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die US-Piloten der Luftbrücke sind wegen des schwierigen Landeanflugs auf Tempelhof (es gab im Juli einen Absturz beim Anflug) sämtlich noch einmal auf einem solchen Gerät trainiert worden. Der Reigen der technischen Denkmale in der Ausstellung wird abgeschlossen mit einem funktionsfähigen Beispiel für den Einsatz eines Geräts der Bodenkontrolle, das unter Verwendung des damals relativ neuen Radar-Systems das (fast) sichere Landen auch bei schlechter Bodensicht ermöglichte und damit erst die hohen Transportleistungen im »airlift« während der Herbst- und Wintermonate gestattete – natürlich war das auch ein exzellentes Erprobungsprogramm am lebenden Objekt für den kriegsmäßigen Ernstfall wo auch immer in der Welt.
     Das Gestaltungsteam der Ausstellung hat es jedoch bei dem technischen Aspekt nicht bewenden lassen: Sein Bemühen, einen Einblick in Lebensverhältnisse des normalen Berliners während jener Monate von Ende Juni 1948 bis Mitte Mai 1949 zu geben, manifestiert sich in der Gestaltung von drei Wohnküchen: Sie sollen den Lebensstandard einer loyalen, allen Durchhalteappellen gehorsames Gehör schenkenden Westberliner Lebensmittelkartenempfänger-Familie, den einer vom Schwarzmarkt lebenden Westberliner Familie und den einer Ostberliner (mithin nicht von der Blockade betroffenen) Familie veranschaulichen. Die Inszenierung von sozialen Milieus verbreitet sich weltweit im musealen Sektor mehr und mehr; aber sie hat natürlich ihre Grenzen bei der Ausdifferenzierung von Veranschaulichung, sofern das Darzustellende in sich nicht allzu sehr differenziert ist: Im vorliegenden Fall verhindert die gute Absicht nicht, daß erstens gar keine gravierenden Unterschiede ins Auge fallen (die es auf der Ebene des gewählten Milieus auch gar nicht gab) und zweitens der Zeitgenosse der Blockademonate ob der Unkenntnis der nachgeborenen Ausstellungsmacher über das wirkliche Leben bzw. Überleben der Berliner jener Zeit in Ost wie West milde lächeln muß: Mein Gott – wer

Eine Ausstellung zur legendären Luftbrücke

Das Deutsche Technikmuseum in Berlin-Kreuzberg, Trebbiner Straße, eröffnete am 12. Mai seine Ausstellung »Auftrag: Luftbrücke«. Anlaß ist natürlich der 50. Jahrestag des Beginns der englisch-amerikanischen Luftbrücke zwischen der britischen bzw. amerikanischen Besatzungszone und den Berliner Westsektoren am 26. Juni 1948 als Reaktion auf die Sperrung der durch die damalige sowjetische Besatzungszone verlaufenden Straßen-, Bahn- und Wasserstraßenverbindungen zwischen den Westzonen und den Westsektoren Berlins durch die Sowjets. Wer also ein Exemplar jenes Flugzeugtyps hautnah erleben und anfassen möchte, der im Juni 1948 bei Beginn der Versorgungsflüge von der US Air Force eingesetzt wurde (bis November; dann flogen an ihrer Stelle DC 54 »Skymaster«), der kann im Freigelände der Ausstellung eine originale Douglas C47 B »Dakota« antreffen. (Diese konkrete Maschine mit der Werksnummer 34214 war allerdings nicht bei der Luftbrücke eingesetzt: Sie veranschaulicht nur den Typ! Diese war sogar 1962 an Franco-Spanien verkauft worden und eignet sich, wenn man es genau bedenkt, nicht so unbedingt als materieller Beleg für den im Zusammenhang mit dem Luftbrückenjubiläum wieder und wieder artikulierten amerikanischen Anspruch, mit den amerikanischen Flugzeugen immer nur für die Erhaltung und Verbreitung von Freiheit und Demokratie eingesprungen zu sein.) Dem Technik-Fan begegnet auch ein Original-Jeep in jener Ausführung, wie sie die US Army benutzte, als sie 1944/45 nach Deutschland – und Anfang Juli 1945 nach Berlin – kam.
     Der technische Aspekt wird fortgesetzt durch einen Link-Trainer: ein seit 1936 in der US Air Force benutzter Simulator, mit dem man Blindflug und besonders schwierige Landemanöver üben konnte;

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konnte damals schon von seinen Lebensmittelrationen laut Lebensmittelkarte existieren? Beim amerikanischen Soldaten war 1945 ein täglicher Lebensmittelbedarf in Höhe von 4 000 Kalorien ermittelt worden – die durchschnittliche Kalorienzuteilung für die Berliner lag im Mai 1948 dagegen bei rund 1 800 (und auch diese nur auf dem Papier der Lebensmittelkarten)! Daß auch die Westberliner Bevölkerung, ebenso wie die Ostberliner, während der Blockade- und Luftbrückenmonate in den Ländern der Sowjetzone tauschte, stoppelte und »hamsterte«, daß Westberliner ganz selbstverständlich ihre Schrebergärten im Berliner Umland nutzten, daß Bewohner der Westsektoren im Sommer 1948 zu Tausenden ihren Urlaub in der Sowjetzone verbrachten (der Personenverkehr war ja keineswegs blockiert!) – das wird der Nachwelt nicht mitgeteilt. Auch die legendären CARE-Freßpakete verlieren nun nach fünfzig Jahren ihren damaligen wesentlichen Charakter: daß man sie als Deutscher nur beziehen konnte, wenn irgendein Verwandter oder Bekannter den Gegenwert bei der USA-Organisation in harter Währung bezahlte, erfährt man in der Ausstellung nicht – auch nicht in dem erwerbbaren zusätzlichen Informationsheft: Das weiß die nachgeborene Generation durch ihr aktuelles (und notgedrungen, wie seit eh und je Geschichtsbildern immanent, selektives) Geschichtsbild eben nicht mehr! Erstaunlich ist auch, daß die nach dem Mauerbau 1961 nachhaltig ins Spiel gebrachten engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westberlinern ausgerechnet während der Blockademonate – nimmt man die Ausstellung und begleitende Publikationen als Maßstab – ausgesetzt haben müssen, denn von der damals geübten verwandtschaftlichen Solidarität bei der Beschaffung von Heizmaterial für die Westberliner erfährt man nichts.
     Sehr instruktiv ist das begleitende Filmprogramm, das agitatorische Filme jener Zeit aus Ost und West im Umfeld des Themas vorstellt. Sieht man sich alle in ihrer ganzen Länge an, dann wird
etwas davon vermittelt, wie sehr die Besatzungsmächte über die Deutschen einen ideologischen Stellvertreterkrieg zur propagandistischen Diffamierung der jeweiligen Gegenseite unter den einstigen Alliierten der Antihitlerkoalition führten. Schade ist, daß eine (durchaus vorhandene) filmische Dokumentation des großen Auftritts von Ernst Reuter vor 300 000 Berlinern am 9. September 1948 auf dem Platz der Republik ausgespart ist, wo Reuter seinen leidenschaftlichen Appell an die Völker der Welt, sie sollten doch auf das freiheitliebende Berlin schauen, mit der heutzutage gern unterschlagenen laut verkündeten Vision verband, daß vom freien Berlin aus auch wieder die Züge in das deutsche Stettin, das deutsche Breslau und das deutsche Königsberg fahren würden. Würde beides dokumentiert, dann würde sich die nun filmisch vorgeführte Tatsache relativieren, daß von östlicher Seite ohne Zweifel niedere Emotionen ins Spiel gebracht wurden, indem die angloamerikanischen Flächenbombardements auf Berliner Wohnviertel in Erinnerung gerufen wurden. Leider gibt es in dem Mini-Kino – das die Atmospäre von 1948 gut einfängt – nur sehr wenige Sitzplätze; und wer wird die ganze Palette im wahrsten Sinne des Wortes »durchstehen« können, um sich aus dem Abwägen der gegensätzlichen Argumente wirklich ein eigenes abgewogenes Urteil (wie es die Ausstellungsgestalter bei der Eröffnung als ihr didaktisches Anliegen verkündeten) bilden zu können? Nur durch die Vermittlung durch zwei der Filme erfährt der Besucher übrigens im Rahmen der Ausstellung, daß auch die Briten zu einem nicht unerheblichen Teil an der Luftbrücke beteiligt waren.
     Die Ausstellung ist in der Trebbiner Str. 9 (U-Bhf. Gleisdreieck oder Möckernbrücke) bis 30. September täglich, außer montags, geöffnet. Ein Begleitheft vermittelt im Sinne des Anliegens der Ausstellung über die vorgestellten Exponate hinaus Kenntnisse, die es ermöglichen, Blockade und Luftbrücke in einen deutschland-, europa- und weltpolitischen
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Zusammenhang zu stellen – was zu tun die in kurzer Frist konzipierte und gestaltete Ausstellung selbst zu vermitteln sich nicht vorgenommen hat und auch gar nicht konnte. Noch instruktiver ist ein beachtlicher Katalog von 391 Seiten mit rund 400 zumeist bis dato unbekannten Fotos (Nicolai, ISBN 3-87584-692-3, Hardcover 68,– DM, im Museumsshop, als Broschur, 39,– DM). In Ausstellung, Informationsheft und Katalog sucht man allerdings vergeblich jenes Schlüsseldokument amerikanischer Deutschland- und Berlin-Politik, das der Forschung seit zwei Jahrzehnten zugänglich ist in der traditionellen Publikationsreihe des US-Nationalarchivs »Papers on the Foreign Relations of the United States« (dem Historiker bekannt als FRUS), Jahr 1948, Bd. 2 (Deutschland und Österreich); dort kann man auf S. 911 im englischen Klartext ein als geheim klassifiziertes Fernschreiben von US-Außenminister Marshall an seine Botschafter in London und Paris lesen, das die Anweisung gibt, engsten Kontakt mit der britischen bzw. französischen Regierung zu halten und deren Kommentare, Interpretationen und Informationen hinsichtlich Berlins zu erfahren. »Wir fühlen, die Entwicklung liefert uns die Gelegenheit zum Einschlagen eines starken Propagandakurses. Zu Ihrer Information folgt hier der Text der Richtlinie, die an den Politischen Berater der US-Administration in Berlin gegangen ist:
     Die Informationskontrollabteilung wird durch gemeinsame Staats- und Armeekanäle angewiesen, daß man es hierorts als dringlich ansieht, alle Medien zu benutzen, um mit Aufwendung aller Kräfte die gegenwärtige Sowjetstrategie herauszustellen, d. h. den Versuch, die Macht der Berliner Regierung (gemeint sein kann nur der Magistrat K. W.) einzuschränken durch eine ganze Serie von Schritten, die unausweichlich in Erschwernissen für die Berliner Bevölkerung resultieren müssen; daß die große Verantwortungslosigkeit einer Politik betont werden sollte, die darauf abzielt, die Versorgung für mehr als 2 1/2 Millionen Deutsche abzuschneiden,
nur, um ihre expansionistischen Ziele zu erreichen. Und daß die grundsätzliche Position der westlichen Besatzungsmächte unverändert bleibt.
     Während die Richtlinie diesen Punkt nicht erwähnt, betont die Informationskontrollabteilung noch, daß man bei der Versendung von Lebensmitteln aus den Westzonen nach Berlin nur darauf wartet, daß es losgeht, was allein durch die sowjetischen Obstruktionsmaßnahmen blockiert wird.
     Das Außenministerium unterstützt die Ansicht, daß eine mächtige Kampagne dringendst benötigt wird, um der Sowjetpropaganda entgegenzuwirken, die Westalliierten seien an der Berliner Situation schuld. Die Berliner dürfen nicht darüber in Zweifel gelassen werden, wer verantwortlich ist.«
Das Interessanteste an dem Schriftstück ist sein Datum: Es hat das amerikanische Außenministerium am 21. Juni 1948 um 18.00 Uhr verlassen, also um 24.00 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit (die damals in Berlin galt). Da gab es noch keine »Blockade« (sie wird übereinstimmend mit dem 24. Juni angesetzt!). Da wußte man auch in Washington sehr gut, daß für den 22. Juni die Finanzexperten des Alliierten Kontrollrats einberufen waren, um eine Lösung der durch die separate Währungsreform in den Westzonen am 20. Juni ausgelösten Krise (notwendig stand ja nun auch eine Währungsreform in Berlin an!) zu verhandeln. Nach außen gab man sich also noch verhandlungsbereit – intern aber wurden schon die Wegweiser für einen höchst willkommenen Propagandakrieg aufgestellt. Ungeachtet der Berechtigung, mit der die technische wie politische Leistung der Luftbrücke anläßlich des 50. Jahrestages ihres Beginns zu würdigen ist: Der schon vor ihrem Beginn mit ihr ins Auge gefaßte Propagandakrieg wird nun noch einmal losgetreten und – wie schon vor einem halben Jahrhundert – noch einmal gewonnen.
     Kurt Wernicke
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verquickten Problematik ganz einfach abzukoppeln und als eine internationale Krise sui generis zu behandeln, die nur mit der westalliierten Anwesenheit in den Berliner Westbezirken und allenfalls mit der von ihnen dort eingeführten B-Mark zu tun habe!
Dem wirkt nun Keiderling mit seiner Veröffentlichung entgegen. In den von ihm vorgelegten zehn Kapiteln zeichnet er – der sich seit Jahrzehnten mit der Thematik beschäftigt hat – die Einbettung der Berlin-Krise von 1948/49 in die Verfestigung der 1947 sichtbaren Ost-West-Konfrontation nach: Sie resultierte aus dem prägnanten Auseinanderfallen der Deutschland-Politik der beiden einst verbündeten Seiten, d. h. konkret aus dem gemeinsam von Washington und London getragenen Entschluß, einen unter ihrer Ägide stehenden deutschen Staat aus den westlichen Besatzungszonen zu errichten und die gemeinsam mit den Sowjets betriebene Besatzungspolitik aufzugeben; dabei würdigt Keiderling die hinter dem Wechsel in der US- und der britischen Deutschlandpolitik stehenden Motive durchaus als aus deren Sicht vernünftiges Kalkül. Nur: Mit dieser Politik stellte sich die Frage nach der Berechtigung der westalliierten Anwesenheit in Berlin – und die doch ziemlich plumpe Vorstellung Stalins von Außenpolitik und Diplomatie (vgl. seine berühmt gewordene Frage an den US-Diplomaten Harrimann »Wie viele Divisionen hat der Papst?«) hakte an diesem Punkt ein, um als Maximalziel die Weststaat-Bildung zu verhindern und ein sowjetisches Mitspracherecht über das Ruhrgebiet einzuhandeln, als Minimalziel die Herrschaft über Gesamt-Berlin (und sei es notfalls auch nur über die sowjetisch kontrollierte Währung) zu erreichen. Keiderling redet um die Plumpheit der Sowjet-Politik nicht herum, aber er macht doch nachdrücklich auf Zusammenhänge aufmerksam, die bei den hehren Erinnerungen an die Luftbrücke wie selbstverständlich ausgeblendet werden; dazu gehört u. a. eine Nachzeichnung der seit 1947 von prominenten Berliner SPD-, CDU und

Gerhard Keiderling »Rosinenbomber« über Berlin

Währungsreform, Blockade, Luftbrücke, Teilung. Die schicksalvollen Jahre 1948/49.
     Dietz Verlag Berlin 1998

Des 50. Jahrestags des Beginns der Blockade der Berliner Westsektoren und der dagegen ins Leben gerufenen amerikanisch-britischen Luftbrücke wird in Berlin naturgemäß mit erheblichem Aufwand gedacht: Ausstellungen, Symposien, Talk-Runden, Volksfeste, Jubiläumskonzerte, ja, ein veritabler Staatsbesuch eines US-Präsidenten gehörten zum Programm. Daß bei solchen jubilitären Gelegenheiten altbewährte Stereotype am schnellsten und bequemsten zur Hand sind, ist seit jeher bekannt und bewährt und wird insbesondere von geschichtsinteressierten Journalisten und profilierungsbemühten Politikern bedient: Die Nachgeborenen erfahren so – je weiter das Jubiläum fortrückt – mehr und mehr abgeschliffene Geschichtsbilder, die aus den Zusammenhängen herausgerückt und immer mehr auf wenige Mythen reduziert werden. (Mit wirklichem Unbehagen muß man dabei auch an die Jahrestage der »Berliner Operation« der Roten Armee vom April/Mai 1945 denken, so, wie sie in der DDR begangen wurden; zu guter Letzt mußte man den Eindruck gewinnen, daß die Heilsarmee die Oder überschritten habe.) Im Zusammenhang mit Blockade und Luftbrücke ist es seit 1948 von der kriegführenden westlichen Seite im Kalten Krieg stets so gehandhabt worden, wie es die westalliierten Besatzungsmächte schon in der Krise selbst konzeptionell ausgearbeitet und mit Konsequenz durchgehalten haben: Blockade und Luftbrücke als miteinander verbundene Probleme vom Umfeld ihrer Entstehung und der damit

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LDP-Politikern betriebenen Politik der »Ost-Entflechtung«, gekoppelt mit »West-Integration« – eine Politik, die aus der damaligen Sicht Berliner Wirtschaftskreise genausowenig unumstritten war wie natürlich aus der Sicht der Wirtschafts(und anderer) Funktionäre der sowjetischen Besatzungszone. Daß Gerhard Keiderling darüber hinaus weitverbreitete Mythen von der Belagerung einer 2,2-Millionen-Bevölkerung auf das gehörige Maß zurückführt und faktenreich daran erinnert, daß den Westberlinern der Weg in den Ostsektor, in die Sowjetzone und selbst über die kaum bewachte »grüne Grenze« in die Westzonen während der gesamten Blockadezeit offenstand, ist verdienstvoll. Der letzte Abschnitt des letzten Kapitels trägt die Überschrift »Legende oder Lehrstück?« und benennt damit sehr treffend das Anliegen, das der Autor mit seinem Buch verfolgt: Einerseits auf durchaus noch in der älteren Berliner Bevölkerung vorhandene Fragen zu den damaligen Vorgängen Antworten zu präsentieren; andererseits mit der plastischen Schilderung der Positionen und Gegenpositionen, wechselseitigen Verdächtigungen und Verleumdungen, Minen und Gegenminen die allzu glatte Erfolgsstory der letztlichen Sieger in der mit der Blockade voll ausgebrochenen Systemauseinandersetzung zu hinterfragen. Der Berliner Ehrenbürger Lucius D. Clay wird als Resultat dessen wahrscheinlich etliche Drehungen in seinem Grab zu vollführen haben: Keiderling verdichtet das schon des öfteren erfolgte Infragestellen der »Schöpfung« der Luftbrücke durch den auf Nachruhm bedachten US-Militärgouverneur zu einer dokumentarisch belegten Demontage der beliebten Legende von Clays Telefonanruf am Vormittag des 24. 6. 1948 bei US Air Force General LeMay als dem Auslöser der Luftbrücke (S. 130 ff.)
Kurt Wernicke

Ein Klappstuhl im Kornhaus

Jubiläumstagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft

Ein Bett im Kornfeld, von der Schlagerbranche seit Jahrzehnten als ökologisch geeignetes Medium für intime Menschenkontakte gepriesen, erzeugt, wenn man den Erlebnisberichten von vorgeblichen Kennern glauben darf, ein unverwechselbares Fluidum – vorausgesetzt, die Kommunikation orientiert sich auf die Partner eines dualen Systems.
     Ein Klappstuhl im Kornhaus, vom Vereinsvorstand der Tucholsky-Gesellschaft als ökonomisch vertretbarer Tagungsstandort für eine viertägige Konferenz ausgewählt, vermochte seinen angedachten Zweck nicht weniger gut zu erfüllen, da es sich um eine Rück- und Vorschau Gleich oder zumindest Ähnlichgesinnter anläßlich des zehnjährigen Bestehens und Wirkens eines etablierten literarischen Gremiums handelte.
     Das historische Kornhaus zu Weiler, von den Einwohnern des idyllischen Gebirgsfleckens zwischen Alpen und Bodensee im 18. Jahrhundert als Getreidespeicher für Notzeiten in die reizvolle Landschaft gesetzt, war Tagungsort der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die das Jubiläum ihres Vereins beging und die Denkwürdigkeit im Sinne des Autors mit Betrachtungen zum Thema »Literatur und Revolution 1848/1918« verband.
     Der Platz war gut gewählt: In den 80er Jahren erwarb der originelle Speicher weit über die nähere Umgebung hinaus einen guten Ruf als Treffpunkt für die sogenannten »Kornhausgespräche«. Der Mangel an Nahrungsmitteln, einst humanitärer Auslöser für die Errichtung des Zweckbaus, war inzwischen dem wachsenden Bedarf an geistiger Kost gewichen. Anstelle der eisernen Getreidereserve für knurrende Mägen

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waren originäre Gedanken für knisternde Köpfe angesagt.
     So bot denn der im Gemeindezentrum gelegene Bau Ostern 1988 eine ebenso geeignete Kulisse für die Gründung einer dem streitbaren Publizisten mit den mindestens 5 PS gewidmeten Gesellschaft wie der von Arbeits- und Studienmaterialien mühevoll freigeräumte überdimensionale Schreibtisch des ehemaligen Rundfunk-Intendanten, pensionierten FU-Dekans und seit Jahren am steil geneigten Hang in Ortsnähe niedergelassenen Tucholsky-Fans Harry Pross. Er war es auch, der den damals Angereisten, unter ihnen die Mitinitiatorin der Begegnung und Tucholsky-Forscherin Beate Schmeichel-Falkenberg, der DDR-Verleger und Tucholsky-Herausgeber Roland Links, das Esslinger Germanisten-Ehepaar Renate und Harald Vogel, der Historiker, spätere Vereinsvorsitzende und Tucholsky-Biograph Michael Hepp, der Kabarett-Fachmann Volker Kühn, der in London wirkende schottische Hochschullehrer Ian King, der schwedische Arzt Ole Hambert, die Archivarin Antje Bonitz, der Schweizer Tucholsky-Spurensucher Gustav Huonker, der belgische Geisteswissenschaftler Hans-Werner am Zehnhoff und die Dozentin und Übersetzerin Irina Wastschenko aus Kuibyschew – also Engagierten aus West und Ost, dem In- und Ausland – den Vorschlag nahelegte, sich als Gründungsversammlung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft zu konstituieren.
     Für einige der Gründungsmitglieder bot die Jubiläumstagung Pfingsten 1998 den willkommenen Anlaß, sich am Konferenzrand ihrer Erwartungen, Erlebnisse und Episoden der Anfangszeit zu erinnern. »Tucholsky-Forscher lebten und forschten zuvor auf einsamen Inseln«, resümierte Beate Schmeichel-Falkenberg in ihrem Beitrag. »Jeder«, ergänzte Gründungsvorsitzender Harald Vogel die Reminiszenz, »schaufelte über den Dichter Wissen, Fragen und persönliche Befindlichkeiten und wollte die von ihm entdeckten Hügel als die bedeutsamsten anerkannt wissen«.
Gustav Huonker, der auf dem Züricher Dachboden der Tucholsky-Freundin Hedwig Müller die »Nuuna-Briefe« entdeckt hatte, stimmte seinen Vorrednern bekräftigend zu, und Roland Links erinnerte sich seiner Gespräche mit Mary Gerold-Tucholsky in Rottach-Egern, die mit ihrer fast penetranten Fragestellung »Wie kommen Sie darauf?« Erklärungszwang und neue Zweifel auslöste.
     Darüber jedoch bestand uneingeschränkter Konsens: Man fühlte sich nach der Vereinsgründung bewertungssicherer, versprach sich neue interessante Aufschlüsse im Ergebnis gemeinsamer Spurensuche und wollte Dogmen über und Sockelverklärungen um Tucholsky vermeiden. Der Sachverhalt, daß sich Ost und West seit längerem darum bemühten, den Publizisten für sich zu vereinnahmen, bekräftigte die Gründungsteilnehmer aus verschiedenen Himmelsrichtungen ebenso in ihrem Vorhaben wie die Erkenntnis, daß man in den wesentlichen Standpunkten kaum auseinanderlag. Deshalb auch zogen sie, wie Gustav Huonker formulierte, nunmehr »allesamt erwartungsvoll am verhüllenden Tuch«.
     Ein Nebeneffekt sei noch vermerkt: Die Gründung der Gesellschaft relativierte die literarisch dokumentierte Vereinsgegnerschaft ihres Namensgebers, der entgegen seiner Skepsis selbst mehreren derartigen Gremien angehört hatte, und avancierte durch ihr 10jähriges Wirken zum Lehrbeispiel für ihren möglichen Nutzen. Gut auch, daß sich die Gesellschaft von Anfang an nicht als Olymp von Spezialisten verstand, sich allen Interessierten öffnete und sich nicht nur speziellen Forschungsgegenständen, sondern vor allem auch der Publikation und Verbreitung von Tucholsky-Texten in der Gegenwart sowie der kritischen Zeitbegleitung im Sinne des Autors verpflichtet fühlte. Das erscheint aus heutiger Sicht um so wichtiger, als sich die Aktualität Tucholskyschen Gedankengutes trotz des sich erweiternden zeitlichen Abstandes zu seiner Schaffenszeit in bedrückendem Maße zu erneuern scheint.
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Die den Revolutionen von 1848 und 1918 und ihrer Widerspiegelung im Werk Tucholskys und der Zeitzeugen Heine und Fontane gewidmeten brisanten Darlegungen der Herren Harry Pross, Wulf Wülfing (Universität Bochum) und Michael Hepp (zum Thema »Die Revolution, oder das, was die Deutschen so nennen«) verdeutlichten ein weiteres Mal das treffsichere analytische Vermögen des Autors. Tucholsky, der Heine einen »Jahrhundertkerl« und Fontane den »märkischen Goethe« genannt hatte, beurteilte das Verhalten der Literaten im und zum revolutionären Geschehen ihrer Zeit aus der Sicht ihrer nicht widerspruchsfreien Entwicklung und ihrer persönlichen Lebensumstände. So wurde Fontane – so Wülfing – »erst auf seine alten Tage jener Fontane, den Tucholsky so liebte«.
     Eine bedrückende Illustration des vor- und nachrevolutionären Zeitgeschehens anfangs des 20. Jahrhunderts lieferte das tragische Schicksal des von Freikorpssoldaten 1920 ermordeten ehemaligen kaiserlichen See- und Kolonialoffiziers und zum überzeugten Pazifisten gewandelten Hans Paasche. Der mit ihm gut bekannte Kurt Tucholsky würdigte seinen Mut und seine Unerschrockenheit seinerzeit in einem Weltbühnen-Artikel und in der Grabrede. Unterstützt von Hans Paasches Tochter Helga, Dietrich Kittner, und dem jungen Kölner Schauspieler Mathias Kopetzki skizzierte Michael Hepp den Lebensverlauf des streitbaren Reformers in einer beeindruckenden Collage.
     Wie es sich für eine Begegnung mit dem scharfzüngigen Beobachter und Spötter gehört, kam die Satire auch bei der Jubiläumstagung nicht zu kurz. KTG-Mitglied und Kabarettist Dietrich Kittner präsentierte im abendlichen Dämmerlicht des Kornhauses unter nachdenklich-zustimmendem Beifall von Teilnehmern und Gästen seine beißende »Kantate über die allgemeine Unschuld im Lande«. Die KTG-Mitglieder Marlis und Wolfgang Helfritsch und Frank Burkhard Habel, sämtlich vom Zimmertheater Berlin-Karlshorst, verhalfen den ins Allgäu
gereisten Vereinsmitgliedern mittels des Tucholsky-Textes »Wo kommen die Löcher im Käse her?« zu neuen Einsichten. Eine Ausstellung mit aktuellen Karikaturen Horst Haitzingers rundete das satirische Flair der Konferenz bitteranregend ab.
     Die Tucholsky-Gesellschaft konnte ihre Mitgliederzahl in den 10 Jahren ihres Bestehens bedeutend erweitern. Zur Zeit gehören ihr ca. 230 Mitglieder aus 17 Staaten an. Der Vorstand des Vereins betrachtet es als aktuelles und perspektivisches Anliegen, vor allem jüngere Zeitgenossen als Tucholsky-Interessenten zu gewinnen. Mit Genugtuung wurde deshalb vom Tagungsforum zur Kenntnis genommen, daß mehrere junge Pädagogen und Schüler aus drei Tucholsky-Schulen des Bundesgebietes am Jubiläumstreffen teilnahmen. Hierin – darin waren sich Mitglieder, Vorstand und weitere Teilnehmer der öffentlichen Konferenz einig – bestehen wesentliche Ansatzpunkte für die Begegnung der nächsten Generationen mit dem Nachlaß des Publizisten, für das Wirken in seinem Sinne und – nicht zuletzt – für den Bestand des Vereins.
     Die nächste Tagung wird im Herbst 1999 in Berlin unter dem vielversprechenden Thema »Tucholsky und das Kabarett« stattfinden. Traditionsgemäß wird sie mit der Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik abschließen, der im Zwei-Jahres-Abstand ausgelobt und im Deutschen Theater übergeben wird.
     Der Weg vom harten Stuhl im Allgäuer Kornhaus zum hoffentlich nicht zu nachgiebigen Sessel in der traditionellen Berliner Spielstätte ist damit vorgezeichnet.
     Wolfgang Helfritsch
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Ein deutlicher Gesang nach einer deutlichen Rede

Die umfassende Dokumentation der Reden, die 1848 wie auch 1998 an den Gräbern der Märzgefallenen gehalten wurden (BM 5/1998), gibt mir Veranlassung, Ihnen den Text jenes dort erwähnten Liedes zuzusenden, das der Chor des Handwerkervereins am 22. März 1848 nach den deutlichen Worten in der zunächst nicht vorgesehenen Rede von Georg Jung an dem offenen Massengrab im Friedrichshain intonierte. Daß es rhythmisch auf die Melodie »Jesus, meine Zuversicht ...« zugedichtet war, kann man nicht als Zufall ansehen: Der Verfasser Friedrich Ludwig Bisky (1817–1863), ein aktives Mitglied des Handwerkervereins und selbst im Barrikadenkampf verwundet, demonstrierte mit der Neubetextung jenes Chorals, der am Mittag des 19. März im Innenhof des Berliner Schlosses bei der dortigen Vorführung der meist gräßlich zugerichteten Ziviltoten spontan angestimmt worden war, deutliche Abkehr von der sofort eifrig kolportierten Version, der Barrikadenkampf sei eigentlich ein »Mißverständnis« unter den durch die Bank königstreuen Preußen gewesen: Auch die Soldaten hätten doch nur ihre Pflicht erfüllt, und alle preußischen Untertanen – die Berliner voran – freuten sich nun ohne Unterschied an der neuen Freiheit und Brüderlichkeit ... Die deutliche Benennung der Soldateska als »Tiger« trat der allgemeinen bildungs- und besitzbürgerlichen Harmoniepropaganda, der nur mit einiger Mühe ein ins Spiel gebrachtes gemeinsames Begräbnis der Ziviltoten mit den gefallenen Soldaten hatte verweigert werden können, entschieden entgegen. Man geht sicherlich nicht fehl, wenn der folgende Liedtext als bewußte Gegenposition zu der am 19. März besungenen christlichen Demut zu verstehen ist.

Melodie: Jesus, meine Zuversicht ...

Aus der finstern Zeiten Schooß
ward der helle Kampf geboren,
der der Waffen blutig Loos
lechzend hat heraufbeschworen;
der dem lang geheimen Krieg
Fesseln schlug durch raschen Sieg.

Denn der Zwietracht Wutgeschrei
gellte heulend durch die Lüfte:
Neue Wahrheit ringt sich frei!
Erde, öffne Deine Grüfte!
Loh't Ihr Flammen durch die Nacht
eh' der neue Tag erwacht!

Und es sprang der Brudermord
in des Kampfes weite Schranken;
Menschenopfer sanken dort
an dem Altar der Gedanken;
doch zertrümmert tausendfach
stürzt die alte Lüge nach.

Drum an uns'rer Brüder Grab
die der wilde Kampf erschlagen,
der uns Recht und Freiheit gab –
Brüder, stillet Eure Klagen!
Ob auch Tiger Euch bekriegt:
diesmal hat der Mensch gesiegt!

Aber legt den heißen Schwur
in die blut'gen Wundenmale:
Wahrheit sei's, die der Natur
diese große Schuld bezahle:
und der Menschheit Freiheitsbaum
sprieße aus des Grabes Raum.
      Gefunden habe ich den Text bei: Georg Schirges, Der Berliner Volksaufstand, Hamburg 1848, S. 69 und 70.
     K. G. Williw

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© Edition Luisenstadt, 1998
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