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Ziel des Projektes war es, städtische Einrichtungen, Wohnungen und Erholungsflächen innerhalb eines eng begrenzten Reviers so zusammenzufügen, daß sich daraus ein planmäßig entwickeltes kommunales Zentrum mit einem hohen architektonischen und städteplanerischen Anspruch ergibt. Beide wollten »ihre« Stadt nach einem demokratischen Bürgerbewußtsein gestalten. Deshalb entstand als erstes bestimmendes Bauwerk ab Sommer 1907 nicht etwa ein Rathaus, sondern ein für alle Einwohner gedachtes Haus mit Multifunktionscharakter: eine Halle für Sport und Kultur, für Versammlungen, ergänzt durch kleinere Turnhallen (für Fechtkämpfe und eigens für Damen), vier Kegelbahnen, Badeeinrichtungen (sechs Brause- und drei Wannenbäder), einen freien Turnplatz und ein Restaurant. Mit den Maßen 17 x 30 Meter entstand eine die Pistoriusstraße dominierende Front aus Ziegeln und Glas und einem aus alten Bordschwellen gestalteten Granitsockel am Fuße des kleinen Hügels, auf dem sich die wuchtige Bethanienkirche erhebt. Einschließlich der Galerie faßte die große Halle insgesamt 1 000 Personen. Die Beheizung erfolgte in wirtschaftlicher Weise für das große Haus über eine Niederdruckdampfheizung, für das Restaurant mittels Warmwasseranlage. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 240 000 Mark. Bühring wurde später bescheinigt, daß mit diesem Bau Beispielhaftes für die Stadt Berlin geschaffen worden ist.
Joachim Bennewitz
Die Stadthalle in Weißensee

Nach mehrjährigen Erneuerungsarbeiten wurde im Juni dieses Jahres das ehemalige Restaurant der Weißenseer Stadthalle in der Pistoriusstraße dem Verein Frei-Zeit- Haus e.V. zur Nutzung übergeben. Ein bedeutendes Zeugnis der vorstädtischen Entwicklung Weißensees ist wiederhergestellt, mit ihm zugleich der nach Kriegszerstörungen einzig verbliebene Rest der früheren Gemeindeturnund Festhalle. Im September vor 90 Jahren ist sie eingeweiht worden.
     Die 1905 vollzogene Wiedervereinigung des Dorfes Weißensee mit seinem ehemaligen Gutsbezirk (Neu- Weißensee) war der Beginn einer etwa zehn Jahre dauernden Gemeinschaftsarbeit von Bürgermeister Carl Woelck (1868–1937) und Gemeindebaurat Carl James Bühring (1871–1936). Beide wollten Weißensee zu einem städtischen Gemeinwesen entwickeln, aus einem mehr proletarischen Wohnstandort einen allen Bevölkerungsschichten dienenden Lebensbereich machen. Sofort wurde die Planung für ein kommunales Zentrum in Angriff genommen. Das Ergebnis waren die vorerst auf Papier und im Modell vorgestellten Ideen für das Munizipalviertel, das Gemeindeforum.

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1 000 Personen fanden in der Stadthalle Platz

Am 26. September 1908 war die feierliche Eröffnung, die allerdings in der Berliner Presse kaum Resonanz fand. Zur gleichen Stunde, da die Halle ihrer Bestimmung übergeben wurde, hatte sich in der Stadt ein folgenschwerer Unfall ereignet: das Hochbahnunglück beim Gleisdreieck, das mehrere Tote und Verletzte forderte und für die kommenden Tage die Zeitungen seitenweise füllte.
     Schon im April hatte die Gemeinde vorsorglich im Nachbarhaus für den künftigen Pächter der Restauration eine Wohnung bereitgestellt und zugleich in mehreren großen Zeitungen die Ausschreibung veröffentlicht. Mit dem Erfolg, daß sich die meisten der großen Berliner Brauereien beteiligten und versuchten, sich gegenseitig zu überbieten, vor allem die Firma des Hoflieferanten
Julius Bötzow und die ortsansässige Brauerei Gabriel & Richter aus der Lichtenberger Straße. Den Vertrag schloß die Gemeinde schließlich mit der Aktien- Brauerei- Gesellschaft Friedrichshöhe vormals Patzenhofer. Vereinbart wurde ein Mietzins von 4 500 Mark jährlich zuzüglich einer Pauschale von 11 Mark für jeden über die Menge von 450 ausgeschenkten Hektolitern, ab 600 Hektoliter erhöht auf 12 Mark.
     Natürlich traten in den ersten Monaten auch Probleme auf. Die »Weissenseer Bürgerpost« begann eine Serie von Anwürfen gegen Gemeinde und Pächter, nachdem der erste Ansturm nur mit Müh und Not hatte bewältigt werden können. Schon Weihnachten schrieb sie: »Der Massenbesuch am 1. und 2. Feiertag hat so recht gezeigt, wie
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verbaut unsere Turnhalle als Festlokal bei solchem Andrang ist.« In der gleichen Ausgabe jedoch erklärte das Blatt in einem Bericht über eine Theatervorführung vom 25. Dezember, daß »die Bühne in ihrer jetzigen Gestaltung mit den zeitgemäßen Dekorationen und Malereien, wenn wir die Wahrheit gestehen sollen, zu der besten Weißensees« gestaltet worden ist.
     Es dauerte geraume Zeit, bis die Probleme des Anlaufes überwunden waren. Der erste Unterpächter, Gastwirt Reichardt, schied bereits 1911 aus, ihm folgte Fritz Borck. Auch er mußte erkennen, daß sich die Umsätze trotz der vielfältigen Nutzung aller Einrichtungen des Hauses nicht so lebhaft entwickelten, wie sich Brauerei und Gastwirt gewünscht hatten. Schon nach vier Jahren äußerte deshalb Patzenhofer die Absicht, keine Verlängerung des Vertrages anzustreben. Die Verhandlungen ließen sich dennoch an, sie zogen sich bis zum Ende des Jahres 1913 hin, führten schließlich sogar zu spürbarer Erhöhung der Konditionen. So ging die Stadthalle in den Krieg. Der Wirt, der seit einiger Zeit auch eine kleine Gaststätte im ebenfalls gemeindeeigenen Ledigenheim Pistoriusstraße 17 bewirtschaftete, wurde zum Militär eingezogen. Die Veranstaltungen wurden weniger, damit ging der Bierumsatz spürbar zurück. Das Landesarchiv verwahrt einen umfangreichen Schriftwechsel zwischen Gemeinde, Brauerei und der die Geschäfte wahrnehmenden Frau des Wirtes. Sie bat
die Vertragspartner um Rücksicht, die Gemeinde jedoch bestand auf den vertraglichen Verpflichtungen mit der Brauerei, für sie war die Frau keine Partnerin. Und die Brauerei mußte zahlen. Dafür verwandte sie einfach die Kaution der Borcks. Auch ein Hilferuf des Mannes auf einer Feldpostkarte stimmte niemanden um. Die Borcks gaben auf.
     Am 12. Oktober 1915 meldete die Brauerei, daß der Bierumsatz nun auf rund 40 Prozent des Vorkriegsstandes zurückgegangen sei.
     In dieser Situation stellte sich Hilfe ein: Wie auch andere Gemeinden im Umkreis Berlins hatte sich Weißensee um eine Kriegsgarnison beworben, die Truppen des Ersatz- Bataillons 1. Garde- Reserve- Regiment marschierten ein. Am 6. November 1915 fand auf der Rennbahn die große Begrüßungsparade statt. Neben einer bemerkenswerten Anzahl von Wohnhäusern und Schulen wurde auch die Stadthalle beschlagnahmt und für mehr als drei Jahre für die Garnison genutzt. Das Restaurant wurde zum Offiziers- Casino, ein neuer Gastronom führte die Geschäfte, nun im Auftrage der Garnison- Verwaltung II Berlin. Bis zum Februar 1919, als – mehrere Monate nach der Abdankung Wilhelms II. – die Kaiserlichen Gardetruppen ihre Weißenseer Quartiere endlich räumten.
     Schon mehr als zwei Jahre zuvor hatte sich auf Grund eines Gerüchtes, daß das Militär bald abziehen würde, ein neuer Pächter beworben: Wilhelm Heinrich jun. aus der Langhansstraße. Dieser, von Beruf
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Theaterunternehmer, hatte schon seit Anfang 1914 im Hause, wo auch die Weißenseer Theatervereine neben dem Schloß ihren zweiten Standort hatten, mehrere Aufführungen gegeben. Seine daraus entwickelte Absicht, die Nachfolge des Borck nach dessen Einberufung anzutreten, hatte er wegen der Übernahme durch das Militär nicht verwirklichen können. Nun wünschte er, »an Sonntagen durch Veranstaltungen von guten und billigen Theatervorstellungen und Konzerten zum Wohle der Gemeinde zu wirken«.1) Bemerkenswert schnell wurde ihm eine Absage zuteil, doch Heinrich ließ nicht locker. Wieder mit Berufung auf ein Gerücht erneuerte er den Antrag am 12. November 1917 und bot an, gemeinsam mit seinem einschlägig bewanderten Schwiegervater die Bewirtschaftung ausüben zu wollen. Auch dieses Gesuch mußte, das Casino wurde ja noch gebraucht, abgelehnt werden. Erst im Februar 1920 schließlich wurde Heiden- Heinrich, wie er sich nun und für die Zukunft nannte, Pächter in der Stadthalle. Mit ihm begann die wohl interessanteste und den Zielen von Woelck und Bühring am ehesten gerecht werdende Zeit der Stadthalle.2) Mit Theater- und Varieté- Vorstellungen, in denen zumeist Weißensee eine wichtige Rolle spielte, erlebte das »vor Vergnügen kreischende Publikum« fast durchweg »phänomenale Erfolge«.
     Die Bauakte nennt auch andere Theaterveranstalter, die in den Jahren bis 1932 Vor-
stellungen organisierten, und natürlich gab es auch andere Formen der Unterhaltung. Wiederholt fanden Boxkämpfe statt. 1924 stellte Heiden- Heinrich den Antrag zum Bau einer Sommerbühne im Restaurantgarten, aus der später ein Musikpavillon wurde. Und 1927 ließ das Bezirksamt eine Veranda anbauen. Auf der Bühne wurden Filme vorgeführt, so von dem bekannten Afrikaforscher Schomburgk, und Vereine mit eindeutig sozialistischer Orientierung haben in den Akten ihre Spuren hinterlassen, so das »Aktuelle Volkstheater der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Künstler« und eine in Weißensee beheimatete Ortsgruppe der »Liga für Mutterschutz und sozialistische Familienhygiene e.V.« Bereits 1932 wird als Nachfolger Heiden- Heinrichs – dieser hatte inzwischen das von ihm bereits seit 1928 bewirtschaftete Wirtshaus am Orankesee als alleinige Wirkungsstätte ausgewählt – ein Kurt Salzer genannt. Bis zur Zerstörung der Halle im Zweiten Weltkrieg wird kein weiterer Pächter aufgeführt, es ist jedoch zu vermuten, daß mindestens noch ein Wechsel stattfand.
     Die Bauakte im Bezirksamt Weißensee enthält dafür jedoch Hinweise auf mehrere Amateur- Boxveranstaltungen des Weißenseer Fußball- Clubs 1900, später auch des Box-Clubs Weißensee und eine Anzahl von Filmveranstaltungen zumeist mit propagandistischem Inhalt. So 1937 über »Wunder des Fliegens« und im gleichen Jahr auch einen
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Vortrag von »NS-Gauredner Pg. Flux« über den Vierjahresplan. Auch für die Wiedererlangung von Kolonien wird geworben (Mai 1939). Theatervorstellungen scheint es in diesen Jahren kaum noch gegeben zu haben. Der Siegeszug des Films, der sich in Weißensee auch durch den Neubau mehrerer Filmtheater dokumentierte, hatte seine Auswirkungen. Tanzveranstaltungen jedoch fanden regelmäßig an den Wochenenden statt. Noch in den ersten Kriegsjahren war dies der Fall. In den wenigen erhalten gebliebenen Exemplaren der »Berliner Nordost- Zeitung« finden sich darüber Notizen. So auch für den 13. und 14. April 1940, an denen die »beliebte Tanz- und Konzertkapelle Hans Law mit seinen Solisten« für 50 Pfennig Eintritt einschließlich Steuer aufspielte.
     Am 26. Februar 1945 kam das Ende für die Stadthalle. An diesem Tage wurde das Zentrum Weißensees bis hin zum Hamburger Platz durch Luftangriffe stark in Mitleidenschaft gezogen. Den Bomben fielen die meisten Häuser am Antonplatz, die Bethanienkirche am Mirbachplatz und auch die Stadthalle zum Opfer. Spreng- und Brandbomben ließen nur noch Ruinen übrig, und in der Pistoriusstraße gelang es nur, das in einem Anbau befindliche Restaurant zu retten.
     Die große Halle blieb als Fragment noch wenige Jahre stehen, wurde dann abgerissen. Die Fläche wurde planiert, zuerst als Hartballplatz genutzt, dann jedoch in die Parkgestaltung einbezogen. Das Restaurant
öffnete wieder in den verbliebenen Räumen, als Lager- und Sanitärräume wurde die darunter befindliche frühere Wohnung genutzt. Ein 1948 gestellter Antrag zum Ausbau kam nicht zur Ausführung, die Pächter wechselten häufig. 1951 war es Sportler- Treffpunkt für Hockey- und Schachspieler. Ein Jahr später schließlich war die Gaststätte Geschichte: In den Räumen befand sich nun ein Kindergarten. Aus ihm wurde 1963 ein Kinderheim, später dann ein Sprachheilkindergarten. Bis die mangelhaften hygienischen Bedingungen die endgültige Schließung erforderlich machten.
     Neues Leben zog 1990 ein, als Mitglieder ehemaliger Veteranenclubs der Volkssolidarität nach deren Schließung auf der Suche nach neuen Domizilen waren. Sie fanden ein ihren Vorstellungen entsprechendes in der Pistoriusstraße 23, gründeten den Verein Frei-Zeit- Haus und können heute auf eine Reihe von Jahren erfolgreicher Arbeit zurückblicken. Aus dem Casino wurde eine Begegnungsstätte für die Bürger, ein Zentrum Weißenseer Lebens. So, wie es den Gründervätern einst für das ganze Haus vorgeschwebt hatte.

Quellen:
1     LAB StA Rep. 48 Nr. 153
2     Bärbel Ruben, Der Theaterdirektor von Weißensee, »Berlinische Monatsschrift« 11/96, S. 27 ff.

Bildquelle: Archiv Autor

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