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Herbert Mayer
Gestapoagent oder englischer Spion?

Im Münchener Bürgerbräukeller hielt Hitler am 8.November 1939 wie alljährlich die übliche Rede zum Jahrestag des Putsches von 1923. Dieses Mal jedoch sprach er wesentlich kürzer als in den Jahren zuvor und verließ mit anderen NS-Größen kurz nach 21 Uhr den Saal, um nach Berlin zurückzufahren. Nur wenige Minuten später, um 21.20 Uhr, erschütterte eine Detonation den Saal, die Decke stürzte herab, die Säule hinter Hitlers Redepult war zerstört, das Pult nur noch Schutt. Acht Tote und etwa 60 Verletzte waren die Folge der Explosion. Die Ursache: ein »hochbrisanter Stoff in Verbindung mit einem Zeitzünder«. Eine Sonderkommission (»Zentralkommission Anschlag München«) unter Leitung des Gestapochefs Heydrich begann eine fieberhafte Suche nach dem Attentäter, eine hohe Belohnung wurde ausgesetzt.
     Über die Geschehnisse und seine Hintergründe hielten sich bis in die achtziger Jahre Gerüchte und Halbwahrheiten. Sehr verdienstvoll ist daher eine Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, die noch bis Oktober dieses Jahres zu sehen ist. Wer nachlesen will oder die Ausstellung nicht besuchen kann, der sollte zu dem von der Gedenkstätte herausgegebenen Begleitheft greifen. Die Verfasser sind Peter Steinbach und Johannes Tuchel, die auch die Ausstellung konzipierten. Die Dokumentation trägt den Titel »Ich habe den Krieg verhindern wollen«. Georg Elser und das Attentat vom 8. November 1938. Dieser Darstellung folgend, sollen die Vorgänge im weiteren wiedergegeben werden.
     Georg Johann Elser wurde am 4. Januar 1903 in einem schwäbischen Dorf, in Hermaringen, »unehelich« geboren. Sein Vater, ein Landwirt und Holz-

händler, heiratete Georgs Mutter Maria erst ein Jahr später, als die Familie nach Königsbronn umzog. Dort schloß Georg Elser nach acht Jahren die Volksschule ab und begann 1917 eine Lehre als Eisendreher. Gesundheitlich nicht der Stabilste, mußte er sie 1919 abbrechen und wurde Tischler. Seine Gesellenprüfung legte Elser im Frühjahr 1922 als Bester in der Gewerbeschule Heidenheim ab. Seit 1923 im süddeutschen Raum auf Wanderschaft, kehrte er 1932 nach Königsbronn zurück, um den Eltern zu helfen und eine eigene kleine Schreinerei zu eröffnen. Haupterwerb blieb die Tischlerei, ab 1935 übernahm er zusätzlich Gelegenheitsarbeiten, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern.
     Trotz seiner Mitgliedschaft im Holzarbeiterverband und im Roten Frontkämpferbund (RFB) blieb er auch politisch ein Einzelgänger. Die NSDAP lehnte er prinzipiell, ja radikal ab, ihre Machtübernahme sollte mit allen Mitteln verhindert werden. Elser weigerte sich, mit »Heil Hitler« zu grüßen, nahm auch nicht an Nazi-Kundgebungen oder dem gemeinschaftlichen Empfang der Hitlerreden im Radio teil. Im Herbst 1938 schien ihm klar, daß mit Hitler ein Krieg unvermeidlich war. Er entschloß sich deshalb, die »Führung« zu beseitigen. Da er wußte, daß Hitlers Auftritt im Bürgerbräukeller anläßlich des Putsches von 1923 zum alljährlichen Ritual geworden war, wählte Elser das Lokal als Ort des Attentats.
     Nachdem er 1938 Hitlers Rede einschließlich der gesamten Zeremonie im Münchener Bürgerbräukeller miterlebt hatte, war der Weg für ihn klar. Er verschaffte sich genaue Ortskenntnis. Allerdings mißlang sein Versuch, eine Anstellung im Bürgerbräukeller zu erhalten. Über ein Jahr, seit dem Herbst 1938, bereitete er das Attentat gründlich vor. Das schloß auch Vorkehrungen für eine illegale Flucht an der Grenze bei Konstanz ein. Monatelang arbeitete er an einem Sprengkörper mit mechanischer Zündvorrichtung. Sprengstoff beschaffte er sich in seiner Arbeitsstelle in einem Königsbronner
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Steinbruch. Durch einen Arbeitsunfall bedingt, konnte er sich ab Mai 1939 ganz der Vorbereitung des Attentats widmen. Im August mietete er sich in München ein Zimmer. Von nun an bis November versteckte sich Elser im Bürgerbräukeller nach Schließung des Lokals, insgesamt über 30 Nächte. Er machte sich an jener tragenden Säule zu schaffen, die über Hitlers Rednerpult stand. In der Nacht vom 2. zum 3. November 1939 brachte er den Sprengkörper in die vorbereitete Säule ein und füllte den übrigen Hohlraum ebenfalls mit Sprengstoff sowie Pulver aus. Erst in der Nacht vom 5. zum 6. November gelang es ihm, den Zünder mit seinen beiden Uhrwerken anzubringen und die Uhrwerke auf den Abend des 8. Novembers zu regulieren. In der Nacht vom 7. zum 8. November kontrollierte Georg Elser noch einmal den Mechanismus und stellte die vorgesehene Zeit ein. Er selbst verließ München am 8. November und fuhr nach Konstanz, da er gegen Abend Deutschland verlassen wollte.
     Während die Großfahndung nach dem Attentäter lief, war Elser bereits verhaftet. Bei seinem Vorhaben, die Grenze zur Schweiz zu überschreiten, war er einer Zollstreife wegen verdächtiger Gegenstände aufgefallen. Er hatte eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers, ein Abzeichen des RFB, Aufzeichnungen über die deutsche Aufrüstung und Teile des Zeitzünders bei sich. Er wurde daher bald mit dem Attentat im Bürgerbräukeller in Verbindung gebracht und nach München überstellt. Nach einigen Tagen gestand er unter Folter und Schlägen in den Verhören, die in der Gestapozentrale im Wittelsbacher Palais München – später in Berlin – geführt wurden, die Tat. Seine Behauptung, allein gehandelt zu haben, wurde zunächst nicht geglaubt. Elser mußte genaue Skizzen über Tatort und Sprengkörper anfertigen. Die Protokolle dieser Vernehmungen, die erst in den sechziger Jahren gefunden wurden, sind, wie die Autoren betonen, bis heute die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion des Denkens und Handelns von Elser.
Hitler und die gesamte NS-Propaganda hatten das Attentat sofort zu einer Aktion des britischen Geheimdienstes erklärt; eine Auffassung, die damals und auch später noch von vielen Hitler-Gegnern geteilt wurde. Selbst nach Elsers Geständnis mochte die NS-Propaganda diese Mär nicht aufgeben. Das Attentat wurde nun als Verschwörung zwischen englischem Geheimdienst und deutschen Emigranten dargestellt. Elser wurde zum »Werkzeug« des britischen Geheimdienstes erklärt und in Verbindung mit dem emigrierten Otto Straßer gebracht. Straßer – ein früherer NSDAP-Führer, der in Opposition zu Hitler geraten war und die »Schwarze Front« führte – sollte das Attentat im Auftrag englischer Dienste organisiert haben. In der Öffentlichkeit blieb unklar, wer für das Attentat verantwortlich war. Manche gingen gar davon aus, daß es vom NS-Regime selbst organisiert worden war, um den Mythos von Hitlers Unverletzlichkeit zu beweisen, Elser somit ein Gestapoagent war. Auch in Kreisen des deutschen Widerstands und der Opposition sowie im Ausland fand die Auffassung Verbreitung, daß es sich um eine Aktion der Gestapo handelte. Parallelen zum Reichstagsbrand waren schnell hergestellt, ein Einzeltäter wurde für unwahrscheinlich gehalten. Auch viele Historiker sahen lange Zeit in Elser ein Werkzeug der NS-Führung. Erst der Fund der Verhörprotokolle und die fast gleichzeitige Auswertung aller damals bekannten Quellen zum Anschlag konnten eindeutig Elsers Alleintäterschaft belegen und Unterstellungen, er habe im Auftrag des britischen Geheimdienstes oder der Gestapo selbst gehandelt, widerlegen.
     Nach der Verhaftung Elsers wurden fast alle seine Angehörigen festgenommen und nach Verhören erst einige Wochen später freigelassen, nicht aber ohne vorher ihr Schweigen zu erzwingen. Die Gestapo vernahm auch viele Königsbronner. Elsers Arbeitgeber wurde über ein Jahr in einem Konzentrationslager eingesperrt. Elser, der fünf Jahre Einzelhaft im KZ Sachsenhausen verbüßte, kam um die
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Jahreswende 1944/45 ins KZ Dachau. Auch dort wurde er isoliert im Kommandantenarrest gefangen gehalten. Die Nationalsozialisten hatten ursprünglich geplant, Elser nach dem »Endsieg« durch den sogenannten Volksgerichtshof in einem großen Schauprozeß zu verurteilen. Kurz vor Kriegsende, am 9. April 1945, wurde er – wie die Autoren vermerken – auf Weisung von »höchster Stelle« im KZ Dachau ermordet. Seine Familie erfuhr darüber nichts; erst 1950 wurde Georg Elser offiziell für tot erklärt.
     Mit Recht vermerken Steinbach/Tuchel, daß Elser ein Platz unter den bedeutendsten Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus gebühre. Er wurde in den letzten Kriegstagen erschossen, »weil er als erster dem Ziel, Hitler zu töten, denkbar nahe gekommen ist«.

Lutz Diesbach/Jörg Hensel
Lübars-Bilder-Buch

Augenblicke vormaligen Dorflebens abseits der Stadt Berlin
Haude & Spener, Berlin 1997

Lübars gilt als letztes erhaltenes Dorf Berlins. Wer diesen im nordwestlichen Zipfel der Metropole gelegenen, zum Bezirk Reinickendorf gehörenden Ortsteil aufsucht, kann sich noch an dörflicher Idylle erfreuen. Das gilt insbesondere für den Ortskern Alt-Lübars mit der Dorfkirche inmitten eines kopfsteingepflasterten Dorfangers, mit Bauernhöfen samt Ställen und Scheunen, dem Dorfgasthof, anderen ansehnlichen Häusern. Dörfliche Atmosphäre vermitteln die Äcker an den Hängen des eiszeitlichen Höhenrückens, die Wiesen und Weiden am Tegeler Fließ. Fast 5000 Menschen leben heute in Lübars und den angrenzenden Siedlungen rund um

den Zabel-Krüger-Damm (nach 1933 für Arbeiter und Angestellte der AEG errichtet). Das eigentliche Dorf hat in den 80er Jahren einen Strukturwandel durchgemacht – es wurde zum Reiterdorf mit allen Konsequenzen, die dies mit sich bringt. Indem man im wahrsten Sinne des Wortes aufs Pferd kam, ist es aber letztendlich gelungen, Bauernhöfe und Gehöfte sowie die dörfliche Struktur mit einigen Familienbetrieben bis heute zu erhalten.
     Um Lübars, wie es sich darbietet, und auch seine Bewohner näher kennenzulernen, dafür leistet die vorliegende Publikation einen bemerkenswerten Beitrag. Im August 1997, rechtzeitig zum 750-Jahr-Jubiläum, hat sie vorgelegen. Zwei Lübarser »aus Leidenschaft« haben alte Fotos aus der Dorfgeschichte zusammengetragen und kommentiert, bevor niemand mehr über die abgebildeten Personen und Ereignisse hinreichend Auskunft geben kann. Die Texte zu den Bildern sind ausgewogen, mitunter nicht viel länger als Bildunterschriften, bieten sie doch mehr als diese, mal sind sie historisch, mal anekdotenhaft, nicht selten beides. Hensel, in Lübars geboren, ist kritischer Chronist, der das Ortsgeschehen aktiv mitgestaltet hat, so durch die Gründung des weithin bekannten Kultur& Naturvereins mit seinem »Labsaal«, der heute im alten Dorfkrug residiert, also ideale Räume hat. Diesbach, Sproß einer Weinheimer Verlegerfamilie und gelernter Schriftsetzer, ließ sich 1980 in Lübars nieder. Beide haben im Team ein populär gemachtes »Bilder-Buch« über einstmaliges ländliches Leben und Familiengeschichten über einen langen Zeitraum hinweg erstellt – Erinnerung natürlich für die einheimischen Dorfbewohner, aber auch hochinteressant für Städter.
     Konsequent wird beim Thema »Augenblicke vormaligen Dorflebens abseits der Stadt Berlin« geblieben. Nicht ein einziges Motiv weist auf das Reiterdorf hin, nicht einmal im Bildhintergrund erscheint das in den 60er Jahren aus dem Boden gestampfte, an das Dorf heranrückende Märkische Viertel.
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Von Sachkunde und Detailkenntnis zeugt das gewählte Gliederungsprinzip. Mit »Annäherung« ist der erste Abschnitt überschrieben: lokale »Ortsbestimmung« inklusive eines Mindestmaßes an geschichtlichem Hintergrund. In Bild und Text erscheinen dabei neben ältesten Ansichten vom Dorf, von der Dorfaue vor allem alte Wege – Spandauer Weg durchs Nachbardorf Dalldorf, seit langem Wittenau; Rosenthaler Weg über den Lübarser Mühlenberg; Schildower Weg; Hermsdorfer Weg am Fuße des Vierrutenberges, heute Beneckendorffstraße; Weg durch das Waldgebiet »Lübarser Heide«, die sich einst weit nach Tegel hin erstreckte und wo später auch der Ort Waidmannslust entstand.
     Auf Bild 1 (insgesamt 181 Abbildungen) ist August Zabel-Krüger (mit zwei Personen) zu sehen – dazu gekonnter Text: Er »wollte Zukunft statt Vergangenheit und sagte 1894: >Lehnschulze? Mit mir nicht mehr!< Und stieg dann und wann auf den Ortsrücken südlich des Dorfes. Da konnte er nach allen Seiten über den alltäglichen Horizont schauen.
Vorne Stadt, hinten Wald, rechts und links desgleichen. Und in der Mitte am flachen Fließtalhang sein Dorf Lübars, Kreis Niederbarnim, endlich von aller Fron befreit, zwar immer noch dem Amt Bernau unterstellt, aber im neuen Jahrhundert vielleicht schon bald ein Stadtteil von Berlin. Die Herren links schienen wild entschlossen.« Diesem Einstieg folgen die Abschnitte »Gehöfte am Anger«, »Handel und Wandel«, »Stadtrand-Figuren«, »Arbeit im Takt der Natur«, »Gute Partie«, »Neuland für Stadtflüchter«, »Ein Tonstich geht baden«, »Brandaktuell: Mobilität«, »Wenn alles getan ist«, »Ein Volk, ein Reich, ein Fiasko«, »Leben lernen«. Eines der letzten Fotos zeigt badende Kinder, begleitet von dem Text: »Es gab eine Zeit, und die ist noch kein Menschenalter her, da konnte die Dorfjugend noch unbesorgt und deshalb ungestüm ins Fließ springen. Vorbei. Für immer?«
     Ein solches »Bilder-Buch« konnte nur realisiert werden, weil Lübarser bereit waren, ihre privaten
Fotoalben (und eine wertvolle Postkartensammlung) zu öffnen. Bei einigen erläuternden Texten wünschte man sich genauere zeitliche Angaben, auch wenn dem sicher Grenzen gesetzt waren. »Neuland für Stadtflüchter« als Kapitelüberschrift ist mißverständlich, denn gemeint sind nicht so sehr Erholung suchende Berliner, sondern Leute, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg der Not gehorchend in Lübarser Siedlungen ein neues Zuhause gefunden haben. Genug der Krittelei. Wie gelungen ist beispielsweise der Abschnitt »Ein Tonstich geht baden« mit Bildern von der Ziegelei (1924 stillgelegt; sogar die Terrakotten für das »Rote Rathaus« waren einst von hier gekommen), von der stellenweise mitsamt Anlagen abgesoffenen Tongrube (»Schienen und Loren können nicht schwimmen. Aber Menschen. Bald kamen sie im Sommer her zum Baden«; später ist hier einer der schönsten Badeseen in und um Berlin entstanden). Es ist ein Vorzug dieses »Bilder-Buches« gegenüber manch anderer Publikation gleicher Art, weder in schönfärberische Nostalgie zu verfallen, noch ein düsteres Bild steten Jammers und grauer Trostlosigkeit zu malen. Die Originalität der Bildaussage hatte im Arbeitsprozeß Vorrang vor der Wiedergabequalität der ausgewählten Fotos. Keine Scheu gab es, auch »gestellte« Aufnahmen, wie sie sich nun einmal in privaten Fotoalben finden, zu verwenden. Manche Bilder muten, dem familiären bzw. dörflichen Anlaß gemäß, regelrecht feierlich an. Diesbach/Hensel bedienen keine Klischees. Ihnen ist gelungen, was sie von vornherein beabsichtigt haben: einen Anstoß zu geben zum »Gespräch über Bilder und Geschichte(n)«, Lust auf neue Entdeckerfreude zu machen und zum Hinterfragen oberflächlicher Ansichten anzuregen.
     Hans Aschenbrenner
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© Edition Luisenstadt, 1998
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