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Horst Wagner
1. Oktober 1892:
Hardens »Zukunft« kommt heraus

»Der ganze Spuk, daß bei der Ämterbesetzung in Stadt und Land zuvörderst auf Gesinnungstüchtigkeit gesehen und dadurch jede wirklich soziale Auslese verhindert wird, würde zur Freude aller verständigen Menschen in dem Augenblick ein Ende haben, wo man sich entschlösse, keine Beamten, weder staatliche noch kommunale, fortan mehr in eine Volksvertretung zu wählen.« Diese vielleicht auch heute bedenkenswerte Feststellung steht am Schluß eines »Das neue Haupt der Berliner Kommune« überschriebenen Artikels im ersten, am 1.Oktober 1892 erschienenen Heft der »Zukunft«, der sich mit der Wahl von Robert Zelle zum Oberbürgermeister beschäftigt und feststellt, daß dieser »über ein gewisses angenehmes Mittelmaß in keiner Weise herausragt«.
     Der Beitrag macht deutlich, was sich diese neue Berliner »Wochenschrift für Politik, öffentliches Leben, Kunst und Literatur« vorgenommen hat: Zeitereignisse kritisch zu begleiten, sie von zukünftigen Anforderungen her zu durchdenken. Herausgeber und Hauptautor des Blattes ist der damals 31jäh-

rige gebürtige Berliner Maximilian Harden (1861–1927), der bis dahin u. a. unter dem Pseudonym »Apostata« für die Zeitschrift »Die Gegenwart« Kritiken und politische Feuilletons geschrieben hat. Das Heft im halben A4-Format umfaßt 48 Seiten und kostet 50 Pfennig. Die Startauflage liegt bei 6000 und erreicht 1911 ihren Gipfel mit 23000 Exemplaren.
     In seinem »Von Bel zu Babel« überschriebenen Geleitartikel für das erste Heft setzt Harden sich mit der Kommerzialisierung und Verflachung des Berliner Kulturlebens und einer zunehmenden Prostituierung der Presse auseinander. Er verweist auf Bel, eine Gottheit im alten Babylon, der täglich geopfert werden mußte, damit die Priester sich die Opfergaben aneignen konnten. »Aus den Priestern wurden die Journalisten, und Bel heißt heute: die Presse. Der opfert man täglich Zeit, Geld und Geduld; an die glaubt gläubig nun alles Volk; aus der schöpft es, zu träge und bierdumpf um selber zu sehen und selber zu hören, seine Bildung, sein Wissen, sein Meinen von Gott und der Welt, von Natur und Kunst . . . « Dem geschilderten Zustand setzt Harden seine programmatische Hoffnung und eigene Absicht entgegen: »In Deutschland gibt es, frohe Zustimmung macht mich dessen gewiß, noch ein halbhundert Männer, die den Mut haben, ohne von ihren Parteibonzen und Annoncenverlegern den großen Kirchenbann zu fürchten, rückhaltlos hier die Wahrheit
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zu künden und der Zukunft Zeichen zu deuten.«
     Programmatisch im ersten Heft der »Zukunft« auch der Beitrag »Erzbischof von Stablewski über die Polenfrage«, in dem aufgefordert wird, die Zeitschrift als Tribüne für die Diskussion um ein freies Polen zu nutzen. Außerdem finden wir hier einen Bericht über die Münchener Internationale Kunstausstellung, der vor allem auf die Werke Lenbachs und Stucks eingeht, das Gedicht »Die Pest« von Liliencron, einen Brief Strindbergs sowie den Aufsatz »Zur Psychologie der Börsen«, der versucht, das Geheimnis der Kursschwankungen zu ergründen. Auch heute noch aktuell, wie es scheint, der feuilletonistische »Mode-Katechismus«, als dessen erstes Gebot verkündet wird:»Du sollst Dir nie etwas anschaffen, nur um damit a) es dem lieben Nächsten nach- oder vorzumachen; b) gute Freunde und Freundinnen zu ärgern; c) die Welt über Deine wahren Verhältnisse zu täuschen; sondern immer nur, um Dir selbst oder Deiner Umgebung Nutzen, Bequemlichkeit oder Freude zu bereiten.« Im abschließenden »Notizbuch« auch die Meldung, daß »vom >Kapital<, der Bibel des Sozialismus, nächstens der dritte Band erscheinen« wird.
     Die Idee für den Zeitungstitel »Die Zukunft« soll übrigens von Franz Mehring stammen. Ihn auch als Autor für das Blatt zu gewinnen, gelingt Harden nicht. Der literarische Kopf der deutschen Sozialdemokratie
stößt sich an Hardens Verehrung für Bismarck. Tatsächlich ruft »Die Zukunft« den 1890 vom jungen Kaiser Wilhelm II. abgesetzten ersten Reichskanzler wiederholt als Zeugen für eine ausgewogenere, realistischere, zum Teil auch liberalere Politik an. So gleich im Weihnachtsheft des ersten Jahrgangs, wo in einem sich mit wachsenden antisemitischen Tendenzen auseinandersetzenden Beitrag Bismarck aus einer Reichstagsrede von 1872 zitiert wird, daß »jedes Dogma, auch das von uns nicht geglaubte, welches so und so viele Millionen Landsleute theilen, als für die übrigen Mitbürger und für die Regierung heilig zu betrachten« ist.
     30 Jahre lang, vom ersten bis zum letzten Heft, wird Harden »Die Zukunft« leiten. Er gilt für viele bald als bedeutendster Publizist des kaiserlichen Deutschland, als »Zensor Germaniae«. Sein Blatt wird, vor allem auch im Ausland, als Gegenpol zu dem immer naßforscheren Auftreten Wilhelms II. gesehen.
     Furore macht Hardens Artikel »Der Kampf mit dem Drachen« in der »Zukunft« vom 11.August 1900:»Wir müssen also mit der Tatsache rechnen, daß der kaiserliche Kriegsherr den nach China ziehenden deutschen Soldaten befohlen hat, keinen Pardon zu geben, keine Gefangenen zu machen, jeden überwältigten Feind zu töten und nach dem Beispiel Attilas und seiner Hunnen einen tausend Jahre nachwirkenden Schrek-
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ken zu verbreiten«, kommentiert er die als »Hunnenrede« in die Geschichte eingegangene Ansprache Wilhelms bei der Verabschiedung deutscher Soldaten zum Kampfeinsatz in China. Der Beitrag bringt Harden noch einmal sechs Monate Festung ein, nachdem er zuvor schon wegen 40 anderer als Corpus delicti herangezogener »Zukunft«-Artikel zu sechseinhalb Monaten Haft verurteilt worden ist.
     War Harden zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch der auch von der Sozialdemokratie verfochtenen Parole von der Vaterlandsverteidigung erlegen und hatte in der »Zukunft« vom 8. August 1914 gefordert, »Wir müssen siegen«, so wird schon das Heft vom 22. Dezember 1915 verboten, weil darin vom »Friedenswillen der Völker« die Rede ist. Am 22. April 1916 fordert »Die Zukunft«: »Laßt endlich wieder Vernunft zu Wort kommen«, und am 16. Oktober 1918 begrüßt sie die »Flammenzeichen des Matrosenaufstandes«.
     Auf Harden, der sich nach Kriegsende in der »Zukunft« für eine Verständigungspolitik gegenüber den Siegermächten einsetzt und Außenminister Rathenau zu seinen Freunden und Autoren zählt, wird am 24.Juni 1922 von Rechtsextremisten, Angehörigen der »Organisation Consul«, im Grunewald ein Attentat verübt. Die dabei erlittenen schweren Kopfverletzungen, aber auch finanzielle Schwierigkeiten, in die das Blatt geraten ist, zwingen ihn, »Die Zukunft«
am 30. September 1922 einzustellen. Auf die Angriffe und Verleumdungen eingehend, die gegen ihn und sein Blatt geführt worden sind, schreibt Harden im Abschiedsheft: »Lernt daraus, welche >Wahrheit< uns täglich kredenzt wird . . . Ich muß versuchen, in reiner Luft von dem ungeheuren Blutverlust zu genesen und bitte die Freunde um freundliche Geduld.« Auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Ende der »Zukunft« geht auch Maximilian Hardens Leben zu Ende.
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© Edition Luisenstadt, 1998
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