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fanden dabei den Tod – eine Kugel kam geflogen, oder eine Mauer stürzte ein.
     Der Tod ereilte hier auch eine junge Frau: Sonia Horn. Geboren am 30. November 1923 in Myslowice, dem Ort, der von rauchenden, ächzenden, pulsierenden Industriestädten bedrängt wird. Nah lag das schöne Krakau, alte Residenz, Königstadt, Heimat von Kunst und Wissenschaft. Nah lag Czestochowa, die katholische Kultstätte mit der Schwarzen Madonna. Von Kindheit an wirkten auf Sonia nüchterner Realismus, polnischer Patriotismus, tiefer Gottesglaube.
     An den Vater Viktor, einen sogenannten Volksdeutschen, der kaum ein Wort polnisch sprach, blieben dem Mädchen wenig Erinnerungen; aber es wuchs mit der deutschen Sprache auf. Sie war vier Jahre alt, als die Eltern sich scheiden ließen. Da die Mutter in langen Arbeitstagen den Lebensunterhalt verdienen mußte, übernahm die Erziehung der Kleinen die nur polnisch redende Großmutter. Die neue Sprache lernte Sonia spielend, und sie bewahrte mit Hilfe der Mutter zugleich ihren Grundstock deutscher Worte.
     Als die Schulzeit begann, zeigte das Mädchen bereits eine Eigenschaft ganz deutlich: Selbständigkeit. Sie wird ihr noch dienlich sein. Vorerst aber, neben dem schulischen Lernen, übte sie, sich graziös zu bewegen – sie genoß den Unterricht bei einem bekannten Tanzpädagogen. Der Tanz

Dietrich Nummert
Jahre der Zuversicht und der Trauer

Zum Gedenken an Sonia Horn

Am 15. November, dem Volkstrauertag, geht der eine oder andere vielleicht zum Alten Berliner Garnisonfriedhof, wo Militärs bestattet sind und Dichter und Opfer unruhiger Zeiten ruhen. Der Besucher kommt zu vier Grabreihen. Hier liegen mehr als tausend Opfer – sieben Tote teilen sich einen Quadratmeter. Massen im Massengrab brauchen wenig Platz. Und waren doch Menschen mit Namen, mit Schicksalen. Viele Frauen unter ihnen und Kinder. Deutsche. Ausländer.
     Als der April des Jahres 1945 sich neigte, war Deutschland klein geworden. In Berlin tobten Kämpfe. Straße um Straße, Haus um Haus zogen sich Wehrmacht, SS und Volkssturm zurück oder ergaben sich. Der eiserne Ring um die Innenstadt schloß sich. Den in Kellern und Bunkern hockenden Menschen stockte der Atem. Und sobald der Kanonendonner für einen Moment verstummte, huschten blasse Gestalten aus dem Dunkel, getrieben von der Sorge um einen lieben Menschen oder auf der verzweifelten Suche nach einem Ort zum Überleben. Manche

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verdrängte anderes. Die Mutter, irritiert und in Sorge um die Zukunft der Tochter, nahm sie aus dem Kursus, gab sie 1935 in eine klösterliche Schule in Teschen. Dort erhielt Sonia zwar ebenfalls Tanzunterricht, aber in weitaus geringerem Maße; religiöse Erziehung stand im Vordergrund.
     Zwei Jahre später, Sonia war 14, kehrte sie zurück in den Heimatort. Erfolgreich legte sie das Vorexamen für die Handelsschule ab. Fortan beherrschten andere Ansprüche ihre Tage. Im Nu stand 1939 der Abschlußball vor der Tür. Dieses Fest bekam Bedeutung. Es schloß eine Lebensetappe ab. Zum anderen lernte die Sechzehnjährige Franczisek Roj kennen, Lehrer und Offizier der polnischen Armee. Das Jahr war noch nicht zu Ende, da heirateten sie. 1939 aber brachte bekanntlich auch die deutsche Besatzung. Am 1. September waren Truppen Hitlerdeutschlands in Polen eingefallen.
     In Myslowice gründeten junge Leute die Gruppe »Braciom na

Sonia mit 10 Jahren

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otuche«. Die Leitung der »Bruderschaft der Zuversicht« bildeten Florek Adamski, ihr Chef und Verbindungsmann zur Armija Krajowa, der Lehrer Willy Mett, dessen Verlobte Cilly Wieczorek, Franczisek Roj und Sonia Horn. Mit List, vorsichtig und entschlossen gestalteten sie ihr Tun. Sie halfen Familien, deren Angehörige ermordet worden waren, kümmerten sich um Geld und Kleidung, entwarfen und druckten Flugblätter, verteilten sie, schrieben Parolen. Jahr um Jahr – 1940, 1941, 1942. Zeit der Anspannung, Last der Lebensgefahr. Und es waren Jahre der Zuversicht, daß ihr Tun gerecht und der Heimat dienlich ist.
     Wer den Kopf hebt, fällt auf. Die Gestapo, immer auf der Suche, fand eine Spur. Im Februar 1943 geriet Sonia in ihre Fänge. Während der Verhöre in Kattowitz schwieg sie beharrlich. Und da die Schwarzuniformierten ihr nichts nachweisen konnten, mußten sie sie entlassen, ließen sie aber beobachten. Sonia bemerkte das. Daraufhin flohen sie: Franczisek, ein weiteres Mitglied der Bruderschaft und sie fanden in Krakau Unterkunft bei der Familie Malinowski.
     Aber jetzt waren die Häscher wach. Und da Krakau nicht die Heimatstadt war, in der man jeden Hof und jeden Durchschlupf kennt, hatte die Gestapo leichteres Spiel.
     Die Eheleute, auf dem Weg zum Pfingstgottesdienst, wurden am 13. Juni 1943 verhaftet. Die Nacht verbrachten sie mit vielen anderen Gefangenen in einer Zelle des
Montelupe- Gefängnisses. Anderntags wurden sie getrennt, nach Myslowice transportiert, im »Rosengarten«, dem provisorischen KZ, eingekerkert.
     Mutter Horn kümmerte sich. Sie durchschaute die neuen Machthaber, bestach die richtigen Leute, welche die Haftbedingungen für ihre Tochter lockern konnten. Franczisek deportierte man im Oktober nach Auschwitz. Das Angebot, er käme frei, sobald er die »Volksliste« unterschriebe, schlug er aus, getreu dem Eid auf die polnische Fahne. Am 23. Oktober 1943 stand Franczisek Roj vor der Todeswand im KZ Auschwitz, das Hinrichtungskommando erschoß ihn.
     Am 16. November begann Sonias langer Leidensweg. Über Krakau, Warschau, Marienburg, Danzig, Stettin und Stralsund führte er sie vier Wochen später hinter Stacheldraht: Frauen- Konzentrationslager Ravensbrück, Fürstenberg/Mecklenburg.
     Sie erhielt die Häftlings- Nummer 25551. – Ravensbrück, schön gelegener, schrecklicher Ort, Adresse der Zwanzigjährigen – für lange?
     Die Mutter, kaum hatte sie die Nachricht vom Aufenthaltsort der Tochter erhalten, knüpfte Verbindungen, holte Auskünfte ein, beschaffte Bescheinigungen. Im Februar 1944 reiste sie nach Berlin, weiter nach Fürstenberg, fand eine Sekretärin, die ein kurzes Treffen mit Sonia vermitteln konnte. Es wurde ihre letzte Begegnung.
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Verlobungsfoto mit Franczisek

Sonia, überlegt und geduldig, nutzte den Briefverkehr. Verordnet war: »Die Zeilen müssen mit Tinte, übersichtlich und gut lesbar geschrieben sein. Briefe dürfen ... je 15 Zeilen und Karten 10 Zeilen nicht überschreiten ... Entlassungsgesuche ... an die Lagerleitung sind zwecklos.« Im Juli 1944 schrieb sie: »Bin gesund ... Mutti, mach Dir bitte keine Sorgen um mich, Du weist das ich schon als Kind sehr selbständig war, und auch jetzt in der schweren für mich Zeit werde ich nicht unter gehen ... Denke so viel an die Tage, wo Du mich liebste Mutti als Kind ... (unleserlich) auf meine Lippen aufgedrückt, da muß ich weinen ...«
     Aber mit jedem Tag wuchs ihre Zuversicht. Überall mußten deutsche Armeen weichen. Im Lager jagten Gerüchte einander, Frontberichte sickerten durch, die Unsicherheit der Wachmannschaften nahm zu. Und im Februar 1945 entließ der Kommandant zahlreiche Häftlinge, unter ihnen Sonia, mit der Auflage, im Lagerumfeld zu verbleiben, die ihnen dort zugewiesene Arbeit zu tun, der Meldepflicht zu genügen.
     Was tun? Dem Befehl folgen oder ... Wohin konnte sie gehen? Polen war weit, und zwi-
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schen ihr und der Heimat tobte die Front. In der Nähe des Lagers kannte sie niemanden. In Berlin wohnte eine Tante; aber Berlin war Reichshauptstadt, und die war doppelt und dreifach von Kontrollringen umgeben. Sonia Horn machte sich trotzdem auf den Marsch.
     Sie begegnete Kolonnen ohne Ende, Flüchtlingen aus dem Osten, verzeifelten, gehetzten Menschen. Sie überlebte Angriffe der schnellen Lightnings und Vickers, deren Maschinengewehrschützen aus der Höhe nicht zu unterscheiden vermochten, ob die da auf den Landstraßen Verfolgte oder Verfolger waren. Und unten suchten SS-Häscher nach Deserteuren und Defätisten und Volksschädlingen.
     In Oranienburg, wo in den Heinkel- Werken Kriegsflugzeuge gebaut worden waren, rauchten jetzt die Trümmer. Trümmer auch auf dem weiteren Weg bis in die Mitte der großen Stadt.
     Es ist nicht sicher, wo Frau Schulz, die Tante, wohnte. Die meisten Quellen nennen als Anschrift Münzstraße 23. Aber laut Adreßbuch wohnte Erna Schulz im Eckhaus Nr. 24. Also im Zentrum der Stadt, dem Ort tausendfachen Sterbens, zahlloser Ruinen.
     Und dann – fast über Nacht – war alles vorbei. Die ersten Berliner verließen zögernd die Keller, sammelten sich an Pumpen und versuchten scheu, den Siegern aus dem Wege zu gehen. Die schickten sie zur
Bergung der Toten. Und unter diesen befand sich auch Sonia Horn. Hatte sie an jenem 29. April 1945 eine Kugel getötet, ein Granatsplitter, eine stürzende Mauer?
     Für ihre letzte Reise hatte sie es nicht weit, der Friedhof war nah. Die Opfer bekamen täglich neue Gesellschaft, stumme Nebenleute. Ein amtlicher Brief vermerkt, wen: Es wurden am »4. 5. 1945 3 russische unbekannte Soldaten« beigesetzt, später »die Ueberreste 7 russischer verkohlter Soldaten (in einem Behälter)«, die Franzosen Jan Pelletin und Moritz Munier, die Deutschen Günter Köhn, 17 Jahre alt, Helene Bergner, 45, Herbert Kaute, 18, Gerdi Ronde, 20 ... und Hunderte Unbekannte.
     Sie liegen immer noch dort. Auf fast jedem Berliner Friedhof finden wir Opfer der letzten Kriegstage, namentlich bekannte und namenlose. Ihnen ist unser Gedenken gleichgültig. Uns auch?

Bildquelle:
Die Fotos reproduzierte Andreas Ciesielski anhand von Originalen, die Stanislawa Kowalska, Mutter Sonia Horns, zur Verfügung stellte. Der Autor verarbeitete Interviews mit Frau Kowalska, Gespräche mit einer Gefährtin Sonia Horns, den von A. Ciesielski verfaßten Lebenslauf sowie einschlägige Literatur.

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© Edition Luisenstadt, 1998
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