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Bernhard Meyer
43 Jahre Ordinarius an der Charité

Frauenarzt Walter Stoeckel (1871 – 1961)

Walter Stoeckel gehört zu den herausragenden Ordinarien der Frauenheilkunde an der Charité. Er entwickelte sich zum Nestor der Gynäkologie in Deutschland mit beachteten Forschungsleistungen und einem legendären Ruf als Hochschullehrer. Sein ein Vierteljahrhundert andauerndes Ordinariat brachte der Frauenklinik in der Artilleriestraße (heute Tucholskystraße) höchste Anerkennung seiner in- und ausländischen Fachkollegen.
     Dabei sah es zunächst für den am 14. März 1871 in Adlig Klein-Stobingen bei Insterburg (Ostpreußen) geborenen Stoeckel gar nicht nach einem Humanmedizinstudium aus. Landstallmeister wollte er als Junge werden, da er im ostpreußisch-ländlichen Milieu aufwuchs und sich zu Pferden und damit zum Reitsport unwiderstehlich hingezogen fühlte. Später rückte die Veterinärmedizin für ihn ins Blickfeld, ehe er sich dann doch für die Medizin entschied. Das vorklinische Studium absolvierte er in Leipzig, München und Jena, während er die klinischen Jahre

an der Albertus-Universität im ostpreußischen Königsberg bis zu seinem Staatsexamen 1895 erlebte. Danach durchlief er die zeitgemäßen Karrierestationen als Einjährig-Freiwilliger Arzt beim Militär, als Schiffsarzt beim Norddeutschen Lloyd und ab 1897 als Assistenzarzt an verschiedenen Universitätskliniken. Während dieser Zeit verlobte er sich mit Anna Maria (Änne) Fritsch, der Tochter des Bonner Ordinarius für Gynäkologie Heinrich Fritsch, die er am 29. Dezember 1900 heiratete. Aus der Ehe gingen zwischen 1902 und 1923 sieben Kinder hervor. Seine Frau starb 1946 an Tuberkulose.
     Mit Talent und einem honorigen Schwiegervater im Rücken habilitierte er sich 1903, um so die Oberarztstelle an der Frauenklinik der Charité unter Ernst Bumm (1848– 1925) zu besetzen und 1905 eine nichtbeamtete außerordentliche Professur zu übernehmen. Erste, schöne Erfolge für ihn in der Reichshauptstadt, deren gynäkologische Poliklinik allerdings einen verheerenden Eindruck auf ihn machte: »Die ersten Eindrücke waren umwerfend. Ich fühlte mich im siebenten Himmel – und fiel aus allen Wolken, als ich die gynäkologische Poliklinik der Charité (Friedrichstraße – B. M.) betrat. Der größte Schweinestall, dem ich jemals unter dem Titel eines ärztlichen Instituts begegnet bin, hier war er.« Auf Anraten seines Schwiegervaters beschäftigte sich Stoeckel wissenschaftlich vor allem mit der gynäko-
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merksam, lobte seine »hervorragende technisch-operative Geschicklichkeit und eine nicht gewöhnliche rednerische Begabung«. Mit 36 Jahren (1907) erhielt Stoeckel die ersten Angebote für einen Lehrstuhl. Die Universitäten Greifswald, Marburg und Erlangen setzten ihn gleichzeitig auf ihre Kandidatenlisten – eine außergewöhnliche Ehre für einen aufstrebenden Mediziner. Es zog ihn wohl nach Greifswald, aber der allgewaltige Friedrich Althoff (1839–1908) lenkte ihn nach Marburg. Stoeckel verließ 1907 Berlin, um über die Ordinariate in Marburg, Kiel (1910) und Leipzig (1921) schließlich 1926 auf den bedeutendsten Lehrstuhl für Gynäkologie im Deutschen Reich zurückzukehren, was er in der nachmonarchistischen Weimarer Republik mit den Worten quittierte: »Ich war Kaiser geworden.«
     Unter seiner Ägide entstand durch Umbauten zwischen 1927 und 1932 eine moderne Frauenklinik im Areal von Artillerie-, Ziegel- und Monbijoustraße und der Spree. Die ausländischen Fachkollegen erblickten in Stoeckel zunehmend den führenden Vertreter der Frauenheilkunde in Deutschland. Dazu trug wesentlich der Ausbau und die Detaillierung der vaginalen Totalexstirpation (vollständige Entfernung der Gebärmutter) nach Friedrich Schauta (1848–1919) bei, die fortan nach beiden benannt wurde: Schauta/Stoeckel-Operation. Sein wissenschaftliches Werk schlägt die Brücke vom 19. in das 20. Jahrhundert. Obwohl nicht der geistige
Walter Stoeckel
Radierung von Max Liebermann

logischen Urologie, die seinerzeit erst im Entstehen begriffen war.
     Eine Blitzkarriere machte Walter Stoeckel nicht. Er baute sich bewußt ein breites fachliches Fundament auf, wofür er sich mit Fritsch, Veit und Bumm die damals renommiertesten Frauenärzte als Lehrer auserkor. Das Kultusministerium wurde auf ihn auf-
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Vater weiterer spektakulärer Forschungen, überblickte er die Gesamtheit seines Fachgebiets auf höchstem Niveau. Die Fachpresse druckte 285 seiner Einzelarbeiten, seine Lehrbücher für Gynäkologie und für Geburtshilfe erlebten 13 bzw. 14 Auflagen, dem »Zentralblatt für Gynäkologie« stand er 48 Jahre, der »Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie« 34Jahre als verantwortlicher Herausgeber vor. Seine Präsidentschaft verlieh Fachtagungen und Kongressen zusätzlichen Glanz. Er scharte junge Ärzte um sich, die sein Wissen und Können aufnahmen, und schon bald sprach man von einer Stoeckel-Schule.
     Seine besondere Liebe galt der 1844 gegründeten »Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie zu Berlin«, deren Vorsitz er 1928 für eine zweijährige Wahlperiode erstmalig übernahm. Noch weitere zwei Amtsperioden folgten von 1933 bis 1935 und 1947 bis 1953. Somit stand er der Gesellschaft in drei unterschiedlichen politischen Staatsformen vor. Während er 1928 ordentlich gewählt wurde, erfolgte seine Einsetzung im November 1933 in der inzwischen von den Nazis herbeigeführten Gleichschaltung per Akklamation. Als Vorsitzender der »Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe« seit 1931 galt er offensichtlich als vertrauenswürdig. Bei aller Wahrung kollegialen Anstands gegenüber jüdischen Kollegen trug er widerstandslos deren Verdrängen aus Ämtern und Stellungen mit. So auch die Absetzung des Schriftführers Bernhard Zondek (1891–1966), der zusammen mit Selmar
Aschheim (1878–1965) 1927 an der Charité einen verläßlichen Frühschwangerschaftstest (Aschheim/Zondek-Reaktion) entwickelt hatte. Schützend stellte er sich vor den weltberühmten jüdischen Gynäkopathologen Robert Meyer (1864–1947), der so immerhin noch bis 1939 an der Charité-Frauenklinik arbeiten konnte. Obwohl Stoeckel nicht der NSDAP angehörte, reklamierte er für seine Kollegen: »Da wir als Geburtshelfer nun einmal Arbeiter der Stirn und der Hand sind, dürfen wir uns stolz als rechte Arbeiter im Sinne unseres Führers fühlen.« In seinen Lebenserinnerungen vermerkte Stoeckel zum Faschismus, »daß wir deutschen Universitätslehrer insgesamt versagt haben, als es darum ging, in schwerer Zeit Solidarität zu zeigen – eine Solidarität der Herzen. Selbstverständlich konnten wir uns gegen den braunen Terror nicht auflehnen, aber es hätte in der Öffentlichkeit manche Behauptung richtiggestellt werden können, beispielsweise jene, in der >Systemzeit< sei die deutsche Ärzteschaft >völlig< von Juden beherrscht worden.«
     Der pflichtbesessene Stoeckel verließ seine Frauenklinik auch nicht während der immer schwerer werdenden Endphase des Zweiten Weltkrieges. Er blieb im Ida-Simon-Haus, auf dem Gelände der Frauenklinik an der Spree gelegen, bis an sein Lebensende wohnen. Da die Frauenklinik im Februar 1943 durch Fliegerbomben empfindlich zerstört wurde, setzte er Behandlungen und Operationen im Bunker der Frauenklinik fort. Und dies auch über den
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8. Mai 1945 hinaus. Obwohl 1936 seine Emeritierung anstand, wurde sie auf Befehl Hitlers zunächst für 3 Jahre ausgesetzt und dann bis zum Ende der Naziherrschaft einfach vergessen. Stoeckel feierte die »Nicht-Emeritierung«, hatte dazu allerdings die Niederkunft von Magda Goebbels geschickt genutzt, um über deren Mann Joseph Goebbels (1897–1945) die oberste Entscheidung herbeizuführen. Seine Amtsführung blieb nach Ende des Krieges unangetastet, da es der Charité gut zu Gesicht stand, einen so bedeutenden Frauenarzt und Geburtshelfer zu ihren Ordinarien zu zählen.
     Stoeckel war es dann auch, der Ende 1947 aufgrund des Befehls Nr. 124 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 21. Mai 1947 die Wiederbegründung der Gesellschaft, nunmehr unter dem Namen »Wissenschaftliche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie bei der Universität Berlin«, in die Wege leitete. Die konstituierende Sitzung unter Vorsitz von Stoeckel fand am 21.Januar 1948 im Hörsaal der Frauenklinik statt. Über seine Emeritierung hinaus leitete er bis 1953 die Geschicke dieser traditionsreichen wissenschaftlichen Gesellschaft. Der Situation im Nachkriegs-Berlin entsprechend, verstand sich die Gesellschaft bis zum August 1961 als wissenschaftliches Gremium für die Frauenärzte in Ost- und Westberlin, die alternierend in der Ostberliner Artillerie- und in der Westberliner Pulsstraße tagte. Für Stoeckel war diese Konstellation nicht einfach zu bewältigen, zumal die Gesellschaft mit der 1948 erfolg-
ten Gründung der Freien Universität mit eigener Frauenklinik zwei Universitätseinrichtungen verband. Das wurde aus Ostberliner Sicht zunehmend als politische Belastung empfunden, was den fachlichen Zusammenhalt der Berliner Gynäkologen allerdings nicht entscheidend beeinflussen konnte. Die letzte gemeinsame Sitzung fand am 23. Juni 1960 im Hörsaal der Charité-Frauenklinik statt.
     Kurz vor seinem 80. Geburtstag schied Walter Stoeckel 1950 aus dem Amt. Den Wiederaufbau der Klinik leitete er noch während seiner Amtszeit. Kurz vor Vollendung seines 90.Geburtstages verstarb der Nestor der deutschen Frauenheilkunde am 12. Februar 1961. Begraben wurde er auf dem Invalidenfriedhof.
     Walter Stoeckel nimmt einen wichtigen Platz in der Geschichte der Frauenheilkunde ein. Sein Ruf resultiert aus der Gesamtbeeinflussung des Fachgebiets und der exklusiven Kenntnis aller Stränge der Gynäkologie und Geburtshilfe. Aus der politischen Auseinandersetzung um den § 218 und den Schwangerschaftsabbruch hat er sich weitgehend herausgehalten. Für ihn als Geburtshelfer besaß der Schutz des ungeborenen Kindes oberste Priorität. So wandte er sich prinzipiell gegen jeden Schwangerschaftsabbruch aus sozialer sowie auch aus gemischter (sozialer und medizinischer) Indikation. Nur in seltenen Ausnahmefällen ließ er rein medizinische Gründe zum Schutz der Mutter gelten.
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© Edition Luisenstadt, 1998
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