so warmen Antheil an der Sache, daß ich dafür bin, darauf einzugehen. Cotta wird es übel nehmen, soll auch nicht ganz umgangen werden, aber wenn er nicht viel viel mehr verspricht, bekommt er es nicht. – Duncker will für den Bogen 3 Frd. geben, auf zwanzig Bände ist das Ganze wenigstens berechnet – doch dies bleibt unter uns. – – Was immer Deine Sorge um mich betrifft liebste Mutter, so beruhige Dich. – Sage Dir als fromme Christin: Meine Marie wird der Cholera u. dem Tode nicht entlaufen, wenn ihr ein Ziel gesetzt ist – ist ihr ein Ziel gesetzt, so kann sie alle Tage in Nürnberg oder hier die Tausendste seyn die stirbt, soll sie erhalten werden u. gesund
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bleiben, so bleibt sie auch am Kupfergraben gesund. Ich bin keiner Gefahr preisgegeben, unsere Wohnung ist heiter u. gesund, wir haben kein Wasser im Keller u. haben wir es, so hat es die halbe Stadt. Noch ist keiner am Kupfergraben an der Cholera gestorben u. der Einzige hat sie sag ich mir – sagt die halbe Stadt – auch nicht gehabt – eine intensife Cholera heißen sie es, eine Cholera ohne alle äußere Symptome – wäre die Cholera nicht in Berlin, würde es Stickfluß oder Gott weiß was heißen. – Sein Ziel war gesetzt – sein freier herrlicher Geist konnte keine alternde kränkliche Hülle brauchen, drum hat er sie abgestreift, u. aus besonderer Gnade von Gott. So leicht u. schmerzensfrei, daß man sich wohl wünschen möchte, so hinüber zu schlummern. Wäre Ansteckung, so hätte ich, die ich ihn 2 Tage u. eine Nacht gepflegt, sie wohl von seinen Lippen geküßt – die klugen Herrn haben alles, denn es will das Gesetz, desinficirt, meine Betten fortgeschlept, nichts was im Zimmer war heraus gegeben, aber keinem von den drei Herrn ist eingefallen zu sagen »liebe Frau waschen Sie sich, ziehen Sie andere Wäsche an«, daran hat keiner gedacht, weil keiner im Grunde seines Herzens an Ansteckung glaubt, u. hier vollends selbst nicht recht wissen, wie sie daran sind. Ich quäle mich nicht mit den Gedanken, es sey nicht das Rechte gethan worden, obgleich nichts von dem allem, was wir für die Cholera angeschafft haben, gebraucht wurde – alle Bedingungen, die die Heilung bewirken, waren da, u. durften nicht erst hervorgebracht werden. Schweiß, immer gleiche Wärme, Erbrechen von Galle pp., keinen Krampf, keine von all den Symptomen – wo ist denn diese Cholera gesteckt. Nach Rust hatte ich geschickt, der war krank – er hat sich in der Geschichte der Cholera viele Feinde gemacht u. sich durch seine zwecklosen Anstalten einen Schandpfahl gesetzt. Sollte aber einem von uns was begegnen, so schicke ich doch zu ihm. [...]

     Marie Hegel lebte bis zu ihrem Tod 1855 sozial abgesichert. Ihren Unterhalt bezog sie aus einer Witwenkasse, aus Wertpapieren und aus Erbanteilen, die ihr aus ihrer weitverzweigten Nürnberger Familie zuflossen. In den Jahren, als die Kinder erwachsen waren, widmete sie sich verstärkt und pietistisch motiviert der christlichen Armenpflege. Sie wurde neben ihrem Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.

(Die abgedruckten Briefe befinden sich in Privatbesitz. Der Autor bedankt sich für die freundliche Hilfe und die Druckerlaubnis.)

Bildquelle:
Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts, Katalog zur Ausstellung

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