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tendste märkische Literat das Berlin seiner Zeit erzählend widergespiegelt hat.
     In einem Beitrag für die »Vossische Zeitung«, für die er zwei Jahrzehnte lang, von 1870 bis 1890, die Theaterpremieren im Berliner Königlichen Schauspielhaus rezensierte, hatte Fontane 1886 bedauert: »Es fehlt uns noch ein großer Berliner Roman, der die Gesamtheit unseres Lebens schildert, etwa wie Thackeray in dem besten seiner Romane, >Vanity Fair<, in einer alle Klassen umfassenden Weise das Londoner Leben geschildert hat.«2)
     In manchem Werk der deutschsprachigen Literatur war zwar Berlin schon Schauplatz der Handlung gewesen, aber zu deren eigentlichem Bestandteil war die Stadt nur in Ausnahmefällen geworden. Zwei von ihnen nannte Fontane in seinem Artikel 1886 selbst: Adolf Glaßbrenner (1810–1876), den Humoristen, den Revolutionär von 1848, und Julius Stinde (1841–1905), den Verfasser der sieben von 1883 bis 1896 erschienenen Romane um die Familie Buchholz – zwei literarische Größen von mehr lokalem Rang. Bedeutendere Namen aus dem Bereich der Romanliteratur könnte man hinzufügen: Willibald Alexis (1788–1870; BM 12/96; 6/98) mit seinen von 1832 bis 1856 herausgebrachten Romanen aus der Berliner und brandenburgischen Geschichte, Wilhelm Raabe (1831–1910) mit der »Chronik der Sperlingsgasse«, seinem Erstlingswerk von 1856, und den »Leuten aus dem Walde« von 1862/63,
Gerhard Fischer
Theodor Fontane und die Tradition des »Berliner Romans«

1892 ließ Theodor Fontane (1819–1898) seine »Frau Jenny Treibel« als Fortsetzungsroman in der »Deutschen Rundschau« (Berlin) erscheinen. »Ich schließe mit dieser Geschichte den Zyklus meiner Berliner Romane ab«,1) hatte er vier Jahre zuvor, im Mai 1888, seinem Sohn Theodor geschrieben. Doch ließ der Schriftsteller ihr 1892 noch seinen Berliner Roman »Die Poggenpuhls« folgen, und ebenfalls in Berlin spielt seine Novelle »Mathilde Möhring«, die erst 1906, acht Jahre nach seinem Tode, in der »Gartenlaube« – wenn auch textlich arg entstellt – veröffentlicht wurde.
     Dem Roman um die Kommerzienrätin Treibel waren vier weitere »Berliner Romane« des Autors vorangegangen: 1862 »L'Adultera«, 1887 »Cécile«, 1888 »Irrungen, Wirrungen«, 1890 »Stine«. Nimmt man die beiden berühmtesten Prosawerke des Dichters – »Effi Briest« (1895) und »Der Stechlin« (1898) – hinzu, die ebenfalls zum großen Teil in der damaligen Reichshauptstadt spielen, so sind es insgesamt neun Romane und Novellen, mit denen der wohl bedeu-

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Friedrich Spielhagen (1829–1911) mit seinem ebenfalls 1862 herausgekommenen Roman »Durch Nacht zum Licht« um die Revolution von 1848, Paul Heyse (1830–1914) mit »Kinder der Welt« von 1873, nicht zu vergessen Heinrich Seidel (1842–1906; BM 8/92) mit seinen ab 1880 erschienenen Begebenheiten um »Leberecht Hühnchen«, die im Berliner Vorortmilieu von Steglitz bis Tegel angesiedelt waren.
     Doch Berlin als aufstrebende Millionenstadt, als nationales Zentrum, als angehende Weltstadt? Dieses Thema rückt erst seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Blickpunkt von Romanciers. Seit den Gründerjahren, die dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der Bismarckschen »Reichseinigung von oben« folgen, holt Berlin nun mit Macht nach, was andere europäische Hauptstädte ihm geschichtlich, politisch, wirtschaftlich, baulich, geistig-kulturell um Jahrhunderte voraushaben – »mit Macht« im doppelten Sinne: mit mächtigem Tempo – und mit der Macht der Hohenzollern im Rücken, auch mit der Macht der Berliner Großindustrie, der Berliner Banken, der Wissenschaft und Technik, deren Potentiale sich in Berlin konzentrieren, und nicht zuletzt unter dem Einfluß einer erstarkenden Sozialdemokratie, die in proletarischen wie in kleinbürgerlichen Kreisen immer mehr Fuß faßt.
     Das ist die Stadt, die Fontane in seinen Romanen literarisch einfängt und deren
mannigfaltige soziale Entwicklung er wie in einem Panorama wiedergibt. Durch ihn erst erhält der »Berliner Roman« nationalliterarischen, ja in seinen besten Werken weltliterarischen Rang und Ruhm. »Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir führen«, verlangt er in seinem schon zitierten Beitrag für die »Vossische«. »Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren ...«3)
     Eine der Voraussetzungen, die gerade das Wachstum einer Weltstadt solchen literarischen Gestalten bietet, hat Fontane schon 1872 in seiner Schrift »Aus den Tagen der Okkupation« benannt: »Das großstädtische Leben« gebe »die Möglichkeit des freien geistigen Verkehrs«.4) Diesen Verkehr wiederum und seine öffentlichkeitswirksamen Ergebnisse vermitteln Zeitungen und Zeitschriften, Buchverlage und Theater; ihre Zahl steigt, ihre technischen Möglichkeiten vervollkommnen sich ständig – und auch sie konzentrieren sich in den großen Städten, in Deutschland vorrangig in Berlin, namentlich seit den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Das Informations- und Kommunikationsbedürfnis der
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Menschen nimmt zu; erste Medienkonzerne entstehen, in der deutschen Hauptstadt vor allem durch Namen wie Ullstein und Scherl, Mosse und Büxenstein repräsentiert. Gleichzeitig verflechten sich schöne Literatur und Presse enger miteinander, Journalisten werden Schriftsteller.
     Auch dafür übrigens ist Fontane ein Beispiel. Bevor er 1878 mit seinem ersten Roman »Vor dem Sturm« an die Öffentlichkeit tritt, hat er fast drei Jahrzehnte lang vorwiegend publizistisch gearbeitet, und diese Arbeit gibt er auch in den kommenden Jahren nicht auf. Sein Beitrag für die freisinnige »Vossische« von 1886, aus dem wir mehrfach zitierten, ist eigentlich eine Rezension des gerade erschienenen Romans »Der Zug nach dem Westen« von Paul Lindau (1839–1919; BM 2/93). Das ist der erste Band einer Lindau-Trilogie »Berliner Romane«, dem bis 1888 »Arme Mädchen« und »Spitzen« folgen.
     Lindau wiederum ist Gründer und Redakteur der Wochenschrift »Die Gegenwart« und der Monatsschrift »Nord und Süd«. Als er 1881 »Die Gegenwart« aufgibt, ist der Schriftsteller und Journalist Theophil Zolling (1849–1901) sein Nachfolger als Chefredakteur. Der läßt 1885 den Berliner Gegenwartsroman »Der Klatsch« erscheinen.
     Als 1909 der »Buchverlag fürs Deutsche Haus« in Berlin eine illustrierte Nachauflage dieses Unterhaltungsromans in die von Rudolf Presber (1868–1935) herausgegebene Reihe »Die Bücher des Deutschen Hauses«
aufnimmt, charakterisiert er im Vorwort »Der Berliner Roman« den Gesamtvorgang mit den Worten: »... es vergingen seit der Gründung des neuen Deutschen Reiches kein ganzes Dutzend Jahre, so hatte das neue voraussetzungslose Berlin mit seiner altpreußischen Spießbürgerlichkeit und seinen ganz neupreußischen lockeren Sitten einen richtiggehenden Berliner Roman.
     Und die ihn zuerst schrieben, das waren wirklich die Journalisten.«5)
     Dafür erbringt der Verfasser des Vorworts auch gleich mehrere namentliche Beweise. Neben Paul Lindau nennt er Fritz Mauthner (1849–1923), den Feuilletonredakteur des Mosse-Organs »Berliner Tageblatt« und Herausgeber der Wochenschrift »Deutschland« wie des »Magazins für Literatur«, mit seinem dreiteiligen Romanzyklus »Berlin W«, der von 1886 bis 1890 erschien, und den Chefredakteur der »National-Zeitung«, Friedrich Dernburg (1833–1911), mit seinen Romanen »Der Oberstolze« und »In den Fesseln der Schuld«. Ebenso hätte er auf den Feuilletonredakteur dieses Blattes, Karl Frenzel (1827–1914), oder auf Hermann Heiberg (1840–1910) verweisen können, den Direktor der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung«, des offiziösen Sprachrohrs der preußischen und der Reichsregierung, und dann der »Spenerschen Zeitung« in Berlin. Nicht ungenannt bleibe Julius Rodenberg (1831–1914; BM 5/94), der Herausgeber der wichtigen literarischen Zeitschriften »Der
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Salon« und »Deutsche Rundschau«, der von 1885 bis 1888 seine »Bilder aus dem Berliner Leben« in drei Teilen veröffentlichte.
     Mit Blick auf die belletristische Produktion solcher Presseleute bemerkt der Verfasser des genannten Vorworts: »Nachdem sie sich dieser Aufgabe entledigt hatten, gingen sie meist wieder ihrem kritischen Berufe nach, die neuen Forderungen des Tages zu erfüllen, oder wurden wie Paul Lindau Theaterdirektor ... Ihre Romane sind zum Teil vergessen, zum Teil verdienen sie es aber, als ein treffliches Zeitbild auch dem jüngsten Berlin des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten zu werden.«6) Der heutige Betrachter kann sich diesem Urteil nur anschließen.
     Auf Frenzel und Mauthner machte schon Fontane in seiner Lindau-Rezension aufmerksam. Dort kritisierte er am Beispiel von Lindaus Buch aber auch die künstlerischen Schwächen jener Romane. Ihre Figuren, so schrieb er, »haben nicht Fleisch und Blut«.7) Sie genügten nicht seinem literarischen Anspruch, den er in dem gleichen Text formuliert: Es komme darauf an, »daß wir in den Stunden, die wir einem Buch widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist«.8)
Jenen Widerspruch »zwischen dem erlebten und erdichteten Leben« überwinden wollten in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Vertreter des »jüngsten Deutschland«, die dem Naturalismus zugehörten oder ihm nahestanden. Ihre Großstadtromane sollten »sozialen Realismus« atmen, sollten echte »Milieuromane« sein. Hermann Conradi (1862–1890), Carl Bleibtreu (1859–1928), Conrad Alberti (1862–1918) standen in Berlin für diese Richtung, vor allem aber der ebenfalls in Fontanes Lindau-Rezension genannte Max Kretzer (1854–1941). 1883 beleuchtete dieser in seinem Roman »Die Verkommenen« die schrecklichsten Seiten proletarischen Lebens in der expandierenden Industriestadt. 1888 stellte er in »Meister Timpe« dar, wie ein der Tradition verhafteter Handwerker im Berliner Osten dem Großkapital unterliegt. 1891 behandelte Kretzer in »Der Millionenbauer« am Beispiel eines Schöneberger Landwirts die Auseinandersetzungen zwischen Adel und Großbauern.
     Von diesen Berliner »Gesellschaftsromanen« gingen unterschiedliche literarische Traditionslinien ab, die sich in den folgenden Jahren mannigfaltig fortsetzten. Kretzers Vorbild ist bei Clara Viebig (1860–1952) spürbar, die ihren sozialen Roman »Die vor den Toren« (1910) in Tempelhof spielen läßt. Wolfgang Kirchbach (1857–1906) bildet in seinem Roman »Das Leben auf der Walze«
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(1892) das Milieu der wandernden Handwerksgesellen ab. Ganz anderer Art waren die Impulse, die Heinz Tovote (1862–1946) mit seinen erotischen Romanen aufnahm; den ersten übrigens, »Im Liebesrausch« genannt, brachte 1890 Fontanes Sohn Friedrich in seinem Verlag in Berlin heraus, ebenso die folgenden Titel dieses Autors.
     Inwieweit solche Prosa noch »Berlinertum« im Sinne von Theodor Fontane verkörperte, sei zumindest dahingestellt. Eher finden wir es in den erfolgreichen Berliner Romanen von Georg Hermann (1871–1943; BM 12/93) »Jettchen Gebert«, »Henriette Jacoby«, »Kubinke«, »Die Nacht des Dr. Herzfeld« und anderen, die in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg herauskamen und die ebenfalls ohne Fontanes Vorbild kaum denkbar sind. Georg Hermanns gedenken wir in diesem Jahr anläßlich des 55. Jahrestages seiner Ermordung am 19. November im Konzentrationslager Auschwitz.
     Die Romane, die wir nannten, sind samt und sonders Bilder der Zeit, in der sie entstanden. Überdauert haben sie ihre Zeit dann, wenn sie die Wirklichkeit kritisch durchdrungen und mit künstlerisch adäquaten Mitteln gestaltet haben. Viele beschränkten sich darauf, die Realität nur an ihrer Oberfläche zu beobachten und wiederzugeben. Doch gerade dann fehlte ihnen die künstlerische Wahrheit. »Ein echtes ganzes Kunstwerk kann ohne Wahrheit nicht beste
hen«,9) notierte Fontane 1881, als er sich in seinem Tagebuch über Gottfried Kellers (1819–1890; BM 5/92 und 5/95) Novellensammlung »Das Sinngedicht« äußerte.
     An den »Berliner Romanen« seiner und der Folgezeit bestätigte sich, daß Fontane recht hatte, wenn er hier mahnte, vor »Künstelei« habe »man sich in der Kunst zu hüten«.10) Gültig geblieben ist, was er in seiner Tagebuchnotiz feststellte: »Eine exakte, natürlich in ihrer Art auch den Meister verratende Schilderung des wirklichen Lebens, das Auftretenlassen wirklicher Menschen und ihrer Schicksale, scheint mir doch das Höhere zu sein.«11)

Quellen:
1      Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden, Bd. 6, Berlin 1969, S. 524
2      Theodor Fontane: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Hans-Heinrich Reuter. Berlin 1960, S. 108
3      Ebenda, S. 109
4      Theodor Fontane. Wanderungen durch Frankreich. Erlebtes 1870–1871. Berlin 1970, S. 251 f.
5      Theophil Zolling: Der Klatsch. Berlin 1909, S. 8
6      Ebenda, S. 9 f.
7      Theodor Fontane: Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 110
8      Ebenda, S. 109
9      Ebenda, S. 348
10      Ebenda
11      Ebenda

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