52   Berliner Gespräche Radsportlegende Heinz Böhm  Nächste Seite

Für die Gewinner gab es Briketts und Kartoffeln
Das letzte Gespräch mit Heinz Boehm

Am 31. Juli begeht ein Berliner seinen 85.Geburtstag, der die Geschichte des hauptstädtischen Radrennsports wie kaum ein anderer mit«getreten«, mitgemanagt und im wahrsten Sinne des Wortes auch mitgeschrieben hat:Heinz Boehm. Bewährt im Rennsattel und als Sportfunktionär, oft befragt als Chronist mit einer einmaligen Materialsammlung, hoch geehrt mit dem Bundesverdienstkreuz und der Goldenen Ehrennadel des Senats. Wir besuchten ihn im Frühjahr.

     Ihr Lebensweg und der Radsport sind zwei untrennbare Seiten einer Medaille. Sie waren 26 Jahre lang als Berliner Amateur-Rennfahrer im Sattel aktiv und über 40 Jahre als Berliner Radsportfunktionär tätig – wodurch ist die Leidenschaft für den Radsport in Ihnen geweckt worden?
     Heinz Boehm: Ich bin im Sommer 1913, also ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im Berliner Osten in einem Mietshaus in der Frankfurter Allee zur Welt gekommen. An meinen Vater kann ich mich

nicht mehr erinnern, denn er wurde sofort nach Kriegsbeginn eingezogen und galt seit 1914 als vermißt.
     So blieb meiner Mutter die Sorge für meine ältere Schwester und mich. Tatkräftig unterstützt wurde sie aber von meinen Onkeln Max, Fritz und Richard Bauer, und die beiden erstgenannten waren beliebte und erfolgreiche Radrennfahrer. Und so war mein Weg schon vorgezeichnet, denn lebhaft und bewegungsbegabt war ich schon immer, und die Vorbilder gab es unmittelbar in der Verwandtschaft.
     Leider war mein Onkel Max bei einem Rennen im sogenannten »Nudeltopp« am Bahnhof Treptow zu Tode gestürzt, aber mein Onkel Fritz nahm mich nicht nur in puncto Lebensführung, sondern auch im Radsport unter seine Fittiche.

Wann und wo begann Ihre aktive Radsport-Laufbahn?
     Heinz Boehm: Während der Schulzeit in Charlottenburg, wohin wir verzogen waren. Genaugenommen begann meine sportliche Laufbahn nicht auf dem Sattel, sondern auf dem Fußballfeld und im Eisstadion. Aber dann packte mich das Radsportfieber, und davon kam ich nie wieder los. Um den Steinplatz und ums Karree Kantstraße, Uhlandstraße hatte ich allerdings schon als Fünfjähriger mit Schulkameraden meine Runden gedreht, und da der Kraftverkehr damals noch recht spärlich war, hat uns auch niemand daran gehindert.

SeitenanfangNächste Seite


   53   Berliner Gespräche Radsportlegende Heinz Böhm  Vorige SeiteNächste Seite

Heinz Boehm (links) im Gespräch mit Sportfreunden, u. a. Täve Schur (2. v. rechts)

     Wie ging es nach der Schulzeit weiter?
     Heinz Boehm: Ich fand eine Anstellung in einem Sportartikelgeschäft und hatte damit gleich in dreierlei Hinsicht Glück: Erstens saß ich nicht auf der Straße, wie es ja auch heute wieder vielen Jugendlichen nach der Schule geht. Zweitens hatte meine Arbeit mit Sport zu tun, wenn auch nicht speziell mit dem Radsport, und drittens hatte ich einen sportbegeisterten Chef. Der erlaubte mir, die Arbeitszeit so zu legen, daß ich zweimal wöchentlich nach 17 Uhr
ein mehrstündiges Training durchführen konnte.
     Von 1928 an haben Sie sich Rennen um Rennen an die Berliner und an die deutsche Spitze herangefahren.
     Heinz Boehm: 1931 wurde ich im Grunewaldstadion, dem Vorgänger des Olympiastadions, Berliner Meister auf der Bahn, und 1932 holten wir in Nürnberg den Titel des deutschen Vizemeisters im Sechser-Vereins-Mannschaftsfahren über 7 500 Meter. Und erfolgreich ging es dann bis 1939 auch wei-
SeitenanfangNächste Seite


   54   Berliner Gespräche Radsportlegende Heinz Böhm  Vorige SeiteNächste Seite
ter: Im steilen »Nudeltopp«, im legendären Sportpalast, in der jetzt auch vom Abbruch bedrohten Deutschlandhalle und auf so ziemlich allen bedeutenden Radrennbahnen in ganz Deutschland und darüber hinaus.
     Da war also Ihre Berufung in den Vorbereitungskursus für die Olympischen Spiele von 1936 die Anerkennung der bisherigen Laufbahn?
     Heinz Boehm: Das schon, aber es kommt ja meistens anders, als man denkt. Die Spiele habe ich zwar miterlebt, aber leider nicht als Aktiver, sondern als Organisationshelfer und Zuschauer.
     Das Jahr 1936 war für mich jedoch in anderer Hinsicht wichtig: Ich wechselte von meinem bisherigen Verein »Germania Charlottenburg« zu »Iduna Schöneberg«, und da bin ich nun Mitglied seit 62 Jahren, war dort zeitweilig auch Geschäftsführer und Schatzmeister.
     Sie sprachen davon, daß es nur bis 1939 erfolgreich weiterging, warum?
     Heinz Boehm: Ich gehörte zu denen, die den Zweiten Weltkrieg vom Anfang bis zum Ende mitmachen mußten, und was das für eine sportliche Laufbahn bedeutet, muß ich ja nicht erklären. Es war immerhin vom Alter und von der Leistungsfähigkeit her mein bester Lebensabschnitt, der mir da verlorenging. Dabei hatte ich im Gegensatz zu manchen langjährigen Mannschaftskameraden oder auch Sportkonkurrenten noch das Glück, den Krieg zu überleben und nach
Hause zurückkehren zu können. Aber was traf ich in Berlin an! Unser Haus ausgebombt, die Wohnung ausgebrannt, und mit dem Mobiliar waren auch alle liebgewordenen Radsportutensilien und Erinnerungen vernichtet.
     Sie wären aber nicht Heinz Boehm gewesen, hätten Sie sich damit abgefunden und nicht einen Neuanfang versucht. Immerhin gingen Sie als der erfolgreichste Amateur-Radrennfahrer der ersten Berliner Nachkriegssaison in die Sportgeschichte ein.
     Heinz Boehm: Das ist richtig, aber bis es soweit war . . . Zunächst ging es darum, wieder zu einer Rennmaschine zu kommen, und das war schon schwer genug. Mit Hilfe der Frau meines ehemaligen Sportkameraden Kohl – die Gebrüder Kohl gehörten ebenso wie die Gebrüder Bauer und die Gebrüder Huschke zu den Berliner Radsportidolen der Vorkriegsjahre – und dank der Unterstützung der Firma Radsport-Sonntag konnte ich diese Hürde schließlich nehmen. Nicht weniger kompliziert war es, das begehrte Gerät vor Diebstahl oder Beschlagnahme zu schützen. Nur mittels eines in russischer und deutscher Sprache ausgestellten Spezialausweises und durch meine Findigkeit gelang mir das.
     Wie ging es denn nun wieder aufwärts im Berliner Radsport?
     Heinz Boehm: Nachdem wieder Radsport betrieben werden durfte – dazu brauchte man immerhin die Zustimmung der Besat-
SeitenanfangNächste Seite


   55   Berliner Gespräche Radsportlegende Heinz Böhm  Vorige SeiteNächste Seite
andere Prämien gewöhnt sind, wahrscheinlich gar nicht vorstellen können. Trotz der widrigen Umstände hatte ich aber wieder einmal Glück: Als Fahrradbote bei der »Berliner Zeitung« und beim »Telegraf« konnte ich zum zweitenmal Broterwerb und Training miteinander verbinden. Und das Ergebnis:Bei den wiederaufgenommenen Meisterschaften der Zeitungsfahrer, der »Meister mit dem Rucksack«, landete ich in der Spitze.
     »Auf ihren Arbeitsmaschinen, mit Belastungen bis zu 40 Kilo, jagten die Zeitungsfahrer durch die von Tausenden umsäumten Straßen . . .«, schrieb der damals noch in Berlin erscheinende »Sozialdemokrat« anerkennend. Hat dieser Erfolg Sie nicht auch ermuntert, wieder kräftig bei den Berliner und deutschen Amateurrennen »mitzumischen«? Die Bezeichnung »erfolgreichster Berliner Amateur-Fahrer der Nachkriegssaison« kommt ja wohl nicht ganz von ungefähr . . .
     Heinz Boehm: Das fiel mir und den anderen natürlich nicht in den Schoß. Fast täglich trafen wir uns bei jedem Wetter Schlag 4 Uhr morgens, um noch vor dem Zeitungsausfahren eine Trainingseinheit abzustrampeln. Und der Erfolg blieb dann auch nicht aus. Ich wurde mehrmals Berliner Meister und nahm mit guten Ergebnissen an dem schon damals von der »Berliner Zeitung« betreuten Kriterium »Rund um Berlin« teil. Außerdem holte ich den Titel auf der Leipziger Rundstrecke, in Brandenburg und in Mühl-

Karikatur aus den 60er Jahren

zungsmächte –, begann es mit Mannschafts-Verfolgungsfahren in Lichtenberg, in Friedrichshain und in Prenzlauer Berg, buchstäblich zwischen Ruinen und Trümmern. Da habe ich natürlich mitgemacht, auch deswegen, weil es für die Erstplazierten Kartoffeln und Briketts zu gewinnen gab. Das werden sich unsere heutigen Radsport-Asse, die ganz
SeitenanfangNächste Seite


   56   Berliner Gespräche Radsportlegende Heinz Böhm  Vorige SeiteAnfang
hausen. 1947 wurde ich 1. Deutscher Meister im Vierer-Mannschaftsfahren auf der berühmten Bahn in Köln, darauf bin ich auch heute noch besonders stolz.
     Gibt es Erlebnisse, die Ihnen besonders im Gedächtnis sind?
     Heinz Boehm: Eins werde ich wohl nie vergessen. Wir nahmen 1947 als Schöneberger Vertretung am Mannschaftsrennen der Amateure im schönen märkischen Buckow teil und wurden geradezu vom Pech verfolgt. Laufend passierte etwas. Ganz kurz vor dem Ziel hatte der vierte Mann einen Reifenschaden. Was tun? Für lange Überlegungen blieb keine Zeit, und für eine Reparatur schon gar nicht. Kurzentschlossen wurde der von seiner Maschine im Stich gelassene Fahrer als Sozius auf ein anderes Rad gehievt, ich nahm das defekte Rad auf die Schulter, und die Mannschaft überfuhr als Drittplazierte den Zielstreifen.
     1954 beendeten Sie Ihre aktive sportliche Laufbahn, blieben aber dem Berliner Radsport bis in die Gegenwart treu – als Straßenfachwart, Wettkampfausschuß-Vorsitzender, Schatzmeister, Geschäftsführer von »Iduna«, als Betreuer von Gastmannschaften. War es für Sie nicht eine besondere Genugtuung, als inzwischen hochbetagter Funktionär miterleben zu können, wie auch im Sport die Mauer fiel?
     Heinz Boehm: Selbst für einen alten Haudegen wie mich war das ein ganz besonders bewegendes Erlebnis. Schließlich hatte ich
1961 sehr konkret miterlebt, wie der Gesamtberliner Sport gespalten wurde. Ausgerechnet an jenem 13. August 1961 sollte das traditionelle Straßenrennen Berlin–Lübben– Berlin stattfinden. Als wir uns in früher Morgenstunde planmäßig und nichtsahnend am Potsdamer Platz einfanden, trafen wir überall auf die Spuren des nächtlichen Mauerbaus. Das Gros der zum Kriterium angetretenen Westberliner Sportler verzichtete daraufhin auf die Teilnahme. Das Rennen fand zwar noch statt, aber der Bruch war vollzogen.
     1992 haben Sie Ihre zahlreichen ehrenamtlichen Funktionen in jüngere Hände übergeben.
     Heinz Boehm: Wenn man nicht mehr so kann, wie man möchte, finden sich dennoch Betätigungsmöglichkeiten, Gespräche mit Nachwuchstalenten, Arbeiten für Ausstellungen zur Berliner Radsportgeschichte.

Das Gespräch führte Wolfgang Helfritsch

*

Heinz Boehm starb am 27.Mai 1998 im Krankenhaus. Dieses Interview steht auch als Würdigung seiner sportlichen Leistungen.

Bildquelle:Archiv Autor

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de