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Bernhard Meyer
Begründer der Chemotherapie

Der Arzt Paul Ehrlich (1854–1915)

Der Arzt Paul Ehrlich war zugleich autodidaktischer Chemiker. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wandten sich Ärzte verstärkt als Theoretiker und Forscher auch außerhalb der Medizin liegenden Gebieten zu. Im deutschsprachigen Raum stehen dafür Robert Koch (1843–1910), der bahnbrechend in die Welt der Mikroorganismen eindrang, Emil du Bois-Reymond (1818–1896), der die auf Elektrizität beruhenden Reize untersuchte, und Rudolf Virchow (1821–1902), der in seiner Zellularpathologie neueste Erkenntnisse der biologischen Klärung der Zelle bei Pflanze und Tier aufgriff. In diese Phalanx reihte sich Paul Ehrlich ein, der nicht als erster, wohl aber gemeinsam mit Emil von Behring (1854–1917) als erfolgreichster Integrator von Chemie und Medizin seiner Zeit angesehen werden kann.
     Die Wirkungsstätten des am 14. März 1854 im schlesischen Strehlen geborenen Paul Ehrlich konzentrieren sich auf Berlin und Frankfurt am Main. Während seines Medizinstudiums in Breslau, Straßburg und Frei-

Paul Ehrlich
burg, das er 1878 mit der Promotion in Leipzig abschloß, traf er auf zahlreiche namhafte Wissenschaftler unterschiedlicher, besonders naturwissenschaftlich ausgerichteter Disziplinen, die sein Forscherleben nachhaltig beeinflußten. Begonnen hatte für ihn alles mit seinem Vetter Carl Weigert (1845–1904), einem bekannten Pathologen, der mit Farbstoffen experimentierte und ihm die ersten Grundlagen vermittelte. Zur wichtigen Station wurde nach Abschluß des
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Studiums seine externe Assistenz bei Friedrich Theodor von Frerichs (1819–1885), dem Berliner Ordinarius für Innere Medizin, der Ehrlichs geniale Fähigkeiten abseits der praktischen Medizin frühzeitig erkannte und ihn an der Klinik gewähren ließ. Immerhin berief ihn die Charité 1884 zum außerordentlichen Professor. Nach Frerichs Tod 1885 verließ Ehrlich die Charité, weil seinen »Farbspielereien« kein Raum mehr gegeben wurde.
     In einer Mietwohnung in der Lützowstraße 88 richtete er sich auf eigene Kosten ein Labor ein, um als freier Forscher seinen Ambitionen nachgehen zu können. Dieser Schritt wurde ihm zweifellos durch die umfängliche Mitgift seiner Frau erleichtert.
     Am 14. August 1883 hatte er die Tochter eines bekannten und wohlhabenden Leinenfabrikanten aus Neustadt in Schlesien geheiratet, mit der er eine harmonische Ehe führte und aus der die Töchter Stephanie und Marianne hervorgingen. Frau Hedwig richtete 1929 die »Paul- Ehrlich- Stiftung« ein, die aus seinem finanziellen Nachlaß Preise und Stipendien für »Urheber wertvoller Arbeiten auf den von Paul Ehrlich bearbeiteten Gebieten« vergab. Nutznießer waren u. a. die Nobelpreisträger Otto Heinrich Warburg (1883–1970) und Ernst Boris Chain (1906–1967). Hedwig Ehrlich mußte 1938 die Umbenennung der Paul- Ehrlich- Straße in Frankfurt am Main erleben, 1939 entschloß sich die 75jährige zur Emigration in die Schweiz und 1941 in die USA. Sie starb am
20. Dezember 1948 in New York im Alter von 84 Jahren, 33 Jahre nach dem Tod ihres Mannes.
     1888 stellte sich bei Paul Ehrlich eine Tuberkulose heraus, die sicherlich aus dem Umgang mit tuberkulösem Material resultierte und die er durch einen zweijährigen Aufenthalt in Ägypten kurieren konnte. 1891 übernahm Koch das Institut für Infektionskrankheiten und bot Ehrlich sofort ein kleines Labor ohne feste Aufgabenstellung an. Hier lernte er Emil von Behring kennen, der fortan Freund und Konkurrent auf serologischem und immunologischem Gebiet wurde, mit dem ihn ein wechselvolles, nicht immer ungetrübtes Verhältnis verband, das manchen Zerreißproben ausgesetzt war und doch zeitlebens hielt.
     Ehrlich geriet zu Beginn der 90er Jahre in das Blickfeld von Friedrich Althoff (1839–1908), dem Allgewaltigen aus dem preußischen Kultusministerium. Althoff stellte die Weichen zur Gründung eines Instituts für Serumforschung und -prüfung, dessen Leiter Ehrlich 1896 wurde. Trotzdem setzte keine Universität den inzwischen berühmten Paul Ehrlich auf eine Berufungsliste, man hielten sich ihm gegenüber auf Distanz. Seine Denkweise fand wenig Anerkennung, seine jüdische Herkunft ließ ihn darüber hinaus zur akademischen Unperson werden. Anderthalb Jahrzehnte währte die Ignoranz, ehe ihn die Universität Göttingen zum Honorarprofessor berief. Aber auch das
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geschah nur, weil Althoff die Berufung ultimativ anordnete. Nicht umsonst nannte Ehrlich ihn deshalb seinen »staatlichen Schutzgeist«.
     Paul Ehrlich wollte Strukturen und physiologisch- chemische Vorgänge des menschlichen Körpers weitaus schärfer und detaillierter, abgegrenzter und tiefer als bisher aufklären. Er nahm die Feinstrukturen des Organismus mit Hilfe des Mikroskops ins Visier. Darin lag für ihn eine Möglichkeit, entstehenden Krankheitsprozessen gezielter, ja sogar haargenau zu begegnen. Schon frühzeitig erkannte er als eine Voraussetzung dafür das Färben von Objekten, die ihn als Methode für das Vorankommen der Medizin als Wissenschaft derart faszinierten, daß er sie lebenslang intensiv verfolgte. Die Entwicklung der Färbetechnik erfuhr durch ihn einen Schub, wodurch wiederum der inzwischen ebenfalls vorwärtsgekommenen Mikroskopie bisher unerschlossene Felder geöffnet wurden. Seine Leistungen erhoben die mikroskopische Färbetechnik zu einer wissenschaftlichen Methode.
     Ehrlich war zu Beginn der 80er Jahre beim Färben schon weiter als Robert Koch. Als Koch am 24. März 1882 die Entdeckung des Tuberkelbakteriums bekanntgab, die Ehrlich gegen Ende seines Lebens als sein größtes wissenschaftliches Erlebnis bezeichnete, fielen ihm sofort einige Schwächen beim Sichtbarmachen des Bakteriums auf. Schon am nächsten Tag befaßte sich Ehrlich mit dem Problem. Bereits wenige Tage spä-
ter konnte er ihm die nun vollends sichtbaren Tuberkelbakterien demonstrieren.
     Seine akribisch durchgeführten Laborarbeiten faßte Paul Ehrlich 1891 zu einem System der Immunitätsforschung (Unempfänglichkeit für Krankheitserreger) zusammen, deren Grundgehalt rein chemischer Natur und deren Anwendungsgebiet der menschliche Organismus war. Der Weg zur Chemotherapie, die im 20. Jahrhundert mit Sulfonamiden und den Antibiotika eine glanzvolle Ausbreitung erfuhr, war somit vorgezeichnet: mit synthetischen Wirkstoffen Krankheitserreger hemmen oder abtöten.
     Der Chemiker Emil Fischer, seit 1892 Ordinarius am Chemischen Institut der Friedrich- Wilhelms- Universität in der Hessischen Straße, publizierte die Erkenntnis, daß jeweils nur ein Ferment (heute Enzym genannt, organische Stoffe, die als Biokatalysatoren chemische Reaktionen beeinflussen) zu einem einzigen chemischen Körper in Verbindung tritt. Ehrlich erkannte sofort die fundamentale Bedeutung dieser These. Jede Substanz (Nahrungsstoffe, Farbstoffe, organische Gifte usw.), so folgerte Ehrlich, wandert dorthin, wo sie sich im menschlichen Körper hingezogen fühlt. Es entstehen »Seitenketten«. Wenn es nun gelänge, Antisubstanzen zu finden, die an genau die gleichen Ort gelangen und nur die eingedrungenen Gifte unschädlich machten, so wäre eine therapeutische Neuheit denkbar. So begab er sich auf die Suche nach Stoffen, die zum Körper
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wenig, zu den Bakterien aber eine große Affinität haben, sie abtöten, ohne dem Organismus zu schaden. Besser wäre es allerdings, so Ehrlich, Antisubstanzen schon vorher in die betreffenden Organe zu transportieren, um ihnen eine Immunität zu geben.
     Ehrlich behandelte nur in jungen Assistenzjahren Patienten. Er verschrieb sich der Medizin als Laborforscher mit Reagenzglas und Mikroskop. Der Breslauer Dermatologe Albert Neisser (1855–1916), ein Jugendfreund Ehrlichs und 1879 Entdecker des Erregers der Gonorrhoe, beschrieb dessen Herangehen: »Seine Taten sind vergleichbar denen eines Schützen, welcher seine Waffe, die Leistungen seiner Geschosse, die Wege, die sie nehmen müssen, genau kennt, und dessen Auge nur immer ein bestimmtes Ziel sieht, dessen Erreichung ihm Endzweck ist. Zuerst irren die Geschosse vielleicht ins Leere, aber immer enger wird der Kreis ihrer Bahn, immer größer die Zahl der Treffer, bis dann endlich, von der durch Beobachtung und Erfahrung gelenkten Hand des Schützen entsendet, der Meisterschuß ins Schwarze gelingt.« Diese Art Forschung lief auch zu seiner Zeit Gefahr, nicht genügend beachtet zu werden.
     Glückliche Umstände führten 1899 zur Gründung des Königlichen Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main. Personell und finanziell solide ausgestattet, sah sich Ehrlich nun am Ziel seiner wissenschaftlichen Träume. Hier begannen
1907 die Untersuchungen und Experimente zum Salvarsan, dem ersten wirksamen neuzeitlichen Präparat gegen die Syphilis. Mitten in dieser Forschungsarbeit nahm Ehrlich 1908 den Nobelpreis gemeinsam mit dem in Paris lebenden russischen Bakteriologen Ilja Iljitsch Metschnikoff (1845–1916) entgegen.
     Nachdem 1905 Schaudinn/Hoffmann den Erreger der Syphilis entdeckt hatten, begann er 1907 intensiv mit der Suche nach einem Medikament auf der Basis seiner Seitenkettentheorie. Man bedenke die große Leistung aller am Projekt Beteiligten: Innerhalb von nur drei Jahren wurden die jeweils selbständigen Präparate 306 bis 606, also dreihundert, einzeln synthetisiert und im Tierversuch erprobt. Verheißungsvoll, aber letztlich nicht tauglich, bereits das Präparat 418. Dann testete der Japaner Sahachiro Hata (1873–1938) im Juni 1909 das Präparat 606 erfolgreich an Tieren. Im April 1910 berichtete Ehrlich über 606 auf dem Internistenkongreß in Wiesbaden, und schon im Juli begann die Produktion bei den chemischen Werken Hoechst. Dieses von vielen Menschen sehnsüchtig erwartete Medikament als gelbes, leichtzersetzliches Pulver bestätigte ihn auch in der breiten Öffentlichkeit als Schöpfer der Chemotherapie infektiöser Krankheiten.
     Legendär die Forschungs- und Herstellungsgeschichte des inzwischen auch ab 1912 als Neosalvarsan klassischen, heute nicht mehr gebräuchlichen Antisyphili-
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tikums. Salvarsan 606 (zusammengesetzt aus lat. salvo: heilen und Arsen) wurde von der Presse sofort zu einem unfehlbaren Wundermittel hochstilisiert, als es im Dezember 1910 in den Handel kam. Obwohl sich der Optimismus durch eine anderthalbjährige Erprobungsphase mit unzählbaren Heilerfolgen bestätigte, gab es etwa 300 Mißerfolge in fünf Jahren. Einige immer wieder auftretende Nebenwirkungen, der Preis von 10 Mark pro Heilkur und der daraus resultierende Vorwurf der Bereicherung Ehrlichs, die monopolisierte Herstellung bei Hoechst und die Verschnupfung zahlreicher Ärzte, die zwar ein Werbeprospekt, aber keine Probepackung erhielten, belasteten ihn. Salvarsan entfachte über die Medizin hinaus heftige Dispute über die Großindustrie und Arzneimittelpreise, Reichtum durch wissenschaftliche Erfolge und belebte auch den Antisemitismus. Unwürdig die pauschalisierten Beschuldigungen einiger seiner Kritiker, die vor Gerichtsprozessen nicht zurückschreckten. Sie behaupteten vehement, Salvarsan würde nicht den Ankündigungen entsprechen.
     Das alles stand in völligem Gegensatz zur lauteren, untadeligen Persönlichkeit Ehrlichs. Robert Koch über ihn: »Wer Paul Ehrlich kennt, muß ihn lieben wie ein Kind.« Obwohl alle gegen ihn gerichteten Gerichtsverfahren scheiterten und er rehabilitiert aus ihnen hervorging, blieb für den Rest seines Lebens immer der Sta-
chel der zutiefst als ungerecht empfundenen Anschuldigungen.
     Darüber halfen auch die vielen wissenschaftlichen Auszeichnungen und der preußische Titel Wirklicher Geheimer Rat mit der Anrede Exzellenz nicht hinweg. Freundschaftliche Grüße von überall erreichten ihn zu seinem 60. Geburtstag 1914. Den Gratulanten erschien Paul Ehrlich sichtlich gealtert und krank. Der jahrzehntelange Konsum von täglich zwei Dutzend Zigarren und die seiner hektischen Geschäftigkeit geschuldeten äußerst unregelmäßigen Mahlzeiten, das Bestreben, immer mehr zu wollen, als der Körper hergeben konnte, forderten nun Tribut. Es stellten sich alsbald zwei Schlaganfälle ein, die zu seinem Tod am 20. August 1915 in Bad Homburg führten. Begraben wurde er auf dem Israelitischen Friedhof von Frankfurt am Main. Die Grabstätte zieren Davidstern und Äskulapstab. Nachrufe würdigen Paul Ehrlich als einen »der größten Forscher unserer Zeit«, einen »Wohltäter der Menschheit«, einen »aus der Heroenzeit der experimentelltherapeutischen Forschung«, einen »König im Reiche der von ihm selbst begründeten Wissenschaft«. Treffend die Formulierung im Nachruf der »Zeitschrift für angewandte Chemie«: »Es ist sein großes Verdienst, daß er, der Mediziner, klar die Bedeutung der Chemie für die Probleme der Therapie erkannt hat.«

Bildquelle: Archiv LBV

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